Im Grunde dampft der Titel schon alles ein, was es zum heutigen Journalismus, seinen Problemen und den möglichen Lösungen zu sagen gibt. Aber viele Menschen haben noch nicht wirklich verstanden, wie tief die Krise im Journalismus tatsächlich ist und was das mit der Krise der Demokratie zu tun hat. Als Dozentin am Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford hat sich Alexandra Borchardt seit Jahren mit dem Thema beschäftigt.
Sie hat an den entsprechenden Kongressen teilgenommen, hat die Studien dazu aufmerksam verfolgt und die Entwicklungen in den großen Medienhäusern – und zwar nicht nur den deutschen, sondern auch denen in Großbritannien und den USA. Denn die Krise ist ja nicht auf ein Land beschränkt.
Sie ist eng verknüpft mit dem Aufkommen der sogenannten „social media“, also Facebook, Google und Consorten. Internetplattformen, die man eigentlich mit dem deutschen Wort sozial nicht belegen kann. Denn das Soziale spielt dort keine Rolle. Dort geht es um knallhartes Geschäft. Und der Kern des Geschäfts dieser milliardenschweren Konzerne besteht darin, die Geschäftsfelder klassischer Medien zu zerstören.
Das steckt auch im Leitspruch von Facebook-Chef „Mark Zuckerberg“: „Move fast and break things.“ Mach Dinge kaputt – also vor allem klassische Geschäftsmodelle wie die Finanzierungsgrundlage klassischer Medien. Disruption nennt man das im Fachjargon. Alexandra Borchardt erzählt, wie das geht und wie das binnen knapp zehn Jahren dazu geführt hat, dass tausende Regionalzeitungen vom Markt verschwanden, die Gewinne der Zeitungsverlage sich in nichts auflösten und tausende Journalist/-innen die Redaktionen verlassen mussten.
Es war nicht die einzige Änderung, die die schiere Größe und Veränderungsmacht der Internetkonzerne in der journalistischen Arbeit erzwangen. Denn damit, dass Milliarden Menschen dazu gebracht wurden, ihr Profil in den „social media“ als ersten und einzigen Zugang zu Nachrichten zu nutzen, hat sich die klassische Gatekeeper-Rolle der Zeitungen, Magazine und Rundfunksender weitgehend aufgelöst.
Früher war es tatsächlich so, dass die Zeitung am Küchentisch der erste und meistens sehr verlässliche Zugang der Menschen zu den aktuellsten Nachrichten war (außer in Ländern wie der DDR, wo jeder wusste, dass man die wirklich verlässlichen Nachrichten dort eher im Sportteil fand). Dann übernahm teilweise das Radio diese Rolle, später das Fernsehen. Aber immer waren es Journalisten, die mit einer gewissen redaktionellen Verantwortung und Ernsthaftigkeit zusammentrugen, was sie für wichtig hielten. Und meistens war es das auch. Und meistens steckte auch eine Menge Arbeit in den guten Geschichten, Reportagen und Hintergrundberichten, die sie schrieben.
Die beste Nachricht ist eigentlich auch in Alexandra Borchardts Sicht auf die Entwicklung: Auch die so reineweg von ihren Geschäftsinteressen getriebenen Herren der großen IT-Konzerne können eigentlich nicht ohne die Arbeit echter Journalisten in echten Redaktionen funktionieren. Sie brauchen dieses journalistische Material, wenn ihre Netzwerke nicht zu reinen Gerüchteküchen und Hassschleudern werden sollen.
Was gerade die vergangenen Jahre sehr deutlich zeigten, als gerade Facebook immer wieder mit Fakenews-Kampagnen, Verschwörungsszenarien, Horrorvideos und anderem „Content“ auffiel, der über hunderte Accounts in das Netzwerk eingespeist wurde und über die Auslese-Algorithmen auch enorme Verbreitung fand, in der Regel auch sachlichere Berichterstattung völlig verdrängte.
Denn in diesen „Jahrmärkten der Eitelkeit“ wird von den Algorithmen nach oben gerankt, was Emotionen schürt, egal welche, was sofort heftige Debatten und Kampagnen auslöst – und damit hohe Aufmerksamkeit und mehr Aktivitäten erzeugt. Das ist das Umfeld, in dem sich Anzeigen bestens vermarkten lassen, jene Online-Anzeigen, auf die die klassischen Medienhäuser noch in den 1990er Jahren hofften, als klar wurde, dass das Internet künftig zur Hauptinformationsquelle der Menschen werden würde.
