Er gehรถrte zu den grรถรten Talenten der SPD und war kurzzeitig ihr beliebtester Vorsitzender, bevor er aus gesundheitlichen Grรผnden zurรผcktreten musste: Matthias Platzeck. Viele kennen ihn noch als couragierten Ministerprรคsidenten von Brandenburg, vorher war er OBM in Potsdam. Die Friedliche Revolution machte er als Grรผner mit. Und nun schreibt er so ein mahnendes Buch, das wie aus der (Corona-)Zeit gefallen wirkt. Und fast ein bisschen verboten klingt. Ja, darf man denn mit Russland reden?
Schon diese Irritation verrรคt einem eine Menge darรผber, was da in der deutschen Politik und Medienberichterstattung der letzten Jahre schiefgelaufen ist. Eigentlich sind es auch Jahrzehnte, was Ostdeutschen noch viel bewusster ist als den tonangebenden Taktvorgebern in westdeutschen Zeitungen.
Darauf geht Matthias Platzeck auch ein, der ja selbst miterlebt hat, welche Prozesse einst dafรผr sorgten, dass der Beton des Kalten Krieges brรถckelte, die Menschen im Ostblock Zuversicht fanden und all die (friedlichen) Bรผrgerbewegungen entstanden, die 1989 das Ende der Parteienherrschaft in Osteuropa bewirkten.
Ohne die Politik Michail Gorbatschows hรคtte das nicht geklappt. Die Ostdeutschen, die 1989 auf die Straรe gingen, wussten das. Und die Politiker, die dann dabei waren, als das Zwei-plus-Vier-Abkommen und der russische Truppenabzug ausgehandelt wurden, wussten es auch. Und sie wissen auch, dass die westlichen Verhandlungspartner damals ein ganz zentrales Versprechen abgegeben haben: Russland kรผnftig in eine europรคische Sicherheitsarchitektur einzubinden.
Das ist bis heute nicht passiert. Stattdessen leben wir wieder in einer Zeit der Konfrontation. Beobachter nennen es einen โKalten Friedenโ. Es wird wieder aufgerรผstet, neue Raketen werden entwickelt, die NATO stationiert strategische Waffen in Osteuropa, hรคlt Manรถver dicht an der russischen Grenze ab. Und auf einmal riecht es wieder wie vor 50 Jahren nach einem Konflikt, den die hartleibigen Eliten hochgeschaukelt haben โ und die Vรถlker schauen nur entsetzt, wie das hatte passieren kรถnnen.
Dass der Konflikt so wirkt wie das Bedrohungsszenario der 1970er Jahre, hat mit einer ganz รคhnlichen Haltung zu tun: Der Unfรคhigkeit des Westens zu einer richtigen Friedenspolitik. Das Wort Ostpolitik benutzt Platzeck ganz bewusst. Denn er erinnert sich noch sehr wohl daran, wie Willy Brandt mit seiner Ostpolitik nicht nur die beinharte Haltung der Bundesrepublik gegenรผber dem Osten und der DDR aufgab.
Denn als Regierender Bรผrgermeister in Berlin hatte Brandt gelernt, dass man mit Abschottung und Konfrontation gar nichts erreicht, erst recht nicht, wenn man wirklich Erleichterungen fรผr die durch Mauern getrennten Menschen in Ost und West erreichen will. Wer sich hineinliest in Platzecks Buch, merkt, wie sich die harte Schale unseres selbstgerechten Denkens von heute langsam wieder lรถst und jene Ernรผchterung eintritt, die einst erst eine wirklich menschliche Ostpolitik mรถglich gemacht hat.
Dass er die Regime im Osten nicht menschenwรผrdig fand, daraus machte Willy Brandt nie ein Hehl. Aber mit dem sturen Beharren auf Werten kann man keine Politik machen. Das fรผhrt leider immer nur dazu, dass Politiker, die mehr als Wortwolken nicht fertigbringen, andere Regierungen immer nur belehren von oben herab, eine Liste mit Erwartungen formulieren und Staatsmรคnner, die ihnen nicht passen, wie Schulkinder behandeln. So nach dem Motto: Werdet erst mal richtige Demokraten, dann reden wir wieder mit euch.
