Kindheit ist ein Abenteuer. Und das meiste, was man als Knirps erlebt, versteht man erst später, wenn man selbst groß ist und Knirpse bändigen muss. Und spät versteht man auch erst, dass all diese kleinen Dramen der Kinder sämtliche Dramen der Großen vorwegnehmen. Stoff für echte Abenteuergeschichten, deren Helden noch nicht mal ahnen, dass sie Helden sind.
Dazu sind sie zu eng verwachsen mit ihrer Rolle. Alle Emotionen sind sofort da. Da braucht es keine Orchestermusik, keine wummernden Bässe und kurzen Schnitte. Kind sein ist Drama pur. Und es geht im Höllentempo von himmelhochjauchzend bis wütend wie das kleine Wusel. So wie in dieser Geschichte.
Eine der nur scheinbar so simplen Geschichten, die die schwedische Kinderbuchkünstlerin Stina Wirsén aus jener Welt erzählt, die Eltern meist als das blanke Chaos erleben und Kinder als Achterbahn mit Höllenschleifen und Jubel.
Alles ist noch intensiv. Auch die Beziehung zur Oma, wo das kleine Wusel immer wieder einige seiner schönsten Tage erlebt. Die Oma ist dann immer ganz für das Wusel da. Nur diesmal ist etwas anders: Das kleine Wusel hat Konkurrenz bekommen um die Aufmerksamkeit der Oma. Die allerwichtigste Stellung ist in höchster Gefahr: die von Omas Liebling.
Denn das geht doch nicht, dass Oma auch andere gern hat, schon gar nicht die oberdoofe Cousine, die auf einmal auch da ist und sich benimmt – ja, wie sich Wusel nun einmal benehmen, wenn sie bei der Oma sind. Sie wollen alle Aufmerksamkeit, sie wollen regelrecht in den Himmel krähen, wie stolz sie sind, dass Oma sich ganz allein um sie kümmert.
Wäre da nicht das andere Wusel.
So beginnen Bilder, die kleine Menschen von sich haben und von anderen. Und die böse Ahnung, dass man sich die allerbesten Sachen in der Welt immer teilen muss. Mit anderen. Wie schrecklich!
Auf einmal wird ein Stück unserer Wirklichkeit sichtbar, in der sehr viele einstige Wusel zu großen Menschen geworden sind, aber immmer noch beleidigt unterm Tisch hocken, weil andere bevorzugt werden. Die kriegen alles und ich nicht!
Als wären sie alle stantepede zurückgefallen in ihre Kindheit, wieder ganz und gar das verzweifelte Kind, das merkt, dass es nicht mehr (allein) im Mittelpunkt steht. Es ist eine Geschichte für Große und für Kleine. Wobei die Kleinen, denen man die Geschichte vorliest, ja noch bereit sind, sich zu wundern.
Denn das muss man ja erst lernen, dieses Teilen und Rücksichtnehmen. Auch wenn’s bitterschwerfällt. Weil es wie eine kalte Dusche ist, wo man doch das ganze Leben lang schon immer wusste, dass man ganz allein Omas Liebling ist.
Aber dieses kleine Wusel ist zwar richtig sauer, so sauer, dass es platzen könnte. Aber als die Geschichte sich dann zuspitzt, weil ja augenscheinlich auch die doofe Cousine irgendwas beweisen will, merkt das Wusel ziemlich bald, dass die eigenen Gefühle manchmal ganz schon in die Irre führen können.
Dass man so als Wusel manchmal gar nicht merkt, dass die ach so übermütige Konkurrenz auch nur ein Wusel ist. Eins, dem es auch gar nicht gutgeht. Nicht nur wegen dem vielen Teig, den die Cousine gefuttert hat. Als die völlig derangierte Cousine dann in der Wanne sitzt, kommt alles heraus aus ihr – die Tränen und die Sehnsucht nach ihrem Papa, der in London ist.
Und weil Stina Wirsén all diese Wuseligkeit und kindliche Neugier in scheinbar ganz einfache, aber ausdrucksstarke Wuselgestalten zeichnet, braucht es fast kaum Text, um mitzufühlen, wie es den kleinen Wuseln und der Wuseloma geht, die die kleinen Katastrophen ihrer Schützlinge mit Geduld erträgt.
Sie kennt das ja alles schon. Und sie macht auch kein großes Gewese. Kinder lernen beim Zuschauen. Auch das kleine Wusel, das mit großen Augen überm Wannenrand hängt und nun merkt, dass die doofe Cousine selbst voller Traurigkeit ist. Und das wohl nur überspielt hat.
Es ist genau so: So lernen Kinder Mit-Gefühl und entwickeln ein kleines Sensorium dafür, dass es anderen Kindern auch manchmal mies geht und sie ihre Traurigkeit nur verstecken, auch wenn sie laut und fröhlich sind und scheinbar den ganzen Platz einnehmen. Und dabei wollen sie wohl doch nur dasselbe: Omas ganze liebevolle Aufmerksamkeit.
Stina Wirséns Bücher sind ganz reduzierte, liebevoll gezeichnete Entdeckungsreisen in die Welt der kleinen Kinder mit ihren riesengroßen Emotionen. In jene Welt, in der wir alle mal gelernt haben, wie das ist, die Gefühle im Bauch und im Kopf irgendwie gebändigt zu kriegen. Es sind Bücher, mit denen man merkt, wie vertraut Stina Wirsén die Sicht der kleinen Wesen ist, für die alles, was passiert, noch groß und schrecklich und überwältigend ist.
Und die erst in solchen Geschichten lernen, dass sie mit ihrem Drama gar nicht allein sind, sondern die anderen Wusel in ganz ähnlichen Dauerdramen stecken. So lernt man Vorsichtigsein und Aufmerksamersein. Manchmal mit Scherben oder Tränen, manchmal auch mit so einem wärmenden Gefühl, dass man das doch nicht alles ganz alleine erlebt, sondern es auch den schrecklichen Cousinen so geht. Und dann fügt sich alles zu einem großen Glück: „Das kleine Wusel hat eine Oma. Und es hat eine Cousine. Und das ist gut so.“
Das muss man sich auch als ausgewachsenes Wusel manchmal sagen: Es ist gut so. Jetzt. Auch wenn man selbst schon Oma ist. Oder Opa. Auch das sind solche Rollen, in die man erst einmal hineinwachsen muss, auch wenn man dafür viel mehr Zeit hat als das kleine Wusel, für das alle Gefühle immer ganz neu sind. Und riesengroß und schrecklich. Aber Cousinen sind richtig praktisch, wenn es darum geht, die großen Gefühle bändigen zu lernen.
Und auch die Großen lernen was dabei, wenn sie sich ihre großen Augen für die Dramen der anderen bewahrt haben. Die, die sich das nicht bewahrt haben, lesen wohl auch keine Kinderbücher vor, sondern stehen lieber draußen und brüllen, weil sie sich immer noch zu kurz gekommen fühlen. Und dabei sind sie selbst schon Oma und Opa. Und kriegen es einfach nicht gebändigt.
Stina Wirsén Wer ist denn Omas Liebling?, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2020, 8,50 Euro.
Ein knuddeliges Einschlaf-Vorlese-Buch: Wer kann denn da nicht schlafen?
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