Eigentlich ist ja „Jahr der Industriekultur“. Aber davon war aufgrund der Corona-Beschränkungen bislang wenig zu spüren. Außer, man besucht zum Beispiel die bis August verlängerte Ausstellung „Silber auf Glas“ im Stadtgeschichtlichen Museum, die eine Menge Fotos aus der frühen Zeit der Leipziger Industrialisierung zeigt. Oder man schnappt sich jetzt diesen Themen-Sonderband, den die „Leipziger Blätter“ herausbringen und der die Leipziger Automobilgeschichte einmal in hunderten Bildern und vielen Facetten zeigt.
Und bei den meisten Geschichten werden auch Autoliebhaber feststellen, dass sie darüber noch gar nichts wussten. Und das, obwohl gerade die deutsche Automobilgeschichte immer wieder gern erzählt wird. Als ewige Erfolgsgeschichte, die mit den Herren Benz, Otto und Horch begann und zu unerhörten Höhenflügen ansetzte. Quasi Deutschland als Auto-Siegerland von Anfang an. Was so freilich nicht ganz stimmt.
Natürlich ist das Buch ein profunder Beitrag zum Jahr der Industriekultur. Und aufs Auto sind die Autor/-innen auch nicht zufällig gekommen, denn es ist mit den beiden großen Werken von Porsche und BMW im Leipziger Norden das aktuelle dominierende Industrieprodukt aus Leipzig. So dominierend, dass tatsächlich mal kurz die Frage stand, ob man Leipzig auch noch zur Autostadt erklären sollte.
Ein Anliegen, gegen das sich selbst Peter Claussen und Siegfried Bülow, die beiden Gründungswerkleiter von BMW Leipzig und Porsche Leipzig, deutlich erklären in einem der beiden großen Interviews, die den Band abrunden. Denn auch die Ansiedlung der beiden Werke erfolgte ja nicht, weil es ausgerechnet Leipzig nötig hatte, noch ein neues schnittiges Industrie-Label verpasst zu bekommen, sondern weil hier erstens die nötigen Fachkräfte zu finden waren, die Standortanbindung perfekt war und die Stadt einfach einen eigenen Ruf hat. Oder eine Seele, egal, wie man es nennen will. Das klingt immer mit, wenn Leipzig als Standort genannt wird.
Und ein wenig hat es auch mit der Neugier, der Lust am Erfinden und am Immer-wieder-von-vorn-anpacken zu tun, das die Sachsen eben doch irgendwie auszeichnet. Und das natürlich all die Unternehmensgründer und Erfinder ebenso auszeichnete, die vor fast 140 Jahren in Leipzig begannen, die Mobilität zu revolutionieren.
Man versteht das Finale mit den beiden Modellfabriken im Norden nicht wirklich, wenn man nicht vorher die akribisch aufgearbeitete Geschichte des Automobils in Leipzig und Sachsen gelesen hat, geschrieben von mehreren Autoren, die sich ins Thema eingearbeitet haben und all den Tüftlern und Unternehmern ein Gesicht und einen Namen geben, die ab den 1880er Jahren in Leipzig darangingen, das Automobil der Zukunft auf den Markt zu bringen.
Wobei sie auch die wichtige Vorgeschichte nicht weglassen, ohne die man nicht versteht, warum die Entwicklung von Dampfkraftwagen, Gas-, Elektro- und Benzinmotoren ab den 1880er Jahren von den Menschen als Revolution begriffen wurde, auch wenn es tatsächlich noch 40 Jahre dauern sollte, bis die tatsächlich massentauglichen Personen- und Lastkraftwagen begannen, Pferde und Kutschen von den Straßen zu verdrängen.
Zu einer Zeit, als andere Autonationen längst davongefahren waren – zuerst die Franzosen, danach die US-Amerikaner. Was nicht nur an dem berühmten Spruch von Kaiser Wilhelm II. lag, der dem Auto keine Zukunft gab, sondern – eine nicht ganz unwichtige Erkenntnis – an einem konkurrenzlos gut ausgebauten Eisenbahnsystem.
Deswegen ist das Buch nicht nur für Automobilisten lesenswert, sondern auch für alle Menschen, die sich jetzt Gedanken darüber machen, ob wir künftig nicht doch eine andere Mobilität brauchen. Denn dass das auf Fords Fließbändern hergestellte Auto in den USA zum Millionenprodukt wurde, hat ja damit zu tun, dass abseits des (verglichen mit Deutschland) spärlichen Eisenbahnnetzes ganze Landgemeinden und Farmen nur mit dem Pferd erreichbar waren.