An genau diese kindische Haltung in der Politik haben wir uns wieder gewรถhnt. Ihre extremste Ausprรคgung steckt in dem von den USA gern propagierten โregime changeโ, bei dem eine militรคrische Intervention gern damit begrรผndet wird, dem Land nun endlich โFreiheit und Demokratieโ zu bringen. Wie grรผndlich das schiefgeht, haben die Interventionen in Afghanistan und Irak gezeigt.
Aber so gehen die USA nur mit Lรคndern um, die sie als militรคrisch weit unterlegen einschรคtzen und in der internationalen Gemeinschaft als isoliert. Das war mit dem Ostblock nicht zu machen, denn dahinter stand immer die hochgerรผstete Sowjetunion, die auf das Sรคbelrasseln aus dem Westen immer mit gleicher Wรคhrung reagierte. Man versuchte sich gegenseitig totzurรผsten und hรคngte ein Damokles-Schwert einer atomaren Vernichtung รผber die Welt, was nicht nur im Westen, sondern auch im Osten aktive Friedensbewegungen hervorbrachte.
Erst Gorbatschow schaffte es, dieses Wettrรผsten zu beenden und die wichtigen Abrรผstungsvertrรคge auf den Weg zu bringen, auf die der heutige Kindskopf im Prรคsidentenamt der USA kraft seiner Unfรคhigkeit zum politischen Denken einfach pfeift.
Willy Brandts Ostpolitik ging ganz nรผchtern davon aus, dass man humanitรคre Erleichterungen nur erreicht, wenn man mit dem Gegenรผber redet und verhandelt. Und Matthias Platzeck hat nicht vergessen, wie es die damals ausgehandelten Grundlagenvertrรคge waren, die den Entspannungsprozess zwischen Ost und West รผberhaupt erst in Gang brachten. Und damit auch den zรคhen, aber auf Dauer erfolgreichen Gesprรคchsprozess mit den Machthabern in Moskau und Ostberlin, der dann 1975 in der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki gipfelte.
Zuweilen liest sich Platzecks streitbares Buch wie eine Ermahnung an die heute Regierenden, nicht so geschichtsvergessen zu sein und aus einem erfolgreichen Kapitel deutscher Auรenpolitik zu lernen, sich nicht mehr hinter einer wieder von Konfrontation und Aufrรผstung besessenen NATO sagen zu lassen, wie man mit Russland umgehen sollte. Ein Russland, das nach all den Versuchen, in irgendeiner Weise eine Sicherheitspartnerschaft mit NATO und EU zu bekommen, unter Putin wieder den Kurs geรคndert und seine Armee modernisiert hat.
All die Dinge, die in westeuropรคischen Zeitungen fรผr blanke Empรถrung sorgten (die Krimannektion, die Vorgรคnge in der Ostukraine, der Militรคreinsatz in Syrien) erzรคhlen davon, dass Russland sehr wohl begriffen hat, dass es in der Welt eben doch nur als ernstzunehmender Spieler akzeptiert wird, wenn es Stรคrke demonstriert. Das scheint die einzige Sprache zu sein, die im Westen verstanden wird.
Statt Gorbatschows Mahnung wirklich ernst zu nehmen, die Sowjetunion resp. Russland nach Ende der Konfrontation der beiden Blรถcke in ein neues europรคische Sicherheitssystem einzubinden, das auch die Sicherheitsinteressen Russlands berรผcksichtigt, wurde die NATO-Osterweiterung munter vorangetrieben und Russland behandelt, als gehรถrte es einfach nicht dazu. Obwohl nichts offensichtlicher ist als die Tatsache, dass Russland immer noch in Europa liegt, gleich nebenan. Man kann es sich nicht wegwรผnschen. Und wenn man es ausgrenzt, wendet es sich vielleicht China zu, was die Konflikte nicht mindert.
