Wir leben ja in einer Zeit, in der die Besitzstandswahrung und die Angst vor Veränderungen die Gesellschaft regelrecht lähmt. Populisten trommeln für ein Zurück in abgeschottete Provinzialität und die Barrieren zwischen den Schichten werden immer schwerer überwindbar. Ein Land aber wird erst lebendig, wenn Menschen darin wirklich Aufstiegschancen sehen und sie auch ergreifen. Und die Geschichte der deutschen Juden im 19. Jahrhundert ist dafür exemplarisch.

Im Grund packt Ekkehard Vollbach das Thema ganz ähnlich an wie Bernt Engelmann 1970 mit seinem Buch „Deutschland ohne Juden“. Denn in der Rückschau sind wir fast nur auf den Holocaust fixiert, die Vernichtungsorgie der Nationalsozialisten an Millionen Menschen, die vorher als ganz normale Mitmenschen in der Nachbarschaft wohnten, ganz normalen Berufen nachgingen, ganz normal deutsch sprachen, Schulen und Universitäten besuchten.

Sie unterschieden sich in nichts von ihren Nachbarn, vielleicht durch ihren Namen, die allerwenigsten noch durch ihre Religion. Sie sahen auch nicht anders aus als wir und hatten auch kein „gewisses Etwas“, von dem die Antisemiten immer fabulieren.

Ihre Vorfahren unterschieden sich über Jahrhunderte vor allem darin von der Mehrheitsgesellschaft, dass sie dem jüdischen Glauben anhingen. Sie hatten kein anderes Blut und schon gar keine andere Rasse. Und deswegen bekomme ich immer so ein seltsames Gefühl, wenn dann auch solche Bücher von den Juden erzählen. Da schwingt immer mit, dass wir es mit einer irgendwie anders gearteten Menschenart zu tun haben, obwohl es die ganze Zeit immer nur um Religion geht. Oder – wie in den meisten Fällen in diesem Buch – um die Religion der Vorväter.

Denn die Menschen, die Ekkehard Vollbach porträtiert, gehören einer Generation an, die mit dem frühen 19. Jahrhundert endlich so etwas wie Emanzipation erlebte. Und der Mann, der das in Deutschland umsetzte, weil es in Frankreich längst normal war, war Napoleon. Wer über den Antisemitismus im damaligen deutschen Nationalismus redet (Beispiel: Ernst Moritz Arndt), der muss das mitdenken.

Mit der Aufhebung der alten Judengesetzgebung und der Öffnung der alten Gettos und Judengassen traten hunderte Menschen, die bis dahin wie selbstverständlich diskriminiert wurden, mitten hinein in eine bürgerliche Welt, die sich in Teilen als aufgeklärt verstand, aber ihre eigenen Ressentiments gegen Menschen aus jüdischen Verhältnissen nicht eingestanden. Was übrigens auch den Herrn von Goethe in Weimar betrifft.

Und das deutsche Renommee-Bürgertum war erst recht verunsichert, weil die Großväter und Väter, Großmütter und Mütter dieser neuen Generation ganz genauso agierten, wie die Eltern aller benachteiligten Familien und Klassen: Sie gaben ihren Kindern alle Unterstützung und alle Bildung mit auf den Weg, um in der Gesellschaft möglichst erfolgreich zu werden.

Deswegen sind sämtliche Geschichten, die Ekkehard Vollbach erzählt, Aufsteigergeschichten. Und es ist nur eine kleine Auswahl, wenn man das mit der Bilanz vergleicht, die Bernt Engelmann vorgelegt hat. Diese Menschen sind aus dem Aufstieg Deutschlands vom spätfeudalen Flickenteppich zur Industrienation nicht wegzudenken.

Sie haben das Land geprägt und mit zu einer führenden Wirtschafts- und Forschungsnation gemacht. Wie heftig die Verluste für Deutschland waren, weil ab 1933 ein Großteil der klügsten Köpfe vertrieben oder ermordet wurden, hat Engelmann aufgeschrieben.

Vollbach geht im Grunde eine historische Etappe zurück, in jenes 19. Jahrhundert, in dem die Emanzipation der Juden endlich Gesetz wurde und die klugen Kinder der jüdisch-gläubigen Familien ihre Chancen ergriffen, Karriere zu machen. Wobei eben parallel auch die Öffnung des orthodoxen Judentums voranschritt – viele der Porträtierten gehörten längst einem liberalen Judentum an, viele andere wechselten in dieser Zeit auch ihre Religion, oft genauso pragmatisch wie die Christen, denn in etlichen der deutschen Kleinfürstentümer war ohne eine Taufe fast jeder attraktive Beruf versperrt.

Vollbach hat seine Porträtierten aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen ausgewählt – oft auch mit der erkennbaren Botschaft, dass diese Menschen einer stärkeren Erinnerung einfach wert sind, weil sie oft genug hinter anderen Zeitgenossen zurückstehen oder gar in ihrem Schatten verschwinden – so wie Abraham Mendelssohn Bartholdy, der Sohn des Berliner Philosophen Moses Mendelssohn und der Vater von Felix Mendelssohn Bartholdy. Ganz ähnlich ging es Dorothea Schlegel, die im Schatten ihres Ehemanns Friedrich Schlegel verschwunden war, oder Amalia Beer, Mutter des Komponisten Giacomo Meyerbeer.

