Wohin nur am Wochenende? Das fragen sich ja viele Leute, die dann aus lauter Verzweiflung wieder am Cossi landen. Oder in der City Schlange stehen für ein Eis. Dabei ist Sachsen voller Reiseziele, für die sich auch ein kurzer Entschluss lohnt. Zug raussuchen, Rucksack packen und einfach mal nach Pirna fahren. Das wäre so ein Zielvorschlag, wenn einem Delitzsch, Torgau und Grimma schon zu nahe sind.
Sogar das Tom-Pauls-Theater öffnet ja wieder am heutigen Freitag, 5. Juni. Unter Corona-Auflagen. Anders geht es nicht, wie das Kulturministerium meldete: „So wurde etwa die Hälfte der Stühle aus dem Saal entfernt und es wird vorerst jede Veranstaltung zweimal am Abend gespielt, um alle Kartenbesitzer berücksichtigen zu können. Mund-Nasen-Schutz ist im ganzen Haus Pflicht, bis der Platz eingenommen ist. Die Vorstellungen finden ohne Pause statt, Ausschank kann es leider keinen geben.“
Aber man muss ja nicht in die jüngste Ilse-Bähnert-Vorstellung gehen (was Tom-Pauls-Verehrer nicht abhalten wird, es trotzdem zu tun). Denn im Haus gibt es ja auch noch Ilses Kaffeestube. Da bekommt man sein Scheelchen Heeßen, wenn einem nach langem Herumwandern in der kleinen Stadt an der Elbe mal zum Verschnaufen ist. Und sie animiert zum Herumwandern, weil sich die Pirnaer gleich 1990 zusammengetan haben, um den drohenden Verlust ihrer alten Stadt zu verhindern.
Denn in DDR-Zeiten waren viele wertvolle Gebäude der 800 Jahre alten Stadt so vernachlässigt worden, dass ihr Totalverlust drohte. So auch beim Peter-Ulrich-Haus, bei dem sich der Kuratorium Altstadt e. V. und Tom Pauls geradezu befehdeten, wer das seit Jahren leerstehende Haus des einstigen Landesbaumeisters Peter Ulrich erwerben und wieder aufbauen durfte. Am Ende setzte sich Tom Pauls durch und brachte nicht nur sein kleines Theater darin unter, sondern ließ das 500 Jahre alte Haus auch noch mustergültig restaurieren, sodass man auch im Inneren die Schönheit der Renaissance bewundern kann.
Und von solchen Häusern gibt es einige an der Strecke, die Uwe Winkler und Kristina Kogel in diesem Stadtrundgang zusammengestellt haben, natürlich wieder fein nummeriert und erläutert. Zu jeder der 29 Stationen gibt es einen profunden Text zu Architektur und Geschichte. Nr. 30 liegt dann schon 5 Kilometer außerhalb der Stadt: Es sind die Richard-Wagner-Stätten in Graupa, wo man der Entstehungsgeschichte des Lohengrin so nahe kommen kann wie nirgendwo sonst.
Aber dazu nutzt man vielleicht besser einen weiteren Tag, denn Pirna selbst hat mehr als genug zu bieten für Wanderer, die das Malerische lieben. Angefangen natürlich mit dem berühmten Canaletto-Blick. Den hat nämlich nicht nur Dresden. Der starke August beorderte seinen Lieblingslandschaftsmaler nämlich auch nach Pirna, damit er das Städtchen in möglichst vielen Perspektiven für die Ewigkeit festhalte.
Darunter ist der berühmte Blick auf den Marktplatz mit dem Canaletto-Haus, das natürlich mit dem Maler nicht das geringste zu tun hat, außer dass das Haus mit seinem eindrucksvollen Giebel das 260 Jahre alte Bild genauso dominiert, wie es das heute noch auf dem Marktplatz zu Pirna tut.
So manches Haus von Canalettos Bildern wurde gerade deshalb gerettet (oder auch wieder aufgebaut), weil es untrennbar mit diesen Stadtansichten verbunden ist. Und weil es natürlich Pirna mit seiner sehr geschlossenen Altstadt einmalig macht. Es lohnt sich, den Erzählungen zu Gebäuden wie dem Wolf-Blechschmidt-Haus oder dem Tetzelhaus zu lauschen bzw. die Texte dazu zu lesen, während man sich das Haus anschaut und die einstigen Bewohner lebendig werden.