Es war eine berauschende Idee: Denn mit diesen klassischerweise von den alten Printmedien eingenommenen Werbegeldern hätte man problemlos gut ausgestattete Redaktionen finanzieren können und gleichzeitig irgendwann auf die teure Distribution gedruckter Zeitungen und Magazine verzichten können.
Das ging ganz gut – bis ungefähr 2004, dem Jahr, in dem Mark Zuckerberg Facebook gründete. Teilweise schon früher, denn ihre einst lukrativen Kleinanzeigenmärkte verloren die Zeitungen schon früher an neu entstehende Internetplattformen. Die vergangenen 20 Jahre zeigten schon sehr deutlich, wie sehr das einst lukrative Anzeigengeschäft auch einen gut ausgestatteten Journalismus ermöglichte.
Doch mit dem Aufkommen der „social media“ veränderte sich dann auch noch die Medienwelt: Auf einmal bekamen Millionen Menschen die Mittel in die Hand, selbst zum Sender zu werden und alles Mögliche über die Netzwerke zu verbreiten. Und zwar auch alles, was vorher in verantwortlichen Redaktionen ausgesiebt wurde, weil es entweder falsch war, rassistisch, menschenfeindlich, böse oder brutal.
Denn – und das arbeitet Alexandra Borchardt sehr deutlich heraus: Demokratie lebt zwar vom freien Wort und der freien Berichterstattung. Aber sie braucht auch den Schutz vor ungefilterten Angriffen, vor Lügen, persönlichen Angriffen und Gerüchten. Vor all dem, was die „social media“ bis heute fast ungefiltert in die Welt jagen. Was Folgen hat.
Denn wenn Menschen nicht gelernt haben, Nachrichten rational zu bewerten und seriöse Berichterstattung von Fakenews zu unterscheiden, dann gewinnen selbst Lügen und Verschwörungstheorien auf einmal unheimliche Macht, glauben immer mehr Menschen, die dieser Überwältigung jeden Tag ausgesetzt sind, dass die Welt vielleicht doch anders ist, als sie in den seriösen Medien gezeigt wird.
Und dazu kommen die massiven Kampagnen rechtsradikaler Bewegungen, die alles tun, um die Arbeit der klassischen Medien zu diskreditieren, meist mit dem alten Schlachtruf „Lügenpresse“. So etwas setzt sich in den Köpfen von Menschen fest und verstärkt vor allem das Gefühl, dass man in einer Welt lebt, in der man sich – trotz Informationsflut – immer schlechter orientieren kann.
Selbst vielen Journalisten ist nicht einmal bewusst, dass die Diskreditierung der klassischen Medien mit dem Begriff „Lügenpresse“ ein direkter Angriff auf die Demokratie ist. Nicht nur, weil damit die Informationsgrundlage zerstört wird, auf der der mündige Bürger aus Sachkenntnis mitentscheiden kann. Damit wird auch das diskreditiert, was man gern landläufig „die vierte Macht“ nennt.
Ein irreführender, missbrauchbarer Begriff, weil er Journalisten eine Macht zuschreibt, die sie nicht haben. Doch was sie können, ist: Recherchieren. Und dabei auch all die Stellen offenlegen, an denen Unternehmen, Parteien, Staatsbehörden versagen, wo Geld veruntreut und Ämter tatsächlich missbraucht werden.
Borchardt nennt als wichtiges Beispiel die groß angelegte Recherche zu den „Panama Papers“, an der auch Redakteure der „Süddeutschen Zeitung“ beteiligt waren.
Zu nennen wäre auch die Aufdeckung des Cum-ex-Skandals, an der ebenfalls mehrere Medien beteiligt waren, weil so eine Rechercheaufgabe selbst die Ressourcen einer großen Zeitung übersteigt.
Wobei Borchardt auch die Probleme kennt, die aus dem Wechselspiel der Zeitungen und Magazine mit ihren Lesern entstehen, gerade in heutigen Zeiten, wo sie alle darauf angewiesen sind, dass ihre Artikel auch in den „social media“ wahrgenommen werden. Also passt man sie nicht nur den dort üblichen Lesegewohnheiten an, sondern versucht sie auch noch den Algorithmen anzupassen, damit die Artikel überhaupt noch in der Timeline der Nutzer auftauchen.
Oft mit fatalem Ergebnis, wenn diese Algorithmen eben nicht die fundierten Recherchen unterstützen, sondern den Skandal, die Aufregung und die Mutmaßungen, die meist viel schneller aufploppen, als eine Redaktion auch nur die Quellen prüfen kann. Die Allgegenwärtigkeit der Erregungskanäle sorgt für zusätzlichen Druck in sowieso schon personell ausgedünnten Redaktionen.
