Das Buch bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist es auch ein Spaß unter Verlegern, es einfach immer wieder herauszubringen und die Leser mit diesen durchaus frivolen Tricks, ein Leben zu führen, ohne jemals seine Schulden zu bezahlen, jedes Mal aufs Neue zu erfreuen. Was ja gerade jetzt sehr gut passt, wo gerade kreative Menschen, die eh schon immer am Limit lebten, durch Zahlungsausfälle in neue Nöte geraten. Balzac war ja das Musterexemplar so eines von Gläubigern gejagten Mannes. Oder?
Natürlich war er das. Er war auch der Typus des wagemutigen Unternehmers, der sich für große Projekte, von denen er sich ungeheure Einnahmen versprach, tief in Schulden stürzte. Und wer sein Wohnhaus in der Rue Raynouard in Paris besucht hat, hat auch gesehen, wie der schuldengeplagte Schriftsteller sich eine Wohnlage gesucht hat, in der er leicht fliehen konnte, wenn oben ein Gerichtsvollzieher an der Pforte klingelte.
So ein frivoler Ratgeber wie „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen“ würde also bestens passen zu dem Mann, der in seiner „Menschlichen Komödie“ über kaum etwas so viel schrieb wie über Geld und seine Funktion in der neuen bürgerlichen Gesellschaftsordnung.
Tatsächlich ist der Titel schon etwas blumig übersetzt. Die französische Originalausgabe viel knapper und treffender: „L’art de payer ses dettes et de satisfaire ses créanciers sans débourser un sou“.
Und da wird es spannend, denn so ein Titel taucht nirgendwo in einem Werkverzeichnis des grandiosen Vielschreibers auf. Dafür gibt es jede Menge unterschiedlichster Ausgaben von „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen …“ in deutschen Verlagen. Als Taschenbuch zum Beispiel im Insel Verlag, wo es noch eine weitere Mystifikation gibt. Denn mal wird der Übersetzer als E. Fred angegeben, mal als W. Fred. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, mit welcher Akribie Verleger in Deutschland meistens arbeiten.
Der Verlag Faber & Faber nennt W. Fred im Impressum. Was auch die richtigere Variante ist, denn sie verweist auf die deutsche Erstausgabe von 1912, erschienen im Georg Müller Verlag in München, wo W. Fred auch als Herausgeber der dort erscheinenden Balzac-Ausgabe fungierte, darunter auch die drei Bände „Die Kunst seine Schulden zu zahlen / Physiologie des Alltagslebens / Physiologie des eleganten Lebens“.
Doch man findet einfach sonst keinen W. Fred und keinen E. Fred in online verfügbaren Quellen. Als hätte es den Mann (oder die Frau) gar nicht gegeben. Was einen an eine andere wilde Übersetzergeschichte aus der Zeit erinnert: die Geschichte von Felix Paul Greve, der im Grunde gleichzeitig für den Insel Verlag in Leipzig ebenfalls Balzac übersetzte, von Schulden geplagt 1909 einen Selbstmord vortäuschte und sich mit dem Dampfer Richtung Kanada absetze, wo er als Frederick Philip Grove eine neue und erfolgreiche Laufbahn begann.
Über seinen Streit mit dem Insel Verlag auch über wohl etwas schlampig erstellte Übersetzungen berichtete Gaby Divay in diesem Internet-Beitrag.
Der freilich keinen Hinweis auf W. Fred enthält. Womit W. Fred ein Mysterium bleibt, bis ein bibliophiler Forscher uns erzählen kann, wer sich dahinter tatsächlich verbarg. Aber dass „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen“ wohl nicht von Balzac stammt, zeigt schon der Blick auf die französische Originalausgabe, die genauso aufgebaut ist wie die deutsche Übersetzung. Nur dass sie nicht den Autorennamen Honoré de Balzac zugewiesen bekommt, sondern den von Marco de Saint-Hilaire.
Da könnte man vermuten, dass das ja eins der vielen Pseudonyme Balzacs sein könnte, der seine Jugendwerke ja zum Beispiel mal als Horace de Saint-Aubin, mal als Lord R’Hoone veröffentlichte. Aber Marco de Saint-Hilaire ist kein Pseudonym. Den Mann gab es wirklich. Er war einer der bekanntesten Feuilletonisten der 1820er Jahre in Paris. Und er veröffentlichte just 1827 mehrere Dandy-Ratgeber, darunter auch „L’art de payer ses dettes et de satisfaire ses créanciers sans débourser un sou“.
Und zwar genau in jener Druckerei, die Honoré de Balzac 1826 mit dem Geld seiner Mutter und einem Darlehen der Madame de Berny gekauft hatte. 1828 musste Balzac mit seiner Druckerei Konkurs anmelden, weil er von der von England nach Frankreich übergreifenden Wirtschaftskrise voll erwischt wurde. Und wer das französische Originalbüchlein anschaut, sieht auch, dass Balzac hier auftaucht – als Drucker: „IMPRIMERIE DE H. BALZAC, RUE DES MARAIS“.