Was ja eigentlich immer wieder das Verblüffende an der ganzen von Hollywood gehypten Cowboy- und Westernhistorie ist, in der einem aus europäischer Perspektive ja ein seltsam zurückgebliebenes Land gezeigt wird, in dem die Leute auf Pferden reiten und in Kutschen fahren (und nur manchmal Züge überfallen), zu einer Zeit, als in Europa längst Eisenbahnen, (Pferde-)Omnibusse und die ersten Straßenbahnen durch die Städte fuhren.
Und so spielen auch die beiden großen Fotos im Umschlag mit den Sehgewohnheiten: Das erste zeigt den westlichen Bahnhofsvorplatz vorm Hotel Continental in den 1920er Jahren, dominiert von Radfahrern und Pferdefuhrwerken, das zweite dieselbe Situation 100 Jahren später – mit Straßenbahnen und Autos. Radfahrer und Pferdedroschken wird man hier so schnell nicht wieder sehen.
Deswegen gibt es auch eigene Beiträge zur Veränderung der Leipziger Mobilität in historischen Messezeiten, etwa zum alten Ausspannhof der „Goldenen Laute“ am Ranstädter Steinweg, der in den 1920er Jahren für einen großen modernen Kraftwagenhof abgerissen wurde. Ein Stück Vor-Ort-Geschichte, das man von außen heute nicht mehr erkennen kann, genauso wenig, wie jüngere Leipziger noch die kleine Tankstelle auf dem Wilhelm-Liebknecht-Platz kennen, über die ebenfalls Heinz-Jürgen Böhme schreibt. Wenn solche Fixpunkte aus dem Stadtbild verschwinden, verschwindet auch ein Stück wahrnehmbare Stadtgeschichte. Die nun aus alten Archiven wieder rekonstruiert werden muss.
Etwas kürzer kommt die Leipziger Straßenbahngeschichte weg, die ja schon einmal gründlicher aufgearbeitet wurde. Dafür bekommt die Leipziger O-Bus-Geschichte ein ganzes Kapitel, die sich ja mit der Geschichte des Leipziger Lastkraftwagenbaus trifft, die ihrerseits noch ungeschrieben war.
So erfährt man auch, warum zuerst Lastkraftwagen ihren Siegeslauf in Deutschland antraten (befördert ausgerechnet durch den 1. Weltkrieg) und warum Personenkraftwagen noch lange Luxuswaren waren (und das Lenkrad auf der rechten Seite angebracht war), obwohl sich auch etliche Leipziger Erfinder mit der Entwicklung einfacher, preiswerter Mobile beschäftigten – etwa den legendären Dreirädern, die auch deshalb eigentlich die zuerst erfolgreichen „Volkswagen“ waren, weil sie nicht so luxusbesteuert wurden wie etwa die berühmten Dux- und MAF-Kraftwagen aus Leipzig und Markranstädt.
Und kenntnisreich wird eben auch erzählt, warum die Leipziger Autohersteller es alle nicht schafften, sich dauerhaft als deutsche Automarke zu platzieren, obwohl ihre Fahrzeuge Spitzenklasse waren – aber leider eben auch bis zuletzt größtenteils handgefertigt, und damit auch entsprechend teurer.
Dafür wurden ausgerechnet Elektrofahrzeuge aus Leipzig zu einem richtigen Verkaufshit. Die „Eidechse“ der Firma Bleichert war ja in manchem DDR-Betrieb bis 1989 im Einsatz. Noch so ein Aspekt, der in die Gegenwart hineinleuchtet, da ja sowohl Porsche als auch BMW nun verstärkt auf alternative Antriebe setzen.
Und dazwischen? Mit dem Ende des 2. Weltkrieges endete ja auch erst einmal der Leipziger Fahrzeugbau, auch wenn in kleinen Werkstätten noch Mobile für den Alltagsgebrauch zusammengeschraubt wurden. Die DDR-Zeit war eben nicht nur die Zeit des über Jahrzehnte kaum veränderten Trabant. Gerade die Frühzeit war noch geprägt von Erfindergeist und dem Versuch, exportfähige Spitzenklasse zu entwickeln.