Tetzel kennt ja jeder. Hier wurde er geboren und wuchs auf, bevor er nach Leipzig ging, um Theologie zu studieren und dann zum berühmtesten Ablasshändler der Zeit zu werden. Eigentlich ein ziemlich armer Tropf, wenn man es bedenkt: Wie leichtfertig er sich zum Seelenhändler hat machen lassen, weil er meinte, man könne sich mit Geld von seinen Sünden freikaufen. Das klingt zwar wie moderner Kapitalismus, brachte aber gerade deshalb Martin Luther auf die Palme und die Reformation ins Rollen, die augenscheinlich ihr Ziel auch heute nicht erreicht hat.
Oder warum glauben immer noch so viele Menschen, sie könnten straflos immer weitermachen mit ihrem weltzerstörerischen Leben – und ihr Gewissen mit Ablassspenden freikaufen?
Ein kleiner Seitengedanke nur, der so fern nicht liegt, wenn man durch die Schmiedestraße läuft und so ein wenig ahnt, wie die Pirnaer Bürger damals hier lebten. Etwa mit nur einem beheizbaren Raum im ganzen Haus – der Bohlenstube. Wie so etwas aussieht, kann man im Tetzelhaus besichtigen. Vorher freilich meldet man sich dafür in der Tourist-Information an. Die sitzt im Canaletto-Haus. Ist ja alles nicht so weit hier in Pirna. Das Wichtigste befindet sich alles im einstigen Mauerring, von dem aber nur noch wenige Reste zu sehen sind.
Hinter der Dohnaischen Straße zum Beispiel, über die man zu solchen Kleinoden spaziert wie der Stadtbibliothek in ihrem liebevoll restaurierten Doppelhaus aus dem Spätmittelalter oder dem Kommandantenhaus, bevor man den ganzen Marktplatz rundum bewundert, all das, was auch Canaletto sah. Bevor man in die malerische Schifftorvorstadt wandert, die an die Elbschiffertradition des Städtchens erinnert. Und dann geht es hinauf auf den Sonnenstein, das alte kurfürstliche Schloss, das sein dunkelstes Kapitel, die Vernichtungsstätte Pirna-Sonnenstein, nicht verbirgt.
Die Dissonanz könnte nicht größer sein, wenn man hinabschaut auf die liebevoll sanierte Stadt, in die die Pirnaer immer wieder so viel Geld und Geduld investiert haben. Zuletzt ja nach den beiden „Jahrhunderthochwassern“ von 2002 und 2013. Selbst in der Klosterkirche St. Heinrich sind die Hochwassermarken zu sehen. Die Pirnaer leben mit den Hochwassern. Und lassen sich dennoch nicht entmutigen. Denn der Ort ist eigentlich auch zu schön, um wegzuziehen. Das Elbsandsteingebirge beginnt gleich hinter der Stadt.
Und der Malerweg führt von hier hinein in diese Landschaft, die mit den Malern der Schinkelzeit erst so richtig berühmt wurde. Man kann diesen Stadtrundgang also auch zum Auftakt machen für ein paar gemütlichere Tage auf Wanderwegen, Aussichtspunkten und in Freisitzen, die dazu einladen, auch mal den eingebauten Großstädterstress zu minimieren. Vielleicht ist es ja das, was die Menschen heute so rebellisch macht: Ihre Unfähigkeit, mal drei Gänge runterzuschalten und den Antreiber im Kopf für ein Weilchen zu vergessen.
Was nicht leicht ist. Denn fürs Peitschenknallen sorgen ja andere Leute, denen das langsame Fließen einer kleinen Elbestadt schlicht inakzeptabel erscheint. All die Tetzels von heute, die meinen, mit noch mehr Geld könne man sich alles kaufen. Vielleicht sogar ein gutes Gewissen.
Aber das stimmte schon vor 500 Jahren nicht.
Uwe Winkler Pirna an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 6 Euro.
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