Noch so ein Buch, das genau zu passen scheint zum aktuellen Corona-Lockdown, der mindestens noch bis zum 3. Mai andauern wird, auch wenn die ewig Rastlosen jetzt schon wieder die Straßen unsicher machen. Aber viele Bücher, die eigentlich für eine Leipziger Buchmesse ohne Kontaktverbot produziert wurden, regen jetzt zum Nachdenken an. Und sie passen, weil diese Auszeit dazu animiert, über das wirklich Wichtige im Leben nachzudenken. Und das war ja das Lebensthema von Hildegard von Bingen.
Sie war nicht nur Äbtissin zweier Klöster, in denen die sinnstiftende Benediktiner-Regel „ora et labora“ gelebt wurde, sie war auch eine der produktivsten Autor/-innen ihrer Zeit. Und unter den Schriften, die ihr zugeschrieben werden, war auch das „Liber simplicis medicinae“, auch als „Physica“ bezeichnet, entstanden irgendwann zwischen 1150 und 1160, aber nur in Abschriften ab dem 14. Jahrhundert überliefert, sodass nicht unbedingt gesichert ist, dass die späteren Schriften tatsächlich identisch sind mit der Ursprungsschrift.
Natürlich stellt Ptok, ausgebildeter Allgemeinmediziner und Inhaber einer naturheilkundlichen Praxis, die nur zu berechtigte Frage: Wer sonst sollte dann der Verfasser dieser Schriften sein, die die bekannten religiösen Schriften Hildegards ergänzen? Von einem ernst zu nehmenden Kandidaten hat man noch nichts gehört.
Spannender ist eher die Frage: Wurden die natur- und heilkundlichen Schriften im Originalbestand weitergegeben oder hat jemand ergänzt, redigiert oder gar etwas gestrichen? Das ist schon schwerer zu beantworten, verkennt aber die Wirkung dieser Schriften, die als „Hildegard-Medizin“ heute wieder ihre Anhänger finden.
Oft wird gerade die Einzigartigkeit dieser begabten Ordensschwester betont, obwohl vieles darauf hindeutet, dass sie in ihren heilkundlichen Schriften vor allem das schon damals in Klöstern vorhandene Heilwissen sammelte und es möglicherweise um eigene Erfahrungen erweiterte. Vieles deutet darauf hin, dass auch volkskundliches Heilwissen eingeflossen ist in ihre „Physica“, dass wir mit ihrem Buch also den medizinischen Stand der Zeit erfahren und in gewisser Weise auch den damals neuesten Forschungsstand.
Was Anregung und Warnung zugleich ist. Denn wie wertvoll das Wissen um die Wirkweise von Kräutern, Auszügen, Umschlägen, Früchten und Gemüsen ist, belegen nicht nur viele kundige Kräuterbücher, die heute wieder erscheinen und die dazu anregen, die Pflanzen unserer direkten Umgebung wiederzuentdecken.
Längst hat auch die moderne Forschung viele der bekannten Kräuter und Pflanzen untersucht und wichtige Inhaltsstoffe festgestellt, von denen man weiß, wie wichtig sie für unseren Organismus sind. Das ganze Thema berührt sich mit unserem heutigen Nachdenken über gesunde Ernährung und den auch auch von Hildegard gewünschten Verzicht vor allem auf Schweinefleisch.
Michael Ptok hat zwar den schwergewichtigen Titel „Hausapotheke“ gewählt. Aber wer sich hineinliest, merkt, dass sich Hildegard ganz und gar nicht als „Ärztin“ verstand, sondern ihr Ansatz ein ganzheitlicher war. Viele der aufgeführten Symptome zählen zu den ganz normalen Wehwehchen, die alle kennen, die kein ausgeglichenes Leben führen, sich schlecht oder falsch ernähren, falsche Trinkgewohnheiten haben oder Stress nicht richtig verarbeiten können.
Es geht um den ganzen Menschen. Und die meisten Rezepte zielen darauf, den Körper (und auch den Geist) wieder in ein natürliches Gleichgewicht zu bringen. Was mit Hildegards Sichtweise zu tun hat, dass der Körper ein Gefäß für die Seele ist, das es zu pflegen und lebendig zu erhalten gilt.
Deswegen sind auch nicht alle ihre Ratschläge heute noch 1:1 umsetzbar. Auch Ptok nimmt sich nicht einfach die „Physica“ und übersetzt sie ins Hochdeutsche (so eine Ausgabe gibt es schon im Beuroner Kunstverlag), auch wenn das Buch mit vielen übersetzten Zitaten aus der „Physica“ gespickt ist, mit denen Ptok die Denkweise der klugen Äbtissin deutlicher macht.
Im Vorspann gibt er eine kleine Einführung in das Leben Hildegards von Bingens und erläutert auch die Grundlagen der Hildegard-Heilkunde, versucht sie auch aus heutigem Verständnis zu erklären und erzählt auch, wie er selbst dazu kam, eine wachsende Zahl Hildegardscher Rezepte nachzubereiten und in der eigenen Praxis anzuwenden.
