Wahrscheinlich muss man wirklich jung gewesen sein in dieser Zeit. Wer sonst sollte so รผber die 1990er Jahre in Leipzig berichten? รber diese Jahre, die die Erwachsenen als Zusammenbruch aller Konstanten in ihrem bisherigen Leben erlebten. Nicht ahnend, wie diese Jahre nachwirken werden. Spรคter. Also heute. โUnd doch hatte ich das Gefรผhl, etwas wรคre verloren gegangen. Etwas Wichtigesโ, lรคsst Johannes Herwig seinen Helden Nino denken. Kurz vor Schluss, bevor er mit einem kleinen Funken Hoffnung endet.
Johannes Herwig, 1979 in Connewitz geboren, hat diese Zeit selbst miterlebt, war selber Punk, hat spรคter Soziologie und Psychologie studiert. Das merkt man auch. Vielleicht gehรถrt es auch zusammen. So etwas studiert man, wenn man ein Gefรผhl dafรผr entwickelt hat, wie Menschen leiden unter den sich verรคndernden Bedingungen.
Wer das nicht wissen will, liest lieber Schรถne-heile-Welt-Bรผcher. Und wenn wir ehrlich sind: Die meisten wollen es nicht wissen. Verdrรคngen es regelrecht. Und wundern sich nicht mal, wenn dann 20 Jahre spรคter die ganze Frustration รผberkocht, das Unbewรคltigte, Unverdaute. Wie es sich in Zorn und Wut entlรคdt.
Irgendetwas ist damals richtig schiefgelaufen. Das Zitat oben geht weiter: โEin bisschen so, als hรคtte ein Fremder einen Schalter umgelegt und verkรผndet, dass das Leben von heute auf morgen anders zu laufen habe. Am blรถdesten war der Gedanke, dass ich zu jung war. Zu jung, zu entscheiden, ob das Ganze an mir selbst lag, an meiner Mutter, meinem Vater, irgendetwas anderem oder allem zusammen.โ
Nino ist 15, bald 16. Seine Vater betreibt eine Schusterwerkstatt, aber die Kunden bleiben weg, weil neue Schuhe billiger sind als die Reparatur der alten. Seine Mutter lebt im Westen, hat im Sommer 1989 den Weg รผber Ungarn genommen. Doch der Vater redet nicht รผber diese Trennung. Er redet eigentlich รผberhaupt nicht รผber seine Sorgen und Gefรผhle. So, wie es wohl fast alle Mรคnner im Osten taten. Ein psychologischer Aspekt, der in all den meist aus westdeutscher Perspektive gestarteten Debatten รผber den Osten รผberhaupt nicht vorkommt: die Sprachlosigkeit der Befreiten, die mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wussten.
Die aber schon vorher sprachlos waren. Worรผber ja Hans-Joachim Maaz 1990 in seinem Buch โDer Gefรผhlsstau. Ein Psychogramm der DDRโ schrieb. Ein damals sensationelles Buch. Und trotzdem scheinen es weder die Rezensenten noch die westdeutschen Seelendeuter bis heute begriffen zu haben. Denn was passiert mit Menschen, die erst jahrzehntelang ihre Gefรผhle unterdrรผcken (mรผssen), dem stillen Anpassungsdruck mit Schweigen begegneten, und nun selbst nach dem Ende dieser in Sprachlosigkeit vermauerten Gesellschaft nicht sprechen kรถnnen.
Oder das Gefรผhl haben, es nicht zu dรผrfen. Weil: nicht wichtig. Man habe ja dankbar zu sein, dass man so segensreich โbefreitโ wurde und auch noch mit der harten D-Mark beschenkt. Wรคre da 1990 nicht eigentlich ein groรer Aufschrei dran gewesen? Ein deutsch-deutsches Sprechenlernen รผber Verletzungen, รngste und Hoffnungen?
Wer das in den damaligen Medien sucht, findet es nicht. Das alte Sprech-Tabu wurde durch ein neues ersetzt. Wer nicht sofort wieder Tritt fasste und sich mit Ellenbogen einen Platz an der Sonne erarbeitete, musste mit Scham und Hohn leben. Und einer Zukunft, die keine Lรถsung anbot. Doch nicht die Sieger waren die Norm, sondern die Scheiternden, die Frustrierten und die, die das alles nicht mehr aushielten und doch lieber in den Westen gingen.
Das ist die Elterngeneration, von der Herwig berichtet, gar nicht mal beilรคufig, denn diesen Erwachsenen begegnet Nino ja zwangslรคufig โ der desillusionierten Lehrerin, die lieber ein Angebot im Westen annimmt, den Eltern seines Freundes Max, die Angst haben, dass ihr Sohn seine Karrierechancen vermasselt, den Polizisten, die noch immer so ticken wie die Staatswรคchter der alten Zeit, dem neuen Lehrer aus dem Westen, den nur die schuldbeladene Vergangenheit des Ostens interessiert โฆ
Derweil prรผgeln sich, von der Polizei unbehelligt, die Neonazis durch die Stadt. Solche gewalttรคtigen รberfรคlle, wie sie Herwig schildert, gab es tatsรคchlich. Vieles von dem, was heute Sachsens Politik beutelt, schwelt seitdem. Und wer als Jugendlicher irgendwie heil durch diese Zeit kommen wollte, hatte einen Berg von Problemen. Wer es sich einfach machen wollte, schor sich den Schรคdel und zog Springerstiefel an โ und erschreckte damit seine Ausbilder und die Umwelt zu Tode.