Und wo große Zeitungen noch genug Leute haben, um auch mal tiefere Recherchen zu beginnen, erleben News-Redakteure bei Regionalzeitungen oft ihren Burnout, weil der Druck auf sie nie nachlässt und sie trotzdem nie das Gefühl loswerden, dass sie in dem Rennen gegen die großen Lügenschleudern nicht mithalten können.
Dabei hat gerade der Lokaljournalismus eine Aufgabe, die auch die großen Magazine und die öffentlich-rechtlichen Sender nicht ersetzen können. Denn sie sind die einzigen, die seriöse Nachrichten über all das veröffentlichen, was für die Menschen in ihrer Region wichtig ist. Und das erschöpft sich eben nicht in Straßensperrungen und Polizeimeldungen. Ganz zu schweigen davon, dass Polizeimeldungen immer nur ein winziger Teil der Geschichte sind.
Sie funktionieren schlichtweg falsch, wenn nicht später auch Reporter in die Gerichtsverhandlungen gehen, mit Betroffenen sprechen, mit Ermittlern oder auch die Folgen für die Stadtgesellschaft beleuchten. Und noch viel wichtiger sind die aufwendigen und so selten belohnten Berichte aus Stadt- und Gemeinderat, über Bürgerinitiativen, das Engagement von Vereinen und die Lage der Unternehmen vor Ort.
All das liefern „populistische“ Medien nicht. Die sind stark in Meinungsmache, aber nicht in Berichten darüber, wie die Welt in all ihrer Komplexität wirklich aussieht. Um darüber aber berichten zu können, müssen Journalisten die Büros verlassen und mit Menschen reden. Was Borchardt manchmal „die Wahrheit“ nennt, ist im Alltag der Berichterstattung oft erst einmal die Authentizität: Das, was berichtet wird, muss der vorgefundenen Realität entsprechen, alle wichtigen Fakten beinhalten und dem Leser ermöglichen, sich ein sehr realistisches Bild von den Vorgängen zu machen, egal, ob es eine Schlägerei auf der Straße ist, die Arbeit eines Samariter-Vereins oder der Skandal um verschwundene öffentliche Gelder.
Das ist nicht immer sensationell. Oft wird erst dadurch sichtbar, wie Interessen aufeinanderprallen und uralte ungelöste Probleme die Gegenwart heimsuchen. Journalisten brauchen ein Elefantengedächtnis. Das schreibt Borchardt so nicht. Man merkt schon, dass ihr die Arbeit in einer Lokalredaktion nach Jahren als Chefin vom Dienst bei der „Süddeutschen“ und als Dozentin in Oxford doch etwas fremd geworden ist.
Denn auch die Geschichten über die Medienkrise in den Medien werden meist von den großen Zeitungen dominiert, die stets unter besonderer Beobachtung durch die Kollegen stehen – man denke nur an den Verkauf der „Washington Post“ an Amazon-Gründer Jeff Bezos, die innovativen Strategien des „Guardian“ oder die mediale Katastrophe des „Spiegel“ 2018 mit der Relotius-Affäre, die offenlegte, wie der Wunsch nach „schönen Geschichten“ in die Irre führt, wenn die Fakten- und Glaubwürdigkeitskontrollen versagen.
Denn das ist der eigentlich Kern von Medien-Marken, die sich zwar auf einem „freien Markt“ behaupten müssen. Aber sie haben keine Chance, gegen die knallharten Methoden der reineweg aufs Business fokussierten Internetkonzerne zu bestehen. Sie können das Rattenrennen um die schnellste Nachricht und den größten Hype nicht gewinnen. Damit beschädigen sie in Wirklichkeit das Wichtigste, was sie von den News-Schleudern unterscheidet: ihre Glaubwürdigkeit.
Und die – das ist wohl die zweite gute Nachricht, die Alexandra Borchardt herausfiltert – wird in Zeiten von Lügen, Fakenews und Verschwörungsmythen immer wichtiger. Denn die heillos in immer neuen Informations- und Gimmick-Fluten ertrinkenden Bewohner der Gegenwart suchen immer stärker nach verlässlichen und glaubwürdigen Quellen. Zeitungen, die sich um die alte seriöse journalistische Berichterstattung bemühen, verzeichnen wachsende Leserzahlen.
