Sprache verändert unsere Sicht auf die Dinge, auch auf „romantische“ Städte und „romantische“ Burgen. Wer nach Videoclips über Heidelberg und sein Schloss sucht, wird von lauter „Romantik“ geradezu erschlagen. Daran ist nicht nur der „extremly popular writer of song lyrics“ Joseph Victor von Scheffel schuld mit seinem Lied „Alt-Heidelberg du feine, Du Stadt an Ehren reich ...“. Mit Romantik hat das übrigens nichts zu tun, nicht mal mit der deutschen.
Die unterscheidet sich gewaltig von jener Literaturepoche, die in anderen Ländern als Romantik bezeichnet wird – oder besser: Romanticism. Von Scheffel stammt all der frohsinnige Plunder vom „Trompeter von Säckingen“ über „Biedermanns Abendgemütlichkeit“ bis zur „Waldeinsamkeit“.
Und eben auch der Alt-Heidelberg-Honig, den die Marketingleute heute in jedes Filmchen über Heidelberg mixen. Eigentlich der beste Grund, diese Stadt am Neckar zu meiden. All diese professorale Niedlichkeits-Lyrik, die im Deutschland der Wilhelminischen Ära den Schulkindern als Poesie angedreht wurde. Die Übersetzungen Scheffels ins Englische sagen eigentlich alles: Es gibt nur wenige. Der Mann hat außerhalb des damaligen Deutschland mit seinem inszenierten Mittelalter-Kitsch keinen Ruf.
Oder – um das etwas einzuschränken – einen eher zwiespältigen. Immerhin brachte er den Topos Biedermeier in die Welt und manche seiner Texte lesen sich direkt als Satire, wobei man nicht wirklich weiß, ob er das wirklich als Überspitzung gemeint hat oder in „heiligstem Ernst“.
Und eine Stadt namens Alt-Heidelberg gibt es genauso wenig wie das verkitschte Alt-Leipzig, das seinerzeit ebenso behimmelt und bejauchzt wurde, als die Leipziger emsig darangingen, die alten bruchfälligen Buden abzureißen um was Neues hinzubauen.
Im Englischen ist übrigens dieser süßliche deutsche Lyrikkitsch schlicht nicht sagbar. Auch wenn sich Jutta Rosen-Schinz bemüht, auch Alt-Heidelberg ins Englische zu übersetzen: „Old Heidelberg, you fine one, you city rich in honours …“
Sie merken schon: Es geht nicht. Mal abgesehen davon, dass das die krümmste aller lyrischen Haltungen ist: Eine Stadt zu personifizieren und anzusingen, als wär’s (vorsicht, deutscher Lyrik-Kitsch!) eine holde Geliebte. Kein Zeitalter hat die deutschen Maßstäbe für Literatur derart verdreht wie das vom Kitsch geradezu besessene Zeitalter der Kaiser Wilhelms.
Aber was kann man machen, wenn man ohne Zuckerschock und Kitschvergiftung einmal Heidelberg besuchen möchte?
Den Unterschied merkt man ja schon, wenn man den deutschen und den englischen Wikipedia-Eintrag zu Scheffel liest. Der deutsche nimmt diesen „extremly popular writer“ tatsächlich noch ernst. Der englische grübelt darüber, ob Scheffel vielleicht doch eher ein verkappter Satiriker war.
Wie viel Unheil dieses wilhelminische Kitsch-Zeitalter auch mit unserer Sicht auf Geschichte und Sprache angerichtet hat, merkt man, wenn man die vielen romantischen deutschen Zuschreibungen zu Heidelberg und seiner Studentenseligkeit liest. Und dann die Sache in Englisch liest, wo von den Phrasen auf einmal alle diese scheingebildeten Verklärungen abfallen.
Verklärungen, die einem bei Kurpfalz und Heidelberger Schloss sofort gegenwärtig sind (und bei den „gemütlichen“ Studentenkneipen und den innigen Karzer-Besichtigungen erst recht). Die Kurpfalz hat sich da längst in ein idyllisches Märchenfürstentum verwandelt, das so ätherisch ist, dass es in der Wirklichkeit nur noch als hübsche (romantische) Ruine zu existieren vermag.
Ein reales Fürstentum kann es nie gewesen sein. Mit ihrer ganzen falsch verstandenen Romantik haben die Deutschen ihre komplette Geschichte verkitscht (auch die sächsische, machen wir uns doch nichts vor). Und die richtigen Romantiker (die ja in diesem Stadtführer mit „Heidelberg Romanticism“ erwähnt werden) waren an dieser Verkitschung nur zum Teil schuld.
