Wir haben ja an dieser Stelle schon etliche Bücher besprochen, deren Autor/-innen sich mit der viel beschworenen „Mitte“ beschäftigen – von der „Schweigenden Mitte“ bis zur „Enthemmten Mitte“. Jede/-r hat auf seine oder ihre Weise versucht, überhaupt erst einmal zu definieren, was sich hinter dieser schwammigen Masse eigentlich verbergen soll. Aber oft führt das geradezu in den Nebel. Anders als Barbara Thériaults ganz reale Erkundungen da, wo die Menschen tatsächlich leben. In Erfurt zum Beispiel.
Erfurt ist nicht ganz zufällig zentraler Erkundungsort der kanadischen Soziologin. Denn hier hat Barbara Thériault an der 1994 neu gegründeten Universität studiert. Hier ist sie heute Professorin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Sie verbringt ihr Leben zwischen den beiden so völlig unvergleichbaren Städten Erfurt und Montreal. Ein Weilchen lag ihr Lebensmittelpunkt auch mal als Stadtschreiberin in Lemberg (Lwiw).
Soziologen schauen anders auf die Gesellschaft als zum Beispiel Politiker, Ökonomen oder Politikwissenschaftler. Etwas unbefangener, könnte man sagen. Sie ticken eher wie Ethnologen, die immer ein wenig auf Distanz gehen und all das, was um sie herum geschieht, versuchen zu vergleichen und zu verstehen. Wer dann gar eine kanadische Großstadt mit einer doch eher überschaubaren thüringischen Landeshauptstadt vergleicht, sieht sowieso mehr Unterschiede.
Unterschiede, die Eingeborene gar nicht wahrnehmen oder nur, wenn sie sich selbst wieder mit Bewohnern anderer Städte vergleichen. Leipzig zum Beispiel, das tatsächlich ein paar mal vorkommt in diesem Büchlein, quasi als Gegenbild zu praktisch all den anderen kleinen und mittleren Städten in Mitteldeutschland – irgendwie abgehoben, smart, elitär. Auch das Wort extravagant fällt.
Das Büchlein ist keine wissenschaftliche Untersuchung. Auch keine Polemik oder Streitschrift. Das erfreut nicht nur, sondern macht richtig Spaß beim Lesen, weil Thériault dabei auch auf ein Vorbild zurückgreift, das in deutschen Medien kaum noch zu finden ist: die große Zeit des deutschen Feuilletons und einen ihrer markantesten Vertreter: Siegfried Kracauer. Der hat das Schreiben von Feuilletons auch als elegantes Stilmittel dafür genutzt, die Sitten und Gebräuche seiner Mitwelt zu erkunden. Wer aufmerksam hinschaut, sieht Dinge, die auch eilige Journalisten meist nicht sehen, nicht für wichtig halten.
Diese Aufmerksamkeit kennzeichnet auch Thériaults kleine Feuilletons, von denen einige schon 2017 und 2018 in der „Thüringer Allgemeinen“ veröffentlicht wurden. Was bei ostdeutschen Regionalzeitungen ja schon seit Ewigkeiten kaum noch vorkommt. Der damalige Chefredakteur der Zeitung hatte noch einen Sinn dafür. Und Thériaults kleine Entdeckungen im ganz normalen Erfurter Alltag bereicherten die Zeitung.
Viele Leser/-innen fühlten sich erkannt und gemeint. Und staunten auch über sich selbst, weil sie über all diese Dinge oft noch gar nicht nachgedacht hatten – das heimliche Heiraten, die so erstaunlich geänderten Trinkgewohnheiten, Tattoos und ihre Botschaften, Hochzeitsfotos an der Wand, karierte Hemden, die Haarlänge von Frauen, den Sinn von Jugendweihen usw.
