Sie wissen wirklich nichts mit Ihrer Zeit anzufangen? Wirklich nicht? Dann holen Sie sich dieses Buch. Die Dicke trügt nicht. Es ist ein echter Dauerbrenner. Und das macht nichts. Man kann sich Zeit lassen beim Lesen, Kapitel für Kapitel vornehmen, denn jedes einzelne ist ein Schlüsselloch in einen Abschnitt der großen Weltliteraturgeschichte, deren Besichtigung Chaim Noll natürlich im alten Babylon und in Ägypten beginnt, dort, wo die Schriftkultur unserer Zivilisation begann.
Mal abgesehen von China und Indien. Das darf man zur Einschränkung sagen, auch wenn einige wenige begnadete chinesische Autoren dennoch ihre Erwähnung finden in diesem Mammutwerk, das der deutsch-israelische Journalist und Autor Chaim Noll geschrieben hat. Als Hans Noll 1954 geboren als Sohn von Dieter Noll, dem Mann, der die in der DDR zur Schullektüre gehörenden „Abenteuer des Werner Holt“ geschrieben hat. 1984 verließ Hans Noll die DDR, siedelte später nach Italien und Israel über, wo er in der Wüste Negev eine neue Heimat fand.
Das Wüstenthema lag also quasi vor seiner Haustür.
Und die Wüste Negev ist ja nicht irgendeine Wüste. Keine Wüste spielt im Alten Testament eine größere Rolle als diese Wüste, als Durchzugsraum, Rückzugsraum, Übergangsraum. Aber es geht nicht nur um das Volk Israel in diesem Buch, auch wenn sich viele Kapitel sehr intensiv mit den Büchern Mose und der Rolle der Wüste bei der Staatenbildung Israels beschäftigen. Was kein Zufall ist. Denn die biblischen Bücher sind selbst ein Übergang.
Viele Motive gerade in den Büchern Mose verraten dem Kundigen noch heute ihren Ursprung in den mythischen Erzählungen Ägyptens und des Zweistromlandes, beides genauso wie Judäa von Wüsten begrenzte und geprägte Gebiete. Die frühen Hochkulturen des Nahen Ostens waren von Anfang an geprägt von einem Zwiespalt – hier die in Städten entstehende neue Art der Kultur, draußen vor den Stadtmauern das Wilde, der ungezähmte und oft tatsächlich wüste Raum.
Ein Raum, der Angst machte, aber auch faszinierte. Sich nicht damit zu beschäftigen, ging nicht. Und so füllte sich dieser Raum mit mythischen Gestalten, mit Erwartungen, Bedeutungen und auch Gegenbildern. Denn er stellte das städtische Leben immer auch infrage, wurde zeitweilig regelrecht zum Topos der Freiheit, des unangepassten Lebens. Auch zum Ort der Rebellion, der alles, was Menschen geschaffen haben, infrage stellt.
Heute erst recht. Man merkt es bald, dass Chaim Noll nicht einfach nur ganze Berge von Büchern, die sich mit der Wüste beschäftigen, gelesen hat. Und zwar gründlich und vergleichend, was übrigens zu den zusätzlichen Gewinnen für die Leser/-innen wird, denn viele Motive und Bilder tauchen in den Schriften nachfolgender Autoren wieder auf, werden gespiegelt, zitiert, uminterpretiert. Jedes Zeitalter hat seine Beziehung zur Wüste neu justiert.
Oft zwangsläufig, gerade dann wenn Völker wie die Hebräer und die Araber direkt aus der Wüste kommen. Sie ist ihnen nicht fremd, auch wenn es durchaus unterschiedliche Wüsten sind mit unterschiedlichen Möglichkeiten des Überlebens. So nebenbei erfährt der Leser auch, wie Hebräer und Araber eigentlich erst als Volksgruppe erkennbar wurden, als andere über sie schrieben.
Aber es geht nicht nur um die Wüsten des Nahen Ostens, auch wenn sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die europäische Sicht auf Wüste bestimmten. Nicht nur, weil das Heilige Land über Jahrhunderte das einzig vielfältig rezipierte Pilgerziel der Europäer war, sodass diese Pilgerliteratur auch über Jahrhunderte dominierte und bei genauerem Betrachten einen ungewohnten Reichtum offenbart. Da nimmt Noll seine Leser natürlich mit in Lesewelten, die ganz bestimmt nicht zum üblichen Bestand von Privatbibliotheken gehören.