Immerhin war ihre Verklärung der Vergangenheit auch der Versuch, mit den miserablen Zuständen der Metternichzeit irgendwie fertigzuwerden. Sie suchten das Ideal für ein starkes Deutschland in der mittelalterlichen Kulisse. Aber zum Kitsch verkommen ist es erst nach der Reichsgründung 1871.
Was eben auch zur Abwertung der unterschiedlichen Landesgeschichten beitrug, die sich jetzt der preußischen Dominanz fügen mussten. Auch der Geschichte des Electoral County Palatine of the Rhine, wie dieses Kurfürstentum wirklich hieß. Das klingt dann schon eher nach einem ebenbürtigen Mitspieler im innerdeutschen Machtgerangel, einem ernst zu nehmenden Fürstenhaus, dem die Böhmen auch die Königswürde zutrauten, groß und wichtig genug, dass sein politisches Agieren einen Dreißigjährigen Krieg mit auslösen konnte und später im Kurpfälzischen Erbfolgekrieg auch die Gier des französischen Königs Ludwig XIV. erwecken konnte, dessen Truppen das herzogliche Schloss in Heidelberg verwüsteten und sprengten.
Dass dieses Schloss ganz und gar keine „romantische“ Ritterburg war und all die Seufzer zur Burgzinne hinauf biedermeierlicher Gefühlsquatsch sind, zeigt dieser kleine Film über die Baugeschichte des Schlosses.
Schloss Heidelberg: Die baugeschichtliche Entwicklung
Er macht sichtbar, dass sich die Kurfürsten hier den präsentablen Sitz echter Landesherren gebaut hatten. Die Franzosen wussten schon, wie sie möglichst viel Schaden anrichten konnten, auch wenn sie am Ende die Kurpfalz nicht bekamen. Auch dieser Erbfolgekrieg wird gern verniedlicht (so wie Friedrich V. zum „Winter King“ verniedlicht wurde).
Aber dass das ein veritabler Krieg mit allen Schrecken und Verheerungen war, wird selbst in der englischen Version spürbar: „In 1689, during the War of the Palatinate Succession, the palace was partly destroyed, and again in 1693, when large sections were gutted by fire and wrecked.“
Die englische Variante führt den Reisenden also allein schon durch den anderen, wesentlich nüchterneren Ton in eine Stadt, die für mehrere Jahrhunderte eine echte Residenzstadt war, die eine ernst zu nehmende Rolle in der deutschen Geschichte spielte. Und auch die Universität gründeten ja die Fürsten nicht, damit sich die Burschenschaften in den Pubs an der Main Street mit süßlichen Alt-Heidelberg-Liedern in den Rausch sangen, sondern weil man damit das gebildete Personal bekam, das man in einem ernst zu nehmenden Fürstentum als Staatsdiener brauchte.
Und so wandelt sich auch beim Gang durch die Stadt alles, verliert diese Tünche aufgetragener Lieblichkeit ihre feierliche Patina. Aus dem deutschen Philosophenweg (wo man die philosophierenden Kleingärtner meint spazieren gehen zu sehen) wird ein Philosopher’s Way, also irgendwie ein Weg, der tatsächlich den Philosophen gehört. Aus dem Kurpfälzischen Museum wird ein Palatinate Museum und selbst aus dem braven Friedrich Ebert wird „the Weimar Republic’s first president of the Reich“.
Das klingt schon eher nach richtiger Geschichte, englisch nüchtern betrachtet. Als wüsste selbst die englische Sprache, dass die Deutschen sich gern wie wunderliche und harmlose Märchengestalten darstellen, in Wirklichkeit aber ernst zu nehmen sind – und zwar gerade dann, wenn sie singen und saufen.
Es kann auch die amerikanische Nüchternheit sein, wie sie Mark Twain 1880 aufschrieb, als er in „A tramp abroad“ seinen ersten Blick auf das kaputte Schloss beschrieb: „Heidelberg Castle must have been very beautiful before the French battered and bruised and scorched it two hundred years ago.“ Ramponiert und zerstampft und verbrannt. Das Unheil, das die deutschen Professoren mit ihrem Verklärungstick am „deutschen Gemüth“ angerichtet haben, ist nicht wirklich zu ermessen. Da hilft wirklich nur, sich mit Mark Twain in der Jackentasche aufzumachen nach Heidelberg. Natürlich im amerikanischen Original. Man weiß ja nie, aus welcher romantischen Schule gerade der deutsche Übersetzer kam.
Andrea Reidt Heidelberg in one Day, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 6 Euro.
Heidelberg an einem Tag: Die Neckarstadt mit der berühmtesten Burgruine Deutschlands
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