In den vergangenen vier Wochen haben viele Menschen erstmals etwas erlebt, was sie so aus ihrem Leben noch nicht kannten: eine wochenlange Ausgangssperre, Lockdown auf englisch. Auch wenn sie natürlich zu wichtigen Besorgungen trotzdem raus durften. Aber einige haben dieses Abgeschottetsein als höchst belastend empfunden. Dabei gehört es für einige Mitmenschen zur Lebenserfahrung. Nancy Hünger erzählt in poetischer Verdichtung so eine Geschichte.
Es ist eine schwebende Geschichte, was schon ein wenig im Untertitel vom „unglücklichen Sprechen“ steckt, den die 1981 geborene Autorin, die in Gotha lebt, für dieses Buch ausgewählt hat. Sie verzichtet dabei auf die üblichen Instrumente auktorialen Erzählens, die die meisten Prosa-Autor/-innen schon deshalb nutzen, um in ihrer Geschichte die Fäden in der Hand zu halten. Wer sich als Erzähler distanziert, steckt (scheinbar) nicht selbst in der Geschichte. Was dann so blöde Schulfragen ergibt wie: „Was wollte uns der Autor damit sagen?“
Ohne dass dann hinterfragt wird, wo der Autor oder die Autorin denn eigentlich in der Geschichte stecken. Autoren, die so tun, als steckten sie nicht drin, lügen. Sie setzen eine scheinbar unbeteiligte Maske auf und stellen sich doof. Und die, die das nicht einmal reflektieren, greifen dann in der Regel zum Inneren Monolog, mit dem sie dann auf einmal – na hoppla! – in den Kopf ihrer Helden schlüpfen und so tun, als würden sie deren Gedanken mitschreiben können. Das sind dann oft die zähesten und unlogischsten Stellen in Romanen.
Wirklich aufheben kann man diese konstruierte Distanz nur, wenn man wirklich ganz hineinschlüpft in die Person, die man etwas erleben lässt. Das aber ist harte Arbeit. Wie kann man aus dem Erleiden heraus schreiben? Wird das dann ein Tagebuch? Aber auch das ist ja schon Reflexion und nicht glaubwürdig, schon gar nicht, wenn ein Mensch tatsächlich in tiefe seelische Nöte und Verluste gerät, wie es der Heldin in Nancy Hüngers Geschichte geht, die eigentlich keine Heldin ist, denn sie agiert ja nicht.
Sie ist völlig herausgeschleudert aus ihrem selbst gestalteten Leben. Vielleicht, weil sie wirklich eine riesige Enttäuschung in der Liebe erlebt hat, in der ein Mann eine Rolle spielt, den sie, um ihn überhaupt zu benennen, Hans nennt. Augenscheinlich nicht nur ein untreuer Gesell, sondern auch einer, der gern falsche Versprechungen macht und keinen Sinn hat für die Verletzungen, die er den Betrogenen damit zufügt.
Wobei das schon Interpretation ist. Denn natürlich neigt man als wissbegieriger Leser dazu, erfahren zu wollen, was denn nun wirklich passiert ist. Psychiater würden sich wahnsinnig freuen, wenn sie das von ihren Patient/-innen tatsächlich so logisch erzählt bekämen. Bekommen sie aber nicht, weil die Menschen, die in ihrer seelischen Not dann in stationäre Betreuung kommen, genau diese souveräne Haltung zum Erlebten und zu den Gründen ihres Leids nicht haben. Nicht mehr haben.
Die Therapie zielt ja letztlich darauf, ihnen wenigstens wieder einen Teil dieser Souveränität zurückzugeben, indem sie sich ihrem Leid und dem Weg dahin aussetzen. Das ist für viele hart genug. Und wir erfahren nicht wirklich, was die Heldin wirklich in diese Not und dieses Verlorensein gebracht hat. Wir ahnen nur, dass sie direkt aus ihren Tagen in der Klinik erzählt, in der Menschen in weißen Kitteln immer wieder auftauchen, aber eher diffus, auch wenn ihr Drängen deutlich wird, dass die Erzählerin den Grund für ihr Leiden erkundet.
Was sich in einem Text regelrecht verdichtet, weil es die ganze Not deutlich macht, denn die Ursachen für seelische Zusammenbrüche verdrängt man ja aus gutem Grund. Sie reichen tief, stellen die ganze Persönlichkeit infrage. Das Ich verkriecht sich im Schneckenhaus. Und möchte sich sogar verlieren, nicht mehr da sein.
„mein fremdes fragt nach den armen dem grund gründelt / mein seltsam unermüdlich warum ich hier sag ich weil mir / jemand im transit unabsichtlich unerwartet ein bein wegzog / so einfach ist diese geschichte auch schon zu ende bevor sie / begann …“
Da wird der Aufenthalt in der Klinik (den konkret zu benennen die Erzählerin vermeidet) natürlich zu einer diffusen Erfahrung – die des verschlossenen Raumes (in dem sich auch die Fenster nicht öffnen lassen), des völlig auf sich selbst Verwiesenseins und dieses beharrliche Drängen der weißen Kittel, sich den Bildern, Ängsten und Erinnerungen zu stellen.
Etwas, was Nancy Hünger mit plastischer, dichter Sprache gelingt, nachzuempfinden. Man schlüpft mit ihr in das Ich der Erzählerin – das meist kein Ich ist, denn das hat sich ja verloren, abgekapselt, sichergestellt – denn dieses Ich hat ja gelitten, leidet noch immer. Da möchte sie nicht dran rühren.