Wobei er die notwendigen Hinweise nicht weglässt, wann sich Patienten doch lieber in eine klassische medizinische Behandlung begeben sollten. Denn die Hildegard-Medizin kann nicht alles. Oft wirkt sie deshalb, weil die Behandelten über die diversen natürlichen Heilmittel ihrem Körper tatsächlich wichtige Elemente zuführen, die im Stoffwechsel eine wesentliche Rolle spielen. Man begegnet auch manchem Kraut und manchem Rezept, das einem in anderen Kräuterapotheken schon begegnet ist. Viele dieser Kräuter und Früchte sind in einem großen Kapitel „Heilmittel von A–Z“ zu finden, angefangen bei der Akelei über Bärwurz und den bei Hildegard besonders beliebten Bertram, Krauseminze, Liebstöckel und Petersilie bis hin zu Ringelblume, Schafgarbe und Schlehe.
Ptok listet jeweils auch die Anwendungsgebiete auf und bringt die von ihm nach Hildegard entwickelten Rezepte. Wobei man staunt, wie oft die kluge Äbtissin empfiehlt, die hilfreichen Kräuter in Wein einzulegen und dann den so gewürzten Wein zu trinken, oft auch mit Honig zusammen, der ja zu Hildegards Zeit unbelasteter Naturhonig war. So auch bei der Zubereitung des Schlehen-Zimt-Nelken-Elixiers.
Wenn Hildegard alle diese Rezepte selbst ausprobiert haben sollte und im Lauf ihres 81-jährigen Lebens auch bei den aufgezählten Gebrechen eingenommen oder aufgelegt haben sollte, dann ergibt sich schon aus der schieren Menge, dass sie wohl eine sehr naturnahe, stark vegetarische Ernährung hatte, angereichert mit einem großen Kräuterwissen, das schon allein deshalb funktioniert, weil der menschliche Körper damit all jene Nährstoffe bekommt, an die er aus seiner Evolutionsgeschichte angepasst ist.
Manches wirkt dann trotzdem auf den modernen Großstädter eher befremdlich – etwa die Anwendung von Heilsteinen, die in Ptoks Buch unter den Heilmitteln auftauchen.
Im Kapitel „Ernährungskunde“ wird dann freilich noch deutlicher, wie sehr Hildegard von Bingen eine ausgewogene Ernährung als Grundlage der menschlichen Gesundheit ansah. Ptok listet die Lebensmittel dann auch noch einmal übersichtlich in einer Ernährungstabelle auf, in der er kurz erläutert, wie gut die einzelnen Produkte für Kranke und Gesunde geeignet sind. Und ganz zum Schluss bindet er die Überlegungen zu einem gesunden Leben noch einmal zusammen. Denn auch hier macht die Lehre von Wärme und Kälte der Hildegard Sinn, ihre auch tief religiös begründete Sicht auf das Gleichgewicht der Seele, den richtigen Rhythmus und das richtige Maß.
Denn Gesundheit ist ja kein medizinisch herzustellender Zustand, sondern das natürliche Wohlbefinden, wenn ein Organismus ohne Beschwerden und im austarierten Gleichgewicht seiner Funktionen ist. Und davon konnte ja auch die kluge Äbtissin noch nichts wissen, obwohl sie so ihre Vorstellungen von der Funktion von Herz und Nieren hatte. Aber wie die Körperorgane tatsächlich funktionieren und was sie leisten, hat erst die moderne Forschung erkundet.
Bis hin zu der erstaunlichen Mikrobenwelt in unserem Darm, die selbst wieder ein richtiges Gleichgewicht braucht, damit wir beschwerdefrei bleiben. Denn auch zu Hildegards Zeiten war falsche oder unzureichende Ernährung eine Hauptursache für viele Erkrankungen.
Und besonders fasziniert ja an den Schriften Hildegards heute, dass sie nicht nur „Versöhnung“ mit Gott predigte, sondern auch Versöhnungen, die heute hochaktuell sind – angefangen mit der Versöhnung mit der Natur (von der wir himmelweit entfernt sind) über die Versöhnung mit unseren Mitmenschen (na, wie sieht es da aus?) und – fast immer vergessen: der Versöhnung mit uns selbst. Denn die Wut, die viele Menschen in die Welt tragen, hat viel damit zu tun, dass sie weder mit sich noch ihrem Körper im Reinen sind, unversöhnt und unerbittlich.
Hildegards Medizin umfasst deshalb den ganzen Menschen, zielt immer auf körperliches und seelisches Wohlergehen: „Der Mensch lebt nämlich durch die Kräfte der Seele wieder auf.“
Das galt 1150 auf dem Rupertsberg. Und das gilt noch heute, auch wenn es mancher nicht mehr hört im Lärmen einer völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Welt.
Michael Ptok Die Hildegard-Hausapotheke für die ganze Familie, St. Benno Verlag, Leipzig 2020, 34,95.
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