Was sich nicht immer gleich in wachsende Abonnentenzahlen ummünzt. Aber der Trend ist da. Und der Schritt vom unbezahlten Mitlesen zum Abschluss eines Abonnements geht über das Wörtchen Vertrauen: Dieses Vertrauen bauen Zeitungen in jahrelanger mühsamer und verantwortlicher Arbeit auf. Deswegen war der Relotius-Skandal ja so verheerend für den „Spiegel“.
Wobei fast untergeht, dass andere, nicht so berühmte Medien, noch viel mehr Fehler gemacht haben und nun verzweifelt versuchen, den Verlust an Leser/-innen irgendwie zu stoppen.
Mit ihrem Titel greift Alexandra Borchardt ja einen berühmten Spruch von Willy Brandt auf, den dieser in seiner Regierungserklärung 1969 unterbrachte. Ein Spruch, der die Wahrnehmung von Demokratie in der (alten) Bundesrepublik durchaus veränderte. Andererseits die Demokratie selbst aber stärkte, weil er die Bürger mehr einbezog und nicht einfach nur wie brave Staatsbürger von oben herab behandelte.
Und so zielt auch der Begriff Wahrheit bei Borchardt eher auf Themen wie: mehr Transparenz, mehr Fakten und Erklärungen, mehr Recherchen, mehr Präzision, mehr Vielfalt (auch in der Redaktion, in der Berichterstattung über die Gesellschaft erst recht) und auch mehr Mutmachen. Sie nennt es zwar Hoffnung. Aber es geht ja nicht um Sonntagspredigten, sondern darum, dass Journalisten sich in einer durchaus elitären Vergangenheit meist angewöhnt haben, sehr bissig, kritisch und pessimistisch zu schreiben, statt auch über mutmachende Ansätze und kluge Lösungsvorschläge.
Was sich heutzutage geradezu in Shakespearschen Dramatisierungen austobt, die bei Lesern, Zuschauern und Zuhörern ein geradezu fatales Bild ergeben. „Vor allem Leserinnen fühlen sich abgeschreckt von einem Journalismus, in dem es nur um Gewinnen, Verlieren, Helden und gefallene Helden sowie Machtkämpfe geht und der zudem von kriegerischem Vokabular durchsetzt ist.“
Was auch die Frage impliziert: Für wen schreiben Journalisten eigentlich? Haben sie wirklich die ganze Breite der Gesellschaft im Blick oder immer nur eine kleine elitäre Gruppe „alter weißer Männer“, die nicht einmal ahnt, dass sie eine Elite ist und wie wenig ihre Welt (man denke nur an den völlig verunglückten Mittelstands-Vergleich eines Friedrich Merz) mit der Wirklichkeit der meisten Menschen zu tun hat, die wirklich wissen, wie man sich jeden Tag durchboxen muss.
Gerade im Lokaljournalismus, der – so Borchardt – eben oft genug längst auf der Intensivstation liegt – macht es sich direkt bemerkbar, wenn die Journalisten den Kontakt zu ihrem Publikum verloren haben. Oft gezwungenermaßen, weil sie der „Atemlosigkeit und Kakofonie des digitalen Kommunikationsraums“ nicht entkommen können, vom News-Druck getrieben sind und oft nicht mehr sehen, wie ihnen die eigentlich wichtigen Geschichten entgleiten.
Die Folge? Viele gestandene Redakteure verlassen ihren Job, orientieren sich um – ihr Knowhow geht verloren, die Branche wird noch atemloser.
Eine wirkliche Rettungsidee kann natürlich auch Borchardt nicht aufzeigen. Sie legt nur eine ziemlich umfassende Analyse des Ist-Zustands vor. Und sie gibt den wohl wichtigsten Ratschlag: Dass Journalisten sich von diesem digitalen Wahnsinn eigentlich abnabeln sollten. Ihre Stärke ist es, sich (wieder) als ernsthafte Aufklärer zu verstehen. Nicht nur, was die großen Skandale betrifft, sondern auch die ganz simplen politischen Vorgänge vor Ort.
Das erwarten viele Leser tatsächlich von ihnen. Manchmal etwas nachdrücklich und fordernd, weil die meisten Menschen nicht einmal ahnen, wie sich die Arbeitsbedingungen in den Zeitungen verschlechtert haben. Aber es bleibt ihr kostbarstes Gut: der tägliche Ansporn, ernsthaft und authentisch über all das zu berichten, was in einer menschlichen Gemeinschaft wirklich wichtig ist.
Wer die Serie „Medien machen in Fakenews-Zeiten“ lesen will, findet sie hier.
Alexandra Borchardt Mehr Wahrheit wagen, Dudenverlag, Berlin 2020, 18 Euro.
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