Die Lyrik ist tot. Es lebe die Lyrik! Kein Mensch liest mehr Gedichte. Kein Mensch versteht mehr, was Dichter schreiben. Lyrik hat es schon nicht einfach in unseren Tagen. Und trotzdem erscheinen โ zumeist in kleineren, mutigen Verlagen โ Gedichtbรคnde, liebevoll aufgemacht, in zumeist kleinen Auflagen. Und trotzdem stellen sich Herausgeber alle paar Jahre die weltbewegende Frage: Was ist denn eigentlich die aktuelle zeitgenรถssische Lyrik? Wie ist der Stand der Dinge. Ja, wo laufen sie denn?
Aron Koban und Annett Groh haben es mit diesem nun bei Reinecke & Voร erschienenen Band ein wenig anders gemacht und nicht einfach eine Sammlung der jรผngeren Autorinnen und Autoren zusammengestellt, von denen sie meinen, das kรถnnten die maรgeblichen Stimmen der Zeit sein. Das ist schier unmรถglich. Das war auch frรผher schon gewagt, auch wenn Herausgeber da keinerlei Respekt kannten, einfach aus ihrer Sicht festzulegen, was zum Kanon gehรถrt und was nicht.
Was als reprรคsentativ zu gelten hat und gรผltig fรผr alle Zeit. Wie subjektiv das ist, wird im Nachwort von Kurt Drawert deutlich, der die Entstehungsgeschichte eines รคhnlichen Sammelbandes vor 20 Jahren (โLagebesprechungโ) beschreibt.
In seinem Text reflektiert er auch รผber die Diskurse innerhalb der lyrischen Szene, diesen erstaunlichen Druck, der augenscheinlich fast alle belastet, die โirgendwas mit Lyrikโ machen โ Literaturwissenschaftler, Literaturdozenten, Kritiker, Herausgeber, Poetologen und die Autor/-innen selbst, die oft auch noch alle anderen Rollen ausfรผllen.
Es gibt kein Literaturgenre, das derart unter Rechtfertigungsdruck steht wie die Lyrik. Bis hinein ins Existenzielle, wenn die Dichterinnen und Dichter nun der vom Nรผtzlichkeitsdenken besessenen (und meist vรถllig unbelesenen) Auรenwelt erklรคren mรผssen (oder zu erklรคren versuchen), warum sie nun ausgerechnet Gedichte schreiben. Schreiben mรผssen.
Wer braucht denn schon Gedichte? Kein Mensch.
Alle Menschen brauchen Gedichte.
Aber Gedichte sind wohlfeil. Man kann sie nicht verkaufen und versteigern wie Gemรคlde. Ein Knopfdruck und sie sind kopiert oder gleich millionenfach verรถffentlicht. Kein Mรคzen hรคlt sich einen Hofdichter. Kein Landesfรผrst kommt wohlgefรคllig nickend in eine Dichterlesung, um sie mit Blitzlichtgewitter zu erรถffnen und hinterher gleich den ganzen Bรผchertisch aufzukaufen. Die Fรถrderbudgets der Bundeslรคnder fรผr Poesie sind eher eine Kaffeekasse als irgendein anstรคndiger Versuch, der Lyrik im eigenen Land eine feste Existenz zu verschaffen.
Auch weil Dichter ja keine Rolle (mehr) spielen im politischen Diskurs. Frรผher mischten sie sich wenigstens noch wortgewaltig ein โ man denke nur an Kรคstner, Jewtuschenko, Enzensberger, Majakowski, selbst Erich Weinert, Brecht โ sie waren politisch, weil das zu ihrem Grundverstรคndnis gehรถrte. Weil sie sich als das mahnende Gewissen der Zeit verstanden.
Davon taucht รผbrigens auch in diesem Band kein Wort auf. Was auch eine Menge aussagt รผber die Verstรถrung der Lyrik in Zeiten, in denen niemand mehr hinhรถrt, in denen auch das Sensorium fรผr die Bilder und Emotionen verloren gegangen ist. Etwas hat sich im Gewebe des gesellschaftlichen Sprechens radikal verรคndert, seit vรถllig entfesselte Medien allen Menschen die Mรถglichkeit geben, die Welt mit ihren รuรerungen zu fรผllen. Ergebnis: ein einziges Tohuwabohu, ein Meer von Leuten, die immerfort sprechen und wรผten und lรคrmen.
Und niemand hรถrt mehr zu.
Lyrik lebt vom Zuhรถren.
Und das Erstaunliche ist: Das ist den meisten (jรผngeren) Dichterinnen und Dichtern รผberhaupt nicht bewusst. Auch wenn einige aus der Spoken-Word-Szene kommen, an Slams teilgenommen haben oder bekannt dafรผr sind, dass sie ihre Texte auch eindrucksvoll vortragen kรถnnen. Und trotzdem schreiben die meisten nicht (mehr) fรผr andere. Und ich meine damit wirklich andere.