Das Zwingende am Ich ist aber: Es ist ja nicht wirklich ganz sicher. Es kann zutiefst verunsichert sein, wenn es von anderen infrage gestellt wird. Immerfort muss es sich behaupten, erst recht in der seelischen Not. Also sucht die Leidende alles, was sie wahrnimmt und begreift von ihrem Alltag, in einer interpunktionslosen Sprache zu umkreisen. Die Sätze schieben sich ineinander, damit auch die Aussagen. Das Gesprochene wird mehrdeutig und diffus.
Und weil Nancy Hünger Dichterin ist, kennt sie auch den dichterischen Begriff für dieses Sprechen: Schibboleth. Er kommt mehrmals vor in ihren kurzen Texten, sodass man ein wenig ins Grübeln kommt: Hat sie das nun selbst erlebt oder schafft sie es mit erstaunlicher Sprechdichte, diesen Zustand des Ausgeliefertseins nachzuempfinden?
Denn so ähnlich funktioniert ja unsere Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen in unserem Leben. Vielstimmig scheint sich unser Ich damit zu quälen, nach einem Ausgang und einer Erzählung zu suchen, die das Erlebte für uns akzeptabel machen. Denn gute Geschichten schaffen dort eine Logik in unserem Leben, wo das Erlebte eigentlich keine Logik hat. Wir erzählen uns unser Leben selbst und geben ihm damit einen Sinn. Das machen alle so.
Nur dass manche Menschen dabei nicht wirklich viel Phantasie beweisen und das Kind gleich mit dem Bade ausschütten: Was nicht passt, wird passend gemacht. Das sind meist Leute, die einen ständig mit ihren Weisheiten belehren und den Oberlehrer spielen, weil sie einfach nicht mitgekriegt haben, wie vielschichtig und unerwartet das Leben wirklich ist.
Und dann gibt es die, die aus dem Staunen nicht herauskommen über das, was ihnen ständig passiert, die auch das Seltsame und Unlogische wahrnehmen, auch wenn es sich nicht in sinnvolle Geschichten fügen lässt mit Anfang und Ende und Sinn. Manches bleibt einfach sinnlos und unbegreiflich. Und das hält der Mensch eigentlich nicht aus. Erst recht, wenn es mit tiefen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht.
Und auch das gehört zur Wahrheit: Es gibt auch genug Menschen, die nicht einmal merken, wie sie so etwas mit anderen Menschen anrichten. Wie ihr blinder Egoismus die Menschen, denen sie nahekommen, enttäuscht, verunsichert, zutiefst kränkt und verletzt.
Es könnte sein, dass so etwas hinter der Hans-Geschichte steckt.
Vielleicht auch mehr, weil eine emotionale Melodie sich mit der Mutter verbindet, die die Erzählerin in der Klinik besucht und tröstet. Aber hat sie nicht eine ähnliche Geschichte erlebt? Verweben sich da die Geschichten von Tochter und Mutter?
Aber sehr markant schafft es Nancy Hünger, dieses Sich-selbst-Fremdsein zu erfassen, wenn jemand sich derart verliert, dass er Hilfe braucht, da wieder herauszukommen.
„mein fremdes darf nach draußen so angestrengt hat es sich / und zittert vor draußen die knie sind wachsweich die / kleinen knie schlottern und wollen und wollen doch nicht …“
Natürlich ist das ein anderes Eingesperrtsein als das, was wir im Corona-Lockdown erleben. Ähnlich ist nur – wenn man sich wirklich darauf einlässt – die Konfrontation mit dem eigenen Ich, dem Fremden, das sich zu Wort meldet, wenn wir tatsächlich mal zum Stillhalten gezwungen sind und uns nicht tausenderlei Lappalien da draußen ablenken können und dürfen. Wenn wir merken, dass es in uns auch jede Menge Unausgesprochenes, Unerfülltes gibt und auch ein paar schwarze Hunde, die sich pünktlich 4 Uhr in Erinnerung bringen.
Geht die Geschichte wenigstens gut aus?
Die letzten Zeilen jedenfalls versprechen das nicht, denn sie enthalten auch das, was wir alle so fürchten: dass wir uns verlieren könnten: „nicht mehr oder noch nicht / werde ich gewesen sein / damit auch ich verschwinden kann …“
Das ist ein intensives Erzählen davon, wie man sich selbst abhandenkommen kann. Ganz undramatisch. Die Dramatik erleben eher jene, die mitbangen und hoffen, dass sie ihre geliebten Mitmenschen wenigstens halbwegs heil wieder zurückbekommen. Da merkt man erst, wie wichtig uns dieses andere Ich ist, das wir mit Worten erreichen können und das auch antworten kann: Ja, ich bin’s.
Und wenn nicht?
Das ist eine Frage, die auch weiße Kittel oft nicht beantworten können. Dichter/-innen schon eher. Die besten unter ihnen haben ein Gespür für diese seelischen Nöte, die zu uns Menschen gehören. Da nämlich, wo wir lieben und verletzlich sind. Und immerfort verletzt werden, weil im Draußen meist eher die Gefühllosen und Hartherzigen den Ton angeben. Mit den bekannten Folgen von absolutem Nichtbegreifen und großem Beleidigtsein dieser Elefanten im Porzellanladen der Wirklichkeit. Nur sehen sie das Porzellan nicht, das sie zerdeppern. Das sehen nur Menschen, die noch wissen, wie verletzlich dieses Ich ist, wenn man es nicht wappnen kann gegen die Fährnisse einer rücksichtslosen Welt.
Nancy Hünger 4 Uhr kommt der Hund, edition Azur, Dresden 2020, 19 Euro.
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