Die Kontaktsperren werden nach und nach gelockert. Viele Menschen haben schon vor Ostern begonnen, wieder mehr ins Freie zu gehen. Manche Familien ja auch aus purer Verzweiflung, denn Kinder brauchen Bewegung. Sie halten das Stillsitzen über Wochen am schwersten aus. Aber man muss ja mit den Kleinen nicht unbedingt gleich zum überfüllten Spielplatz gehen. Da draußen gibt es eine ganze Welt zu entdecken. Und Susanne Straßburgers Buch lädt dazu ein, das mit den Kleinen tatsächlich zu tun.
Susanne Straßburger ist Künstlerin in Leipzig. Und natürlich schaut sie auf die Natur mit den Augen der Künstlerin. Künstler wollen gestalten, verändern, sichtbar machen. Das ist im Menschen angelegt, auch wenn die meisten sich das irgendwann verkneifen, Natur lieber beräumen, zähmen und einhegen. So sehr, dass viele Kinder gar keine Erfahrungen machen mit der wilden Welt außerhalb der entleerten und geputzten Stadt-Räume.
Doch Straßburger animiert mit diesem Buch die Eltern kleiner Kinder dazu, die geputzten und reglementierten Räume zu verlassen, die Kleinen mit wetter- und landschaftsgerechter Kleidung zu versehen und einfach mal an Seen, Bächen, in Wäldern und auf Wiesen wieder Sehen, Riechen, Fühlen zu lernen.
Das geht nur, indem sich Kinder natürlich wieder die Hände schmutzig machen, sich intensiv mit all den erstaunlichen Dingen beschäftigen, die man dort findet. Oft machen sie es von ganz allein. Sie brauchen keine „Beschäftigung“ und schon gar keine Unterhaltungselektronik. Waldkindergärten haben das sogar als Programm.
Was Straßburger in ihrem Buch versammelt hat, sind Anregungen für Eltern, wie sie ihre Kleinen dazu bringen, die Sache ganz gezielt anzugehen, Farben und Formen zu entdecken, die Vielfalt von Steinen, Ästen, Blättern, Waldfrüchten, Baumstämmen und Geländeformen. Und das kann man natürlich am besten, indem man sammelt, zielgerichtet sammelt.
Viele Kinder machen das sogar schon von allein. All das Wilde und Vielfältige bringt sie ganz von allein dazu, sich mit unendlicher Aufmerksamkeit mit diesem Reichtum zu beschäftigen. Aber wahrscheinlich muss man da hineinwachsen, tun sich Großstadtkinder eher schwer, weil das nicht zu ihrem Räuberalltag gehört.
Also systematisiert Susanne Straßburger einige Übungen, mit denen die kleinen ihre Sinne schärfen können dafür, was es da alles gibt an Formen, Farben und natürlichen Materialien. Jeder, der das mal gemacht hat, weiß, was für frappierende Erfahrungen man dabei machen kann, nicht nur mit den Händen und den Augen. Die meisten Kinder wissen ja nicht einmal, wie es sich anfühlt, über Gras, Moos und raschelnde Herbstblätter zu laufen – und zwar barfuß.
Diese intensive Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt ist uns fast völlig verloren gegangen. Was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass wir unsere Städte so zubetonieren, jeden Grashalm auf dem Gehweg bekämpfen und Gärten in kahlgeschorene Golfrasen verwandeln.
Das ganze erste Kapitel im Buch beschäftigt sich mit dem Entdecken der Vielfalt und den ersten Formen der Aneignung, die meist mit dem Sammeln beginnen: Steine, Kastanien, Eicheln, Beeren, Schneckengehäuse … Und das wird nicht einfach auf einen Haufen geschmissen, sondern sortiert – nach Farbe, Größe, Form. So beginnt eigentlich die Aneignung, die dann schon im zweiten Kapitel in das Gestalten mündet.
Denn wenn man all diese Dinge gesammelt hat, kann man sie auch wieder in der freien Natur platzieren, absichtsvoll, quasi zum Gestalter werden. Die Fotos im Buch zeigen, wie schnell daraus ein faszinierendes Kunstwerk wird, wie Muster entstehen und auf einmal mitten im Wilden etwas, das einerseits den kleinen Künstler verrät, andererseits auch zeigt, was für eindrucksvolle Gebilde man mit den vorgefundenen Naturmaterialien schaffen kann. Die übrigens nicht mitgenommen werden.
Susanne Straßburger will ja auch zeigen, dass Kunst eben nicht nur das ist, was dann in Ausstellungen und Museen geschleppt wird, dass der kleine Mensch auch in der lebendigen Natur zum Gestalter werden kann, weil er die Möglichkeiten des Vorgefundenen kreativ nutzt. Die kleinen Werke bleiben dann aber an Ort und Stelle, bleiben Teil des Werdens und Vergehens. Einige aus Naturmaterialien gebastelte Gebilde schwimmen am Ende auch auf dem Bergbach davon. Das Schaffen bekommt eine weitere Dimension – die des Vergänglichen.
Auch wenn man natürlich alles, was so entstanden ist, fotografieren kann. Egal, ob es die Schaffung eines aufmerksam sortierten Kunstwerks am Strand ist oder ein mit leuchtenden Blättern zum „Kunstobjekt“ gemachten Baums. Die Kinder lernen dabei, immer aufmerksamer zu sein, auf Nuancen zu achten, aber gleichzeitig auch die Stadien der Veränderungen wahrzunehmen, die Blätter, Früchte und Äste im Wald durchmachen.
Die nächste Steigerung ist dann „Vorhandenes betonen!“, also Strukturen wahrzunehmen und sie mit pfiffigen Ideen nachzuzeichnen oder stärker zur Geltung zu bringen. Die Natur hört damit auf, etwas Form- und Gestaltloses zu sein, zeigt ihre geometrischen Grundformen und animiert zum phantasievollen Weiterzeichnen.
Manchmal wird einem ja erst durch dieses Weiterzeichnen mit Blättern, Steinchen oder Ritzen im Sand bewusst, wie aufregend viele natürliche Formen sind. Und das letzte Kapitel im Buch lockt dann gar die Feinmotorik zu schulen, wenn die Autorin dazu anregt, aus Steinen kleine Türme und Brücken zu bauen, aus Ästen und Schilf kleine Holzflöße oder Asthöhlen.
In der Einführung erzählt sie auch, wie man so einen Aufenthalt in der Natur vorher organisiert, was man am besten mitnimmt und dass auch ein kleines Picknick dazugehört – und ein Beutel, in dem man natürlich seine Abfälle mit nach Hause nimmt.
Und das Ausflugsziel muss gar nicht der Bergwald oder der wilde Bergbach sein. Etliche dieser Naturkunstprojekte sind auch direkt im Leipziger Umland entstanden. Manchmal genügt ganz wenig Material, um ein kleines, für kurze Zeit für Aufmerksamkeit sorgendes Werk im Freien zu schaffen.
Immer mit der gebotenen Rücksicht auf Flora und Fauna, wie Susanne Straßburger betont. Denn eines gehört bei diesem Naturkennenlernen natürlich immer dazu: Auch zu lernen, dass jeder Einzelne auch Verantwortung gegenüber der Umwelt trägt. Eine Achtsamkeit, die man wirklich nur lernt, wenn man als Kind tatsächlich die faszinierende Vielfalt der Natur zwischen den Fingern hatte.
Susanne Straßburger Kinder gestalten die Natur, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2020, 14,95 Euro.
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