Nicht immer nur dieselben schreibenden Kolleginnen und Kollegen, die auch noch die kรผhnsten Experimente goutieren. Oder gar die Theoretiker, die ganze Seiten mit gewichtig klingendem Blabla fรผllen kรถnnen, das wie eine unerhรถrt ausgefeilte Expertise klingt โ und eigentlich die Unverstรคndlichkeit nur noch ins Absurde steigert.
Das wird in diesem Sammelband ziemlich deutlich, in dem 33 jรผngere Dichterinnen und Dichter gewรผrdigt werden. Das โjรผngereโ mit Einschrรคnkungen, denn es sind auch einige รคltere Autor/-innen dabei, die aber selbst nach mehreren eindrucksvollen Verรถffentlichungen immer noch wie eine Neuentdeckung wirken, wie nie angekommen im Kanon. Was eben auch heiรt: Es gibt in ganz Deutschland keine Instanz, die wirklich noch in der Lage wรคre, den รberblick zu behalten und das Vergรคngliche vom Dauerhaften zu trennen.
Das hat auch mit den Irritationen zu tun, die dadurch entstanden, dass der Diskurs รผber Lyrik nur noch in den engen Kreisen der sowieso Involvierten passiert. Sie merken oft gar nicht mehr, wie hermetisch dieser Diskurs in Literaturzeitschriften und Theorien geworden ist. Das wird unรผbersehbar, wenn nicht nur gestandene Dichter/-innen in ihren Wรผrdigungstexten versuchen zu erklรคren, was ihnen am Schreiben der Gewรผrdigten eigentlich wesentlich ist.
Das ganze Buch ist so aufgebaut: Ein Wรผrdigungstext fรผhrt die Leser ein in die Gedichtwelt der Gewรผrdigten. Dann folgen mehrere ausgewรคhlte Texte. Und dann kommt eine Selbsteinschรคtzung der Gewรผrdigten โ mal als Essay, mal als kleines Interview. Das ist durchaus neu. So einen poetologischen Diskurs gab es bei einer solchen Auswahl noch nie.
Und damit auch noch nie so viel Erhellendes zur Sicht aufs Schreiben. Oder zumindest den Versuch, die Sache zu erhellen. Der manchmal auch grรผndlich scheitert. Da sitzt man da, hat eben noch versucht zu begreifen, was der Rezipient da eigentlich in die Texte des Gewรผrdigten hineingeheimnist hat โ und dann sind die Texte klar, lebendig, รผberhaupt nicht so kรผnstlich und konstruiert, wie eben noch behauptet.
Manchmal ist es auch andersherum, liest der Wรผrdigende in den Texten etwas, was beim besten Willen nicht drin zu finden ist.
Was aber eben auch deutlich macht: Es gibt nicht die eine Lesart. Es gibt auch nicht die einhellige Sicht der Schreibenden auf die Zeit und das, was dazu zu sagen wรคre. Es gibt nicht einmal die gemeinsame Motivation, auch wenn die Autor/-innen manchmal mit viel Akribie versuchen zu erklรคren, was sie da tun und warum.
Und warum nicht anders. Wobei: Viele weichen aus. Und sie haben recht. Sie verweigern die Poetologie. Weil sie gar keine brauchen. Denn das ist der Unfug von Kritiker/-innen, die einfach nicht anders kรถnnen, sonst bekommen sie Lyrik einfach nicht eingespannt und eingekastelt. Die Literaturwissenschaft scheint Berge solchen Sperrmรผlls zu verwalten.
Gerade deshalb aber sind die Aussagen einiger der befragen Autor/-innen wichtig und angenehm zu lesen. Weil sie das Eigentliche wieder benennen: Dass niemand nur fรผr sich schreibt (gerade diejenigen nicht, die besonders hartnรคckig behaupten, die Leser wรผrden sie beim Schreiben nicht die Bohne interessieren). Sie denken alle an genau diese Leser. Manche freilich an die falschen โ nรคmlich an Literaturwissenschaftler und Kritiker. Dann wird es natรผrlich sehr abstrakt, selbst das Schreiben.
Das sind dann Texte, die man als Leser nicht wirklich genieรen kann. Texte, von denen man jetzt schon ahnt, dass sie kรผnftig nie wieder jemand zur Hand nehmen wird, nicht mal auf der Suche nach einer Stimmung, dem Ton einer Zeit. Gut mรถglich, dass diese Texte irgendetwas zeigen, was zeittypisch ist. Von der Unsagbarkeit des Rasens und der Fragmentierung des Alltags bis zur Zerfetzung des Sprechens. Mag sein.
Aber es gibt genug Autor/-innen in diesem Band, die gerade dadurch, dass sie deutlich und bildhaft werden, zeigen, dass das eigentliche Dichten dort zu Hause ist, wo das eigentliche Sprechen beginnt. Und da ist es nur ein kleiner, liebenswerter Verschleierungsakt, wenn eine Autorin sagt, sie schriebe nur fรผr sich selbst, wolle auch nur das sagen, was sie sieht und erlebt. Und just da spricht sie eigentlich, berรผhrt ihr Sprechen die Phantasie der Leser/-innen. Denn da erkennen sie sich wieder. Das Unverstellte ist das Authentische. Und daran รคndern alle Moden nichts.