Andere passten sich an, wurden zu Strebern, die schnellstmรถglich so werden wollten wie ihre geschรคftstรผchtigen Vorbilder aus dem Westen, all die Manager, Kaufleute und Anwรคlte, die den Osten รผberfluteten und gute Geschรคfte machten. Aber wo blieben die, die sich selbst nicht verraten wollten? Manche kรผndigten die von ihren Eltern geforderten Karrieren โ so wie Ninos Klassenkameradin Mila, die in ihm etwas entdeckt, was selten ist. Denn auch wenn Nino wie selbstverstรคndlich zum Punk wird und mit den anderen auf der Wiese vor der Thomaskirche abhรคngt und Unmengen von Alkohol in sich hineinschรผttet, ahnt er, dass er es nicht wirklich so meint, wenn er so einen rotzigen Punk-Spruch von sich gibt wie โDie Zukunft kotzt mich anโ.
Auch wenn es jede Menge Grรผnde gibt, es genau so zu sehen. Denn wo schon die Eltern kein Land in Sicht sehen und die Tristesse einer heruntergewirtschafteten Stadt nicht einmal ahnen lรคsst, ob da noch irgendetwas zu retten ist, wo nehmen dann die Nachwachsenden den Halt her, dass sie aus ihrem Leben mehr machen kรถnnen als eine Katastrophe? Erst recht, wenn รผberall das Gefรผhl da ist, dass jeder auf sich allein gestellt ist und es der Gesellschaft an sich vรถllig egal ist, was aus den jungen Menschen wird.
Herwig schafft es sehr genau, diese Stimmung der frรผhen 1990er Jahre einzufangen. Und man ist beim Lesen heilfroh, damals nicht ausgerechnet in diesem Alter gewesen zu sein, in dem Jugendliche normalerweise alles entdecken und ausprobieren โ die Liebe, die Freiheit, die eigenen Krรคfte. Was fรผr ein Gefรผhl entsteht da, wenn man mit all dem nur auf lauter Gleichgรผltigkeit stรถรt?
Eine doppelte Gleichgรผltigkeit durch die alten Opportunisten, die sich รผber Nacht in treue Diener des neuen Staates verwandelt haben, und durch die neuen Heilsbringer aus dem Westen, von denen sich die meisten ja nachweislich bis heute gar nicht wirklich fรผr die Ostdeutschen interessiert haben? Die sich mit den alten ostdeutschen Opportunisten aber immer einig waren, dass โdie Marktwirtschaftโ, knallhart durchgezogen, schon alle Probleme lรถsen wรผrde.
Dass Nino sich von seinen neuen Freunden unterscheidet, wird in der Geschichte immer deutlicher, in der Herwig von Ninos Beinahe-Scheitern in der Schule erzรคhlt, von den rabiaten Begegnungen mit prรผgelnden Nazis und rรผcksichtslosen Polizisten, von seinen Versuchen, den Vater zum Reden zu bringen und seiner Fahrt zur Mutter in den Westen. Denn anders als seine Punk-Freunde ist das Coole-Sprรผche-Klopfen eigentlich nicht so sein Ding, steht er seinem eigenen Tun meist wie ein stiller Beobachter gegenรผber, der nicht recht weiร, ob das alles nun richtig so ist.
Denn bei den Punks fรผhlt er sich akzeptiert und angenommen. Doch augenscheinlich reiรen alle ernsthaften Gesprรคche ab, wenn sie ans Eingemachte gehen. An die inneren Verletzungen. Nur Nino fragt nach. Eigentlich nur aus Neugier und Mitgefรผhl. Und augenscheinlich verรคndert das seine Rolle in der Gruppe. Er muss sich nicht mit Straรenschlachten und Nazi-รberfรคllen profilieren.
Und so beginnt auch seine Beziehung zu Zombie, die eigentlich die ganze Zeit mit einem anderen herumhรคngt. Aber sichtlich lรถst Ninos Bereitschaft zuzuhรถren und verstehen zu wollen etwas aus โ egal, wohin er kommt. Selbst seinem so stillen Vater scheint er damit eine Stรผtze zu sein.
Die Geschichte, die Herwig erzรคhlt, beginnt mit einer beklemmenden Szene auf dem Dach des Uni-Riesen. Und sie endet beinahe dort, in einem Moment, in dem er Zombie all das sagt, was er sich vorher nicht getraut hรคtte. Auch wenn der Moment dann erst einmal in einer rรผden Begegnung mit der Polizei endet.