Aber das ist notwendig, denn so wird auch begreifbar, wie diese Schriften auch das Bild der Europäer von der Fremde bestimmten.Und gleichzeitig ihre Faszination, wenn man nur an all die Bilder von Eremitentum denkt, in dem bis heute auch die lebendige Kritik an den lärmenden Städten und der Gedankenlosigkeit der Menschen in ihrer von pekuniären Werten getriebenen Lebensart steckt.
Nicht nur die alten jüdischen Propheten gingen deshalb in die Wüste, um in Einsamkeit und Stille wieder Kontakt zu Gott aufzunehmen. Oder mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen, ein Topos, der in der modernen europäischen Literatur bis heute immer wieder aufscheint. Zu der Noll natürlich auch kommt in den letzten Kapiteln, die auf frappierende Art sichtbar machen, wie viele Autor/-innen der Moderne die Wüste zum Schauplatz ihrer Bücher gemacht haben – von Gustave Flaubert über Agatha Christie, Albert Camus und Antoine de Exupéry, Franz Werfel und Thomas Mann bis zu Elias Canetti und James Baldwin.
Da merkt man dann erst, wie viele Wüsten-Bücher tatsächlich in der eigenen Bibliothek stehen und wie vertraut einem das Thema ist, auch wenn man sogar noch wichtige Autoren vermisst – etwa Dino Buzzati (der stark von Franz Kafka inspiriert war, den Noll natürlich erwähnt) oder Andrej Platonow.
Tschechow wird behandelt, Aitmatov nur kurz angerissen. Man merkt schon, dass sich da seit dem 19. Jahrhundert gewaltig etwas verändert hat, und zwar nicht nur dadurch, dass Reisen auf einmal für gut betuchte Europäer sogar zur Kulturerfahrung wurde und Forscher keinen Winkel der Erde mehr unbeleuchtet ließen. Hinter diesem pragmatischen Reisen, das in der Welt auch keine heiligen Orte und Legenden mehr suchte, steckte auch ein neuer, pragmatischer Blick auf Wüsten und ihre Bewohner.
Auch wenn selbst das ein verstellter Blick war, einer aus der Warte von Kolonialländern und durchaus auch abschätzig, weil jetzt auf einmal selbst in den Köpfen kluger Reisender das Überhobene steckte, die Verachtung für (scheinbar) rückständige Kulturen und Herrschaftsformen. Eine Sichtweise, von der wir heute nicht wirklich weit entfernt sind.
Aber es ist eigentlich genauso wie bei den über Jahrhunderte dominierenden Tagebüchern der Pilgerfahrten, die deshalb oft verstören, weil die Reisenden nur das beschrieben, von dem ihre Leser erwarteten, dass es auftauchte. Die Wüsten Judäas und Ägyptens wurden durch die Brille der Bibel betrachtet. Man sah lauter heilige Stätten und Heiligengräber, aber nicht die Vielfalt der Landschaft drumherum.
Und so ist es auch mit unserem letztlich kolonial geprägten Blick, der auf die Wüstenvölker noch immer mit der Verachtung der Arrivierten und Überlegenen herabschaut, derer, die vermeintlich alles besser machen und besser können. Und dabei auch nicht sehen, wie ihr eigenes postkoloniales Denken dazu beiträgt, dass die Länder in den Wüsten in Kriegen und Bürgerkriegen zerstört werden.
Und nicht nur so (meist begleitet von gedankenlosem Plündern der Bodenschätze in diesen Ländern) zerstören wir ja die Länder in den ariden und semiariden Gebieten der Erde – nicht nur in Nahost oder Nordafrika, sondern im ganzen Wüstengürtel rings um die Erde. Natürlich weist Noll darauf hin, dass es etwa zu den asiatischen oder amerikanischen Wüsten nicht ansatzweise so viel Literatur gibt wie allein zu den Wüsten des Heiligen Landes.
Aber gerade der Blick auf einige us-amerikanische Autoren macht deutlich, wie blind der (moderne) Mensch für sein eigenes Handeln wird, wenn er so tut, als wäre Wildnis ein leerer Ort, etwas, durch das man einfach im schnittigen Auto durchrast, wo man Städte hinbaut und die unterirdischen Wasservorräte abpumpt.
Was ja nicht nur in den USA so passiert. Überall dort, wo der Mensch in seiner Blindheit allein auf „Wachstum“ setzt, den immerfort steigenden Verbrauch begrenzter Ressourcen, Flächen und gefährdeter Biotope, beginnt die Desertifikation, die Verwandlung fruchtbaren Landes in Steppe, Halbwüste und Wüsten
Da ergänzen sich die Ursachen für die zunehmenden Wanderungsbewegungen aus Afrika und Nahost Richtung Norden. Wüstenwachstum und Verwüstung gehen Hand in Hand.