Was die Sache ja geradezu kurios macht: Hat da ein emsiger Übersetzer 1912 dem Georg Müller Verlag einen falschen Balzac untergemogelt, der bis heute immer wieder aufgelegt wird? Der nur zu gut passt auf diesen immer von Schulden und Gläubigern gejagten Schriftsteller, in dessen Biografie man freilich den schuldenmachenden Onkel, dem der Autor des Essays alle diese doch recht kuriosen Ratschläge gibt, vergeblich sucht. Das Leben auf großem Fuß, Einkaufen nur bei den teuersten Lieferanten, Speisen in den nobelsten Restaurants – das passt doch alles zu Balzac?
Wahrscheinlich viel zu gut. Denn eines passt nicht wirklich: Diese leichte und frivole Ironie. Und auch nicht der Ratgeberton. Balzac neigte auch bei solchen Themen dazu, lieber ausgefeilte und tiefgründige Studien zu schreiben. Studien, die sich beim Lesen auch nahtlos einfügen in seine „Comedie humaine“, wie Vorarbeiten zu seinen großen Romanen, mit denen er die feine, vom Geld besessene Gesellschaft seiner Zeit porträtierte.
Was den Genuss des Büchleins nicht schmälert, weil auch Marco de Saint Hilaire bei allem Spaß an der Übertreibung immer wieder durchblicken lässt, dass die von ihm gepriesene Kunst ein Balancieren auf hohem Seil ist. Wann werden die Gläubiger ungeduldig? Wann holen sie sich einen Gerichtstitel und lassen den Gerichtsvollzieher antanzen? Wann wird aus der hohen Kunst, seine Gläubiger hinzuhalten und mit leeren Versprechungen abzuspeisen, bitterer Ernst und auch die Wohnung mit bestem Ausblick aus dem vierten Stock nützt nichts mehr – man wandert ins Gefängnis von Sainte-Pélagie?
Und im Vorblatt des Büchleins, das Faber & Faber vom Leipziger Grafiker Volker Pfüller hat illustrieren lassen, findet man noch einen dezenten Hinweis auf den richtigen Autor. Denn dort wird „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen“ angepriesen mit dem Hinweis, dass der Verfasser auch die „Kunst, seine Krawatte zu binden“ geschrieben hat. Und auch „L’art de mettre sa cravate de toutes les manières connues et usitées, enseigné et démontré en 16 leçons“ stammt von Émile Marco de Saint-Hilaire.
Wobei Pfüllers Illustrationen dem Band noch eine zusätzliche Dimension geben, denn sie illustrieren zwar einerseits die etwas schrägen Vorschläge, auf erfolgreiche Art Schulden zu machen, andererseits aber auch diverse Stellen aus der Bibel, in denen die biblische Verachtung für prahlerischen Reichtum, Geld und Geiz deutlich wird. Und das illustriert Pfüller dann auch noch mit Typen, wie sie uns heute immerfort als Selfmademan, Durchstarter, Parvenues und Geldmacher präsentiert werden, halb Dandy und halb gegelter Investmentbanker.
Typen, die es so ähnlich auch zur Zeit von Balzac gab. Einige hat er ja porträtiert – mit ätzender, bissiger Feder, wenn er ihre ganze Hohlheit und Besessenheit vom Aufstieg zeichnete. Natürlich macht so ein Buch auch wieder Lust, die „Menschliche Komödie“ gerade jetzt in diesen Stillsitz-Zeiten noch einmal zu lesen. Auch mit aufmerksamem Blick auf all die Schuldner, Bankiers und den berühmten Geldverleiher Gobseck.
Da bekommt man nämlich Balzacs wirkliche Sicht aufs Schuldenhaben zu sehen und ahnt, was für einen Druck die Schulden auf dieses Arbeitstier ausgeübt haben, der mit aller Macht und einem Riesenausstoß hochkomplexer Romane versuchte, diese Schulden abzuarbeiten. Genau das, was der berühmte Onkel aus „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen“ gerade nicht empfiehlt, weil es nämlich die Wirtschaft schädigt.
Ein sehr schöner Gedanke, in dem auch eine Menge Wahrheit steckt. Denn die Schulden der einen, die ihr Leben lang rackern, sie irgendwie abzuzahlen, sind der Reichtum der anderen, die die ganze Macht des Staates hinter sich haben, diese Schulden einzutreiben. Ohne Schulden gibt es weder Wohlstand noch Fortschritt. Die neue Welt des wachsenden Kapitals war auf Krediten aufgebaut. Das merken bloß die meisten armen Malocher nicht, weil sie beim Wort Kredit nicht ans Schuldenmachen denken.
Deshalb lohnt sich auch, den schönen Essay von Marco de Saint-Hilaire wieder zu lesen mit diesem augenzwinkernden Seitenblick auf die Moral der wirklich großen Schuldenmacher.
Honoré de Balzac Die Kunst, seine Schulden zu zahlen, Faber & Faber, Leipzig 2020, 24 Euro.
Heinrich Peuckmann versucht, Balzacs späte Reise ins lang versagte Glück nachzuerzählen
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