Natürlich merkt man schnell, dass Barbara Thériault damit auch in eine sehr spezifische ostdeutsche Welt eintaucht. In jene Landschaft, in der die Vergangenheit ironisch zitiert wird, manche Leute aber geradezu Lust daran haben, mit der Politik zu fremdeln und augenzwinkernd etwas Gemeinsames zu beschwören, das sich nicht nur aus nostalgischen Erinnerungen speist.
Der Begriff der Bodenständigkeit taucht dabei immer öfter auf, als Selbsteinschätzung genauso wie als Lob – etwa für bodenständig gebliebene Fußballer und Politiker. Also Leute, die zwar Karriere gemacht haben, aber den Eindruck vermitteln, mit beiden Beinen auf der Erde geblieben zu sein, noch ansprechbar. Leute eben, wie man sie beim Bäcker oder Fleischer an der Ecke treffen kann.
Da wirkt der Begriff auf einmal wie ein Gegenbild zur modernen Selbst-Verwirklichung, zum Egotrip und Rollenspiel. Und da hat er ganz unübersehbar auch nichts mehr mit dem modernen Begriff der „Mittelklasse“ zu tun, der sich über ein Leben in tollen Metropolen, akademischen Karrieren, Weltbereistheit und exotischen Hobbys und Gewohnheiten definiert. Im Gegenteil: Man ist stolz auf den durchaus bescheideneren Ort, an dem man wohnt, wo man unaufgeregte Freundschaften pflegt, sich praktisch kleidet und pragmatische Lebensentscheidungen trifft.
Eine Art Bodenständigkeit, die man nicht nur in Thüringen findet, so Thériault, sondern auch in westdeutschen Provinzen. Das Wort impliziert Zustimmung und Abgrenzung. Und da wird es spannend, weil dieser Blick auf das eigene So-Sein auch Politik macht, einerseits ein Bild von Dazugehören schafft, andererseits aber auch – fast stillschweigend – eine Abwehr definiert. Oder besser ein „eigentlich nicht“. Überschwang und Grenzüberschreitung gehören nicht dazu. Man tut lauter vernünftige Sachen, ändert auch ganz stillschweigend schlechte Gewohnheiten, wenn man merkt, dass sie einem nicht guttun. Aber man macht kein großes Wesen daraus, wundert sich eher selbst, wie sich das so entwickelt hat. Man hat es gar nicht so sehr gemerkt. Erst diese verwunderte Professorin, die einen darauf aufmerksam macht, brachte einen zum Stutzen.
Und stutzt dann selbst, als sie als Beobachterin in Lwiw beobachtet, wie die Bürger dieser ukrainischen Großstadt mit den Veränderungen der Zeit umgehen. Sichtlich anders als die Erfurter. Deutlich bemühter, das forcierte Tempo des Westens aufzunehmen. Und deutlich geselliger als die Bewohner von Montreal, die sich augenscheinlich schon riesig freuen, wenn man sich mal auf einer Beerdigungsfeier treffen kann.
Natürlich kann man vermuten, dass jedes Land und jede Stadt ihre eigenen Arten von „Bodenständigkeit“ hat. Die sich – die kleinen Texte erzählen ja davon – sehr unterscheiden können. So nebenbei wird etwas sichtbar, was man so eigentlich nur aus der Biologie kennt: Auch Menschen entwickeln Biotope. Orte, an denen eine ganz bestimmte Mischung der Selbstverständlichkeiten, des Umgangs miteinander, der Gewohnheiten und Signale des Dazugehörens existieren.
Was in Zeiten, als Menschen noch nicht (gezwungenermaßen) um die Welt reisen, in Metropolen ziehen und anderswo Existenzen aufbauen mussten, eher nicht auffiel. Außer Stadtwanderern wie Siegfried Kracauer.
Und es sind nicht eben nur irgendwelche Traditionen (wie die Thüringer Bratwurst oder FKK), irgendwelche netten Macken, die die Bewohner des Ortes von anderen Populationen unterscheiden. Es ist – das wird sehr deutlich – eher ein stillschweigendes Muster von Selbstverständlichkeiten, von Dingen, „die man eben so macht“, von Grenzen, die alle verinnerlicht haben. Lauter Erwartungen, die letztlich darüber bestimmen, ob jemand als dazugehörig empfunden wird oder als fremd.