Und nicht nur an die simplen Gegebenheiten der Geografie erinnert Platzeck. Er erinnert auch an die lange gemeinsame Geschichte, die spรคtestens seit Peter dem Groรen allen prรคsent sein mรผsste, der sein tatsรคchlich noch rรผckstรคndiges Land in einem gewaltigen Kraftakt europรคisiert und dem Westen geรถffnet hat. Und dann ist da ja auch noch der Umgang mit der deutsch-sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, als es Deutschland war, das zwei Mal Russland รผberfiel und beim zweiten Mal fรผrchterliche Verwรผstungen und Grรคueltaten anrichtete.
Eine Geschichte, die gerade der Westen gern vergessen hat, weil man ja 1945 das Glรผck hatte, von Amerikanern, Englรคndern und Franzosen befreit worden zu sein, also die Demokratie quasi samt Marshallplan geschenkt bekommen hat. So wie in der DDR die Verantwortung fรผr das Kapitel Hitlerreich verleugnet wurde, wurde im Westen die Verantwortung fรผr den deutschen Vandalismus im Osten nur zu gern vergessen.
Man hatte sich nur allzu bequem im Kalten Krieg eingerichtet und konnte alles ostwรคrts der Elbe als โReich des Bรถsenโ verdammen. Und hรคtte das ohne Willy Brandt und seine Ostpolitik auch noch auf Jahrzehnte hinaus gemacht.
Was Willy Brandts Ostpolitik tatsรคchlich im Osten alles in Gang gebracht hat, erzรคhlt Platzeck sehr ausfรผhrlich. Denn die Charta von Helsinki stand am Anfang fast aller Bรผrgerbewegungen im Osten. Auch in der DDR war sie fรผr viele engagierte Menschen der Beginn ihres politischen Handelns, manifestierte sich vor allem in den Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die ab Anfang der 1980er Jahre immer aktiver wurden.
Und wรคhrend westwรคrts noch nach 1990 die alten dummen Witze vom โRussenโ gerissen wurden, wussten die meisten DDR-Bรผrger, dass es sehr wohl einen heftigen Unterschied gab zwischen den Machthabern in Moskau und den oft unter erbรคrmlichen Bedingungen lebenden Soldaten der Westgruppe, die in der DDR stationiert waren und denen man zuweilen begegnete.
Und als Gorbatschow seine Glasnost-Politik begann, wurde die Sowjetunion noch zu einem ganz anderen Vorbild.
Der Prozess der Deutschen Einheit war auch die groรe Hoffnung, dass ab jetzt die Konfrontation der Blรถcke zu Ende sein wรผrde, dass auch Osteuropa und Russland kรผnftig in โunser gemeinsames Haus Europaโ integriert werden wรผrden. Die Basis war gelegt. Die damals agierenden Politiker wussten, worum es ging und sie wussten auch, dass dieses in Transformation befindliche Russland nach dem Zerfall des Warschauer Vertrags eine neue Sicherheitspolitik brauchte.
Die Verhandlungsgremien auf NATO-Ebene wurden sogar geschaffen. Doch sie werden bis heute nicht genutzt. Schon gar nicht im Krisenfall, dann werden die Treffen sogar offiziell abgesagt, obwohl sie gerade dann wichtig wรคren.
Denn die zentrale Lehre aus Brandts Ostpolitik ist ja nun einmal, dass Konfrontation keine Sicherheit schafft. Das schafft nur richtige Friedenspolitik. Doch die findet derzeit in Deutschland genauso wenig statt wie in der EU und NATO. Man spricht einfach nicht โmit den Russenโ. Stattdessen hat man Sanktionen verhรคngt, die erst recht Grรคben aufreiรen, aber nicht im Ansatz die Basis fรผr das bieten, was Politiker gern โvertrauensvolle Gesprรคcheโ nennen. Gesprรคche nรคmlich, in denen man einfach akzeptiert, dass der andere so ist, wie er ist, und seine eigenen Interessen hat.