Es ist eigentlich eine sehr liebevolle Auswahl, die Vollbach getroffen hat. Ein Aufmerksammachen auf Menschen, die man auch Ermöglicher nennen kann, weil sie oft erst die Entdeckungen und Erfolge anderer möglich machten oder vorbereiteten – so wie die Chemikerin Clara Haber, die für ihren Mann Fritz Haber zurückstand und sich am Ende das Leben nahm, vielleicht, weil sie Fritz Habers Rolle für den deutschen Giftgaseinsatz im 1. Weltkrieg persönlich nicht ertragen konnte. Oder man nehme den Mikrobiologen Ferdinand Julius Cohn, der für Robert Koch wie ein Wegbereiter zu dessen Entdeckungen wirkte.

Dichter kommen – wie der Titel suggeriert – eigentlich nicht vor im Buch, nur ein Maler und mindestens zwei Schriftstellerinnen. Denker auch nicht, da denkt man ja eher an Philosophen. Aber es dominieren in Wirklichkeit Forscher wie der Chemiker Adolph Frank, der Physiker Heinrich Gustav Hertz oder der Orientalist Gustav Weil.

Bei den Namen würde kein normaler Mensch denken: „Der ist doch Jude.“ Außer den Durchgeknallten, die Menschen nach ihren Taufscheinen oder der Religion ihrer Großväter beurteilen. Also (wieder) aussortieren wollen aus der Gesellschaft, weil sie in ihrer finsteren Engstirnigkeit Vorurteile hegen und pflegen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Wie sehr aber erfolgreiche Menschen mit einer jüdischen Familiengeschichte in Deutschland selbst die Wirtschaft verändert haben, erzählen in diesem Buch die Geschichten von Philipp Abraham Rosenthal (jawohl: das berühmte Porzellan), die Familie Tietz (die Kaufhausgründer) oder Levi Strauß, der nach der Auswanderung in die USA zum Erfinder der berühmtesten Hose der Welt wurde.

Natürlich überwiegt nach dem Lesen dieses Buches nicht die Trauer. Hier sind ja vor allem Menschen porträtiert, die den blutigen Wahnsinn der Nazis nicht mehr erlebten, nur das Aufkommen des elitären deutschen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts, als es vor allem Männer aus dem stockkonservativen Bürgertum waren, die ihre Frustration darüber, dass Menschen aus anderen gesellschaftlichen Gruppen erfolgreicher waren, in giftige Pamphlete schrieben.

Denn hinter dem manifesten Antisemitismus steckt immer Neid, Missgunst und jede Menge Angst vor Veränderungen. Denn wenn bislang diskriminierte Gruppen mehr Chancen zu Teilhabe und beruflichem Aufstieg bekommen, dann entsetzt das natürlich all jene, die immer wollen, dass alles so bleibt, wie es in ihrem kleinen Denkkosmos scheinbar immer gewesen war.

Und all die Menschen, die Vollbach akribisch porträtiert, haben die Welt verändert, haben Erfindungen gemacht, die Forschung vorangetrieben, neue Wirtschaftszweige entwickelt oder neue Gedanken in die Welt gebracht, die die Verschlafenen und Ewiggestrigen verunsichern bis heute.

Und so beiläufig beantwortet Vollbach damit auch eine Frage, die viel zu selten gestellt wird: Was macht Deutschland eigentlich reich, lebendig und zukunftsfähig?

Und die Antwort ist eindeutig: Es sind Chancen für kluge Köpfe. Egal, wie arm die Eltern dieser klugen Köpfe sind oder was in der Geburtsurkunde steht. Und wir sind ein Land, das gerade wieder dabei ist, Chancen zu verbauen und zu vermauern und den Mauerbauern wieder eine Macht zu geben, die für Deutschland immer desaströs war. Deutschland hat gewaltig profitiert von der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert. Das wäre eigentlich ein Lehrbeispiel dafür, wie man ein Land wieder zum Leben erweckt und seine besten Kräfte entfesselt.

So gesehen ist das Buch auch eine Mahnung an die Gegenwart, in der auch der Antisemitismus sich wieder schleichend ausbreitet. Man bekämpft diese Menschenfeindlichkeit nicht nur, weil sie in Verachtung, Diskriminierung und Schlimmeres führt, sondern weil sie ein ganzes Land in Fesseln legt und die lebendige Diskussion abtötet, ohne die ein Land seine Probleme nicht lösen kann. Um das zumindest mal kurz anzureißen.

Mancher wird überrascht sein, wen er beim Lesen in diesem Buch findet. Und mancher wird auch das Gefühl bekommen dafür, was verloren ging, als die Juden aus Deutschland vertrieben oder deportiert wurden. Es gehört auch ein gewaltiges Stück Unternehmertum dazu, das im Wort „Direktoren“ im Titel steckt, der eigentlich treffender lauten würde: „Schriftstellerinnen, Forscher, Unternehmer“. Das klingt deutlich explosiver. Und trifft den Kern. Und damit ein wenig das, was Deutschland mit dem Aufstieg der Menschenfeinde 1933 verloren ging.

Ekkehard Vollbach Dichter, Denker, Direktoren, Edition Chrismon, Leipzig 2020, 19,90 Euro.

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