Die kleinen Beobachtungen sind wie ein Umweg hinter die Kulissen der deutschen Debatte um Mitte und Radikalität. Wir sehen mit Barbara Thériault die Rückseite der Kulisse. Und siehe da: Es wird die Welt der ganz normalen Bürger einer nicht wirklich großen Stadt sichtbar, denen nichts fremder ist, als radikal zu werden. Und die trotzdem aus dem Gefühl heraus, dass die verinnerlichten Regeln verletzt werden, zu radikalen Gedanken neigen.
Der Sprung passiert fast unmerklich, begegnet Barbara Thériault selbst beim freundlichen Gespräch mit Menschen, die ihr offen und freundlich begegnen – und mitten im Gespräch kommt die geradezu freundliche Unbarmherzigkeit hervor, die sich empört gegen die Zumutungen verwahrt, die das Gewohnte bedrohen.
Etwas, was nicht nur in den kleinen Erfurt-Feuilletons zum Vorschein kommt, sondern auch in den Blogbeiträgen, die Barbara Thériault in Lwiw schrieb, und in einigen beiläufigen Kommentaren zu Montreal. Dieses seltsame Wort Bodenständigkeit, das es nur im Deutschen gibt und hier auch von fast jedem verstanden wird, beschreibt augenscheinlich etwas, was anderswo genauso existiert, auch wenn es dort mit anderen Regeln und Erwartungen umgeht.
Zwar redet kaum jemand darüber, was das ist und was alles dazugehört, wo die gefühlsmäßigen Grenzen verlaufen und was man als normal empfindet. Aber wenn die neugierige Soziologin nachfragt, stellt sich immer wieder heraus, dass es diesen Kanon der Selbstverständlichkeiten überall gibt, auch in der durchaus bürgerlichen Mitte von Erfurt. Und „Mitte“ heißt da selbst für gut etablierte Akademiker immer wieder: Maßhalten.
Bodenständigkeit und Maßhalten gehören eigentlich zusammen wie Geschwisterkinder. „Die Mitte, so stellte sich heraus, ist nüchtern, untätowiert, unparfümiert, gemäßigt und trägt gern karierte Hemden“, schreibt Barbara Thériault im Vorwort. Es geht um einen „Ethos des Maßhaltens“. „Diese Haltung – nicht zu viel, nicht zu wenig – prägte den Diskurs, aber auch das Verhalten und den Geschmack (in Sachen Schönheit, Essen und Trinken, Beziehungen). Auch das Träumen.“
So etwas prägt natürlich auch Erwartungen, Wünsche an das Leben, die Vorstellung von jenem Ort, an dem man sich aufgehoben fühlt (auch wenn der Begriff „Heimat“ damit oft gar nicht identisch ist.) Man schaut mit Barbara Thériault auf einmal völlig anders auch auf dieses Mitteldeutschland mit seinen vielen kleinen und mittleren Städten, die sich so deutlich vom „elitären“ Leipzig unterscheiden. Und es scheint sogar ein gewisses Glücksgefühl damit verbunden: Man muss keine wilden Träume (mehr) träumen, um sich geborgen und am richtigen Ort zu fühlen.
Und das Aber sitzt natürlich auch gleich nebenan: Aber was, wenn diese Geborgenheit infrage gestellt wird? Da wären wir dann tatsächlich im Deutschland von heute und seinen vielen Provinzen, in denen Bodenständigkeit als etwas Verbindendes gilt, auch als etwas Beruhigendes, während da draußen die wilden Stürme jagen.
Barbara Thériault Die Bodenständigen, edition überland, Leipzig 2020, 14 Euro.
Das Schweigen der Mitte: Der Versuch herauszufinden, warum es keine großen gesellschaftlichen Debatten mehr gibt
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