Der Westen kommt die ganze Zeit mit seinen โWertenโ um die Ecke. Aber zwischen Staaten geht es nicht um Werte. Denn wie sie regiert werden (wollen), bestimmen die Vรถlker selbst. Selbst in diesem so autoritรคren Russland, in dem ein Wladimir Putin nach der Krimbesetzung seine hรถchsten Zustimmungswerte erreichte. Denn eins ist Fakt: Alle Belehrungen und Forderungen des Westens kรถnnen die Regierungsform in Russland nicht รคndern. รbrigens genauso wenig wie in China oder Saudi-Arabien, mit denen der Westen ganz anders, nรคmlich deutlich respektvoller redet.
Das Fazit, das Matthias Platzeck zieht, ist deutlich: โDer Frieden in Europa steht heute nur auf einem Bein. Die NATO kรผmmert sich um militรคrische Stรคrke, aber nicht um politische Entspannung und um stabile und vertrauensvolle Beziehungen zu Russland, auf deren Grundlage politische Fragen gelรถst werden kรถnnen.โ
Er kommt immer wieder auf Gorbatschows dringendste Mahnung zurรผck: Es braucht eine โgerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europaโ. Die schafft man nur, wenn man miteinander redet, die Interessen der anderen respektiert und gemeinsam nach Lรถsungen sucht, die beiden Seiten mehr Sicherheit geben.
Was รผbrigens โ das betont Platzeck โ gerade Europa dringend braucht, denn auf eine USA, die zum Spielball von populistischen Prรคsidenten wird, kann es sich nicht mehr verlassen. Es muss sich um den Frieden im eigenen Haus kรผmmern. Politiker wie Willy Brandt und Egon Bahr wussten das noch. Die gegenwรคrtige politische Elite aber schweigt, hat scheinbar alles vergessen und hรถrt auch nicht auf die durchaus mahnenden Stimmen ostdeutscher Regionalpolitiker, dass man die Grรคben zu Russland nicht immer tiefer aufreiรen lassen darf, sondern mit Moskau verhandeln und handeln muss.
โMit einer Politik des alles oder nichts lรถst man keine Krisenโ, schreibt Platzeck. Und ruft dringend dazu auf, mit Russland wieder eine aktive Friedenspolitik zu betreiben. Ohne den immer gleichen, uneinlรถsbaren Forderungskatalog. Aber mit der wirklichen Absicht, in Europa ein belastbares Friedenssystem zu stiften, das endlich die neue Spirale der Eskalation beendet.
Und ins Stammbuch der aktuell verantwortlichen Politiker schreibt Matthias Platzeck: โDen ungeliebten Herrn im Kreml mit Schweigen zu รผbergehen, weil er anders denkt und anders handelt, als wir es uns wรผnschen, heiรt, der ,Kunst des Mรถglichenโ zu entsagen. Mit groรen Worten, moralischer Empรถrung und rhetorischer Maรregelung gewinnt man keine Gestaltungsmacht.โ
Da bleibt man dann nรคmlich in dieser lรคhmenden โAlternativlosigkeitโ stecken, mit der eine phantasielose Schwarz-/Weiร-Politik begrรผndet wird. Und diese Lรคhmung spรผren auch die Bรผrger der Bundesrepublik. Sie sehen keine Politiker mehr, die Groรes wagen und das scheinbar Unmรถgliche versuchen. Nur noch lauter Kleingeist, der sich in ein als unabรคnderlich Gedachtes schickt und โDienst nach Vorschriftโ macht. Das entmutigt. Und sorgt fรผr genau das Unbehagen, das Matthias Platzeck auch in den Demokratien des Westens lรคngst am Werk sieht.
Matthias Platzeck Wir brauchen eine neue Ostpolitik, Propylรคen, Berlin 2020, 22 Euro.
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