Auch dazu gibt es ein profundes Kapitel, das freilich auch die Probleme einer Planwirtschaft zeigt, die von Anfang an unter Kapitalmangel litt und nie wirklich das nötige Geld hatte, um moderne Produktionsstrecken aufzubauen. Das gelang erst knapp vor Toresschluss mit einem Deal mit VW.
Aber das rettete weder Trabi noch Wartburg. Dafür machen heute Oldtimer-Treffen deutlich, was für attraktive Fahrzeuge im Osten gerade in den 1950er Jahren noch gebaut wurden und wie emsige Bastler auch danach noch Boliden entwickelten, die bei Straßenrennen und im Windkanal locker gegen die westliche Konkurrenz bestehen konnten.
Am Erfindergeist lag es eben nicht, dass die DDR nicht mithalten konnte und im Fahrzeugbau ab den 1960er Jahren zurückblieb. An der fehlenden Begeisterung an schnittigen Fahrzeugen auch nicht. Und an fehlenden Straßen ebenso wenig. Davon erzählen ja bis heute die zum Teil rabiaten Straßenaufweitungen bis hin zum Leipziger Promenadenring, der eigentlich ein Autoring ist, der heute mehr Probleme verursacht, als er Mobilitätsprobleme löst. Weshalb Michael Jana, Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes, kurz auch skizziert, wie ein Promenadenring künftig aussehen könnte.
Denn in der Leipziger Verkehrsverwaltung arbeitet man ja längst an Konzepten, wie sie der Stadtrat mit dem „Nachhaltigkeitsszenario“ beschlossen hat. Die Zeit, in der die Priorität dem Kfz-Verkehr eingeräumt wurde, geht vorbei. Die Verkehrsräume müssen anders aufgeteilt werden. Und auch die Technik wird sich ändern, woran mit dem Projekt eines selbstfahrenden Busses im Leipziger Norden genauso gearbeitet wird wie bei der Entwicklung moderner digitaler Steuerungssysteme für den Verkehrsfluss. Aber auch die heutige Verschrottungstechnik muss sich ändern. Wenn Autos künftig nicht komplett recycelbar werden, gehen uns schlicht irgendwann wichtige Rohstoffe aus.
Das heißt: Gerade weil dieser reich bebilderte Band einen so genauen Blick in die historische Entwicklung des Automobils und der Mobilität in Leipzig wirft, macht er sichtbar, wie die Fragen alle aussehen, mit denen sich heute Erfinder, Entwickler, Autobauer und Verwaltungen beschäftigen, um auch auf die schlichte Tatsache zu reagieren, dass „die Liebe zum Automobil abgekühlt“ ist.
Jahrzehntelang erfüllte es durchaus Bedürfnisse und kam der Sehnsucht der Menschen nach Mobilität entgegen. Aber in der Gegenwart überfordert es die städtischen Strukturen und löst auch nicht wirklich die Probleme, die entstanden sind, als man die einst gut vernetzten Eisenbahnstrecken ausdünnte und ganze Landstriche von der Entwicklung abklemmte.
Eine Tatsache, die schon deutlich wurde, als die großen Autokonzerne mit ihren Absagen dafür sorgten, dass die AMI und die AMITEC 2016 in Leipzig ihr Ende fanden. Es gibt zwar noch einige Spezialmessen, die sich insbesondere modernen Antriebstechnologien und Fertigungstechniken widmen. Aber der Automobilbau (auch in Sachsen) ist in einer großen Transformation, an der auch die heiß diskutierte zweite „Abwrackprämie“ nichts ändern wird.
Das Buch ist also mehr als eine historische Aufarbeitung (die auch sichtbar macht, was alles noch erkundet werden könnte), sondern auch eine Diskussion über das, was jetzt kommen könnte. Steckt es in den viel gefeierten Technologien, in denen heute Ingenieure und Politiker die Lösung sehen? Oder wird es – wie so oft in den vergangenen 140 Jahren – völlig anders kommen? Eine völlig offene Frage. Nur eins steht fest: Ohne attraktive Mobilitätsangebote wird’s nicht gehen.
Kulturstiftung Leipzig (Hrsg.) Leipzig Automobil, Passage Verlag, Leipzig 2020, 28 Euro.
Stadtgeschichtliches Museum verlängert die Ausstellung „Silber auf Glas“ jetzt bis August
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