Und wenn man es ein wenig sacken lรคsst, merkt man, dass diese Geschichte eigentlich nicht nur die Geschichte der 1990er Jahre ist. Denn an der Sprachunfรคhigkeit der รlteren hat sich ja nicht viel geรคndert. Eine von Geld und Wohlstand besessene Gesellschaft ist nicht wirklich befรคhigt, die Sorgen und รngste der Menschen wahrzunehmen und gar zu thematisieren. Irgendwie schwebt รผber allem immer noch der alte Spruch: โHab dich nicht soโ.โ Oder auf amerikanisch: โKeep coolโ. Halte lieber die andere Wange hin, wenn dir einer eine gelangt hat. Wer sich beschwert, ist doch nur ein Jammerlappen.
Deswegen gibt es die alten Rollen von damals alle noch. Auch die Punks, die mit dieser reineweg vom Geld besessenen Gesellschaft nichts zu tun haben wollen โ und die noch immer das beliebteste Feindbild der Polizei und der Opportunisten sind. Denn es ist ja so leicht, sie an ihren Frisuren und Klamotten zu erkennen. Und alle Verachtung รผber sie auszukรผbeln. Wer andere verachtet, muss nicht รผber die Leere in seinem eigenen Leben nachdenken. Und auch nicht รผber dieses Morgen, von dem sich eine Menge Leute nichts mehr erwarten. Lieber stopfen sie sich ihr Leben mit lauter Dingen zu, die irgendwie Wohlstand bedeuten. Man hat sich arriviert, wie es so schรถn heiรt. Auch wenn man dafรผr seine Seele und seine Sehnsรผchte an der Kasse fรผr Kleingeld abgegeben hat.
Eigentlich ahnt man schon, als Nino anfรคngt vehement das Gesprรคch mit den Menschen zu suchen, die ihm wichtig sind, dass er eine Karriere als saufender Punk auf der Parkbank nicht wirklich als seine Zukunft sieht. Dass da mehr sein muss, auch wenn das in diesen bleiernen 1990er Jahren einfach nicht zu greifen ist. Einer Zeit, in der sich die meisten Ostdeutschen, wenn sie nur konnten, wie trunken ins Konsumieren stรผrzten. Nur nicht mit den Verletzungen der Vergangenheit beschรคftigen, nur nicht als Verlierer dastehen. Und wenn man schon merkt, dass man unter diesen Verhรคltnissen scheitert, dann doch lieber den Kummer in der Stille hinunterspรผlen.
So wird das eben keine eigentliche Punk-Geschichte, auch wenn sie sehr greifbar macht, warum junge Menschen damals wie heute in dieser Szene einen Ort finden, an dem sie sich endlich so akzeptiert fรผhlen, wie sie sind. Es ist in gewisser Weise auch die nicht-erzรคhlte Leipziger Nach-โWendeโ-Geschichte, die nie wirklich ganz aufgehรถrt hat. Denn Geschichten, die man nicht zulรคsst und auch nicht als Teil der Gegenwart begreifen mรถchte, wirken trotzdem weiter.
Im Grunde geht es in Herwigs Roman, den sicher auch junge Leser mit aufgeregten Emotionen lesen werden, immer um Sprachlosigkeit. Die kurzen Brocken, mit denen sich Vater und Sohn, aber auch die Punks selbst untereinander verstรคndigen, erzรคhlen Welten, sind so typisch, dass darin die ganze Muffeligkeit der spรคten DDR spรผrbar wird, diese Unfรคhigkeit, von sich selbst zu sprechen und sich dem Gegenรผber zu รถffnen. Und gerade weil diese Fast-nicht-Dialoge so knapp sind, erzรคhlen sie eine Menge รผber die unterdrรผckten Gefรผhle, die ausgebremsten Leben und die eingeรผbte Scheu davor, sich selbst den Nรคchsten durch Offenheit auszuliefern. Und damit verletzlich zu machen.
Herwigs Held hรคlt das eigentlich nicht aus, auch wenn er noch nicht wirklich weiร, wie er das alles รคndern kann. Aber schon dass er im Verlauf der Geschichte immer รถfter lieber auf seinen eigenen Bauch hรถrt und anders reagiert, als erwartet, bringt die Geschichte in Bewegung, schafft kleine, winzige neue Tatsachen, die aber alle dazu fรผhren, dass sich der Punkt verรคndert, an dem Nino eben noch glaubte zu sein.
Womit der Roman auch noch andeutet, wie man eigentlich aus dem Gefรผhlsstau und dem passiven Ausgeliefertsein herauskommt. Dass die ganze Sache nicht heillos ausgeht, ahnt man zumindest, auch wenn das Ende offenbleibt. So wie jedes vernรผnftige Ende. Denn bevor etwas endet, hat lรคngst schon etwas Neues begonnen. Aber das erleben eben nur all jene, die aus der alten Rolle heraustreten. Einfach mal so. Das Leben fรคngt da an, wo die Erwartungen der Verรคngstigten enden.
Johannes Herwig Scherbenhelden, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2020, 16 Euro.
Mit โZwischenlandโ lรคsst Kathrin Wildenberger den intensiven Sommer 1990 wieder erstehen
Mit โZwischenlandโ lรคsst Kathrin Wildenberger den intensiven Sommer 1990 wieder erstehen
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