Bleiben werden immer die Stimmen, die wirklich genau zu erfassen versuchen, was so bewegend ist am Dasein als Mensch. Die Uneitlen, die keinen Feuilletonisten beeindrucken wollen und auch nicht ausstellen wollen, wie viel experimentelle Lyrik sie schon verdaut haben. Die, die sich einfach bemรผht haben, ihren ureigenen Ton zu finden.
Und die wortwรถrtliche Genauigkeit, die einen Text so eindeutig und kompakt macht, dass das Anliegen auch beim Leser ankommt โ und zwar nicht nur dem zeitgenรถssischen (was fรผr ein bescheuertes Wort: Zeitgenossenschaft!), sondern auch dem spรคteren und noch viel spรคteren. Menschen, fรผr die unser Jetzt eine lรคngst vergangene Welt ist und die dennoch in guten Gedichten das wiederfinden, was auch sie noch berรผhrt und aufwรผhlt.
Oder, um mal den Leipziger Dichter Carl-Christian Elze zu zitieren: โNun hat man hoffentlich ohne bewussten Zweck, also ekstatisch, mit Worten gespielt, ein Gedicht gemacht, hat mit mรถglichst allen seinen zur Verfรผgung stehenden menschlichen Krรคften gewirbelt, also mit Vernunft, Gefรผhl, Einbildungskraft, Erinnerung, Erwartung, aber auch Risikobereitschaft, Ehrlichkeit und Selbstkritik, und vertraut plรถtzlich darauf, dass sich alles das, was am Ende dasteht, auch einem anderen Menschen erschlieรt, um sich, nun ja, in diese Welt verbundener zu fรผhlen.โ
Denn gute Gedichte zwingen zur Aufmerksamkeit, bringen etwas auf den Punkt, in ein Bild, das mit dem รผblichen Tagesgeplapper nicht zu fassen und auch nicht zu sehen ist. Dichter/-innen schaffen eine unerhรถrte Aufmerksamkeit auf das, was wesentlich ist. Die besten tun es mit einer Sprache, die so genau ist, dass die Leser stolpern und stutzen mรผssen, weil durch derart dichtes Sprechen der doppelte Boden, das Unfassbare in unserer Welt erst be-greifbar wird, aufscheint und einen erwischt wie ein Faustschlag, ein Staunen, ein Weinen oder ein Erschrecken. Deshalb heiรen Gedichte ja so โ weil sie das Poetische in unserem Weltdenken sagbar und sichtbar machen.
Gut: Es gibt auch einige wortreich gewรผrdigte Autoren, bei denen davon nichts zu spรผren ist. Der Band ist nicht konsistent. Schรถn wรคre es. Aber das wรคre schon ein Werten und Sortieren. Vielleicht finden es ja andere spannend und aufregend. Vielleicht hat jeder Mensch ein anderes Sensorium fรผr Poesie. Kann sein. Ist wohl auch so.
Aber es begegnen dem Leser doch einige Namen, die gerade den Leipzigern sehr vertraut sind, weil sie hier leben und schreiben oder hier verรถffentlichen. Leipzig ist wohl doch irgendwie immer noch ein wichtiger Ort fรผr Poesie (auch wenn man das im Rathaus vรถllig anders sieht). Und so trifft man auch die vertrauten Stimmen von Thomas Bรถhme, Lydia Daher, Carl-Christian Elze, Kerstin Preiwuร, Marlen Pelny โฆ
Und als Interviewer/-innen auch Ulrike Almut Sandig, Jan Kuhlbrodt, Jayne-Ann Igel und Kathrin Schmidt. Und es รผberrascht auch nicht, dass diejenigen, denen sehr bewusst ist, dass sie ganz und gar nicht nur fรผr sich schreiben, auch das grรถรte Sensorium haben fรผr das Sagen und Schreiben der von ihnen Vorgestellten.
Und sie orakeln auch nicht so viel รผber Moden und Zeitgeister, weil sie wissen, dass gute Gedichte zeitlos sind und zeitlos verstรคndlich sein mรผssen. Wie es die Dichter/-innen anstellen, dass es so wird, das ist ihre Sache, ihr Talent, ihr Kรถnnen. Und manche sind einfach unvergleichlich. Da merkt man schon, dass ihre Texte auch noch viel spรคter die Leser/-innen finden werden und diesen herrliche Effekt erzeugen, den nur wirklich gute Gedichte hinbekommen: Ich habโs geahnt โ aber ich hรคtte es so treffend niemals in Worte fassen kรถnnen.
Und man fรผhlt sich im Moment zutiefst getroffen und ganz genau verstanden, auch wenn die Dichter/-innen nur รผber das schrieben, was ihnen selbst passiert ist. Aber das ist genau der Stoff, der Gedichte wesentlich und mitreiรend lebendig macht.
Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.) Denkzettelareale, Reinecke & Voร, Leipzig 2019, 24 Euro.
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