Was übrigens nicht neu ist. Was Chaim Noll gerade beim Lesen alter Pilger- und Reiseberichte entdeckte: Dass auch die Wüsten Judäas zur Zeit der biblischen Ereignisse keine Wüsten waren, sondern auch die Gebiete Israels (ganz ähnlich denen im Zweistromland) über Jahrtausende von Menschen kultiviert worden waren. Besonders in den Berichten über die Kreuzfahrer wird deutlich, dass sie hier in ein grünes, sorgsam gepflegtes Land kamen.
Rund um Jerusalem fällten sie ganze Wälder und begannen damit wohl die Zerstörung auch der Kulturlandschaft, die sich dann unter den späteren Herrschern wie den Osmanen fortsetzte. Was dann Mark Twain zu seiner deprimierenden Beschreibung des Landes brachte. Aus dem biblischen Topos einer Wüste, aus der Veränderung und Leben kam, wurde ein moderner Topos des von Menschen verwüsteten Landes, der mittlerweile auch Literaturen durchzieht, die fernab der tatsächlichen Wüsten handeln – etwa in T.S. Elliots „The Waste Land“.
Auf einmal wird die trostlose, steinerne und menschliche Nähe verhindernde Metropole zum modernen Bild der Wüste – zur Betonwüste, die für viele sensible Autor/-innen eben auch ein Ort der Kälte und der Kontaktlosigkeit ist. Wer dem entfliehen will, geht wieder in die Wüste, oder versucht es zumindest, denn wirklich noch in der Lage, auch unter den Entbehrungen eines Lebens in der Wüste zu überleben, ist der moderne Großstadtmensch nicht.
Er hat zwar seine Sehnsuchtsbilder von Einsamkeit, Unendlichkeit und Stille im Kopf. Aber die beißen sich meist mit den wirklichen Bedingungen in den Wüstenländern, wo man, wenn man genauer hinschaut, eben nicht die idyllischen Welten aus „Tausendundeiner Nacht“ vorfindet, sondern Lebensgemeinschaften, die ihre uralten Traditionen und Gesetze bewahrt haben, die uns heute so vorzeitlich und fremd vorkommen.
Und sie hören auch nicht auf, fremd zu sein, wenn man mit Chaim Noll erfährt, wie viel Material aus dem Koran tatsächlich aus den biblischen Büchern übernommen wurde, was kein Wunder ist, denn bevor der Islam seinen Siegeszug antrat, waren es jüdische und christliche Gemeinden, die den neuen monotheistischen Glauben in die Städte der Wüste brachten.
Nolls Buch ist also so ganz beiläufig auch eine dicke Geistesgeschichte, die die Wurzeln unseres Denkens offenlegt, das ein Denken voller Widersprüche ist. Von denen der Widerspruch zwischen scheinbar sicherer Stadt und scheinbar mörderischer Wüste einer der prägenden ist. Und einer der gefährlichsten, weil er auch immer ein Denken aus Stadtmauern heraus ist.
Man schaut mit den Vorurteilen des „Siegers“ auf die zunehmend verwüstete Welt, schreibt das aber nicht dem eigenen Handeln zu, sondern igelt sich ein in seinen Vorstellungen vom Wilden, vom Wüstenbewohner, der damit zum Schreckgespenst wird, zum aufgeblasenen Albtraum, so wie die Wüste selbst, die aber scheinbar dann zu uns kommt, wenn wir so tun, als wären immer nur die Wilden an allem Schuld. Sie kommt als die „Einsamkeit der großen Städte“, als Zerstörung auch lebendiger Landschaften bei uns, als Dürre und Verlust von wertvollen Böden.
Am Ende erscheint dieses dicke Buch mit seinen vielen beiläufigen Leseempfehlungen nicht nur als Animation, sich mit den Autor/-innen, die über die Wüste schrieben, eingehender zu beschäftigen, sondern auch als eine letztlich offene Frage: Wie lösen wir den Widerspruch auf zwischen unserer elitären Sicht der bevorzugten Stadtbewohner und dem tatsächlichen Verlust der lebendigen Wildnis, den wir mit unserer blinden Rücksichtslosigkeit anrichten?
Denn eines ist Fakt: Wenn wir nicht lernen, die Verwüstung der Welt zu beenden, kommt die Wüste auch zu uns. Nicht sinnbildlich, sondern real. Und gleichzeitig als Abbild unserer inneren Wüste, der Fühllosigkeit, mit der wir jeden unverstellten Blick vermeiden auf all das, was die direkte Folge unseres Tuns und Unterlassens ist.
Chaim Noll Die Wüste, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, 38 Euro.
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