Es hat lange gedauert, im Grunde fast ein ganzes Jahrhundert, nachdem Deutschland aufgehรถrt hat, eine Kolonialmacht zu sein, bis endlich das Denken der Zeitgenossen so weit war, den Kolonialismus in der eigenen Geschichte รผberhaupt als hochproblematisch wahrzunehmen und die Spuren des kolonialen Erbes aufzuarbeiten. Die findet man selbst in den Archiven einiger Leibniz-Institute.

Die Provenienzforschung โ€“ also die Suche nach der tatsรคchlichen Herkunft der Sammlungsstรผcke in deutschen Museen โ€“ ist schon seit einigen Jahren im Gang. Ursprรผnglich war sie fokussiert auf die Ermittlung der Vorbesitzer von Sammlungsstรผcken, die vor allem in der NS-Zeit in die Sammlungen kamen. Um das Thema Kolonialerbe machten deutsche Regierungen bis in die jรผngste Vergangenheit einen riesigen Bogen, wollten diese Bรผchse am liebsten gar nicht รถffnen. Taten auch gern so, als sei das Thema mit dem Ende der Kolonialmacht Deutschland 1918 erledigt. Aber dem war nie so.

Im Gegenteil: Wer dunkle Kapitel einfach versucht wegzusperren, der macht die finsteren Geister erst recht lebendig. Der heutige deutsche Rassismus ist aufs Engste mit der kolonialen Vergangenheit verbunden. Denn beides speist sich aus derselben Wurzel: Der vermeintlichen รœberlegenheit der einstigen Kolonialherren gegenรผber den als unmรผndig, zurรผckgeblieben und primitiv empfundenen Vรถlkern โ€“ und zwar nicht nur denen im Sรผden.

Und der Unfรคhigkeit, die Haltung des โ€žรผberlegenenโ€œ weiรŸen Mannes abzulegen. In einigen der von Brogiato und Rรถschner gesammelten Aufsรคtze wird es spรผrbar, wie sehr das alte Kolonialdenken der Zeit Kaiser Wilhelms auch noch in den Plรคnen der Nationalsozialisten fortwirkte.

15 Autor/-innen haben sich in diesem neuen Band zu den Sammlungen der Leibniz-Institute mit den Spuren der Kolonialzeit in den Archiven beschรคftigt. Dass Heinz Peter Brogiato, der das Archiv des Leibniz-Instituts fรผr Lรคnderkunde in Leipzig betreut, wieder Mitherausgeber und Autor ist, hat natรผrlich damit zu tun, dass auch dieses Archiv seine Wurzeln in der Kolonialzeit hat. Exemplarisch dafรผr steht der Leipziger Verlegersohn und Afrikaforscher Hans Meyer, dessen Nachlass das Archiv bewahrt.

In seiner Zeit machte er sich auch unter Geografen einen Namen. Bereist aber hat er vor allem Gebiete, die zum deutschen Kolonialreich in Afrika gehรถrten. Legendรคr wurde er mit der Erstbesteigung des Kilimandscharo, der damals tatsรคchlich als โ€žhรถchster Berg Deutschlandsโ€œ galt. Schon das ein Begriff, der das Eigentliche verbrรคmt.

Genauso wie die spรคteren Versuche, das Gebaren der deutschen Gouverneure, Militรคrs und Geschรคftsleute in den ab 1884 spรคt zusammengerafften Kolonien zu beschรถnigen und als humaner darzustellen als das der anderen Kolonialmรคchte. Schon Meyers erste Reisen ernรผchterten ihn. Die Verhรคltnisse, die er vorfand, beschrieb er mit drastischen Worten. Aber er reiste trotzdem immer wieder ins Kilimandscharo-Gebiet und fand spรคter auch geregeltere Verhรคltnisse vor, als sich die Deutsche Kolonialmacht auch mit Gewalt etabliert hatte und nun in ihrem neuen Refugium schaltete und waltete.

Den Zwiespalt des Verlegers und Forschungsreisenden macht Brogiato recht deutlich, denn einerseits ermรถglichte der Kolonialbesitz deutschen Forschungsreisenden solche Expeditionen, andererseits war auch Meyer zeitlebens nicht vom Kolonialherrendenken frei. Wobei er sich โ€“ wie Brogiato feststellt โ€“ tatsรคchlich versuchte, auf die naturwissenschaftlichen Berichte zu beschrรคnken. Ein besessener Verfechter des Kolonialismus war er hingegen nicht. Gerade deshalb ist der Umgang mit diesen Archivbestรคnden wichtig.

Denn andere Kolonialreisende hielten sich nicht so zurรผck, sondern sammelten rรผcksichtslos auch Kultgegenstรคnde, die dann binnen weniger Jahre die deutschen Vรถlkerkundemuseen fรผllten. Und das unter meist nicht mehr nachvollziehbaren Bedingungen. Nutzten sie einfach ihre Machtstellung aus? Nahmen sie sich die Fundstรผcke mit Gewalt? Respektierten sie die Kultur der Menschen vor Ort?

Und dass sich die neue Verwaltung etablierte und die wirtschaftliche ErschlieรŸung der besetzten Territorien keineswegs bedeutete, dass sich der Umgang mit den dort lebenden Menschen verbesserte, zeigten dann die blutigen Niederschlagungen der Aufstรคnde in Namibia, ein Thema, das ausgerechnet im Kapitel โ€žDeutscher Auslandsbergbau im 19. und 20. Jahrhundertโ€œ zur Sprache kommt. Denn auch dem Deutschen Reich ging es, als es in das Wettrennen um Kolonien einstieg, zuallererst um wertvolle Rohstoffe. Auch beim Ausbeuten der Bodenschรคtze ignorierten die Deutschen die Interessen der Menschen, auf deren Land sie die Minen anlegten und Gleise verlegten.

Die blutige Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama gilt als der erste groรŸe Vรถlkermord der jรผngeren Geschichte.

Nur verschwand dieser brutale Umgang mit den Menschen in den Kolonien auch im damaligen Deutschland meist hinter geschรคftlicher Emsigkeit. Denn es lieรŸ sich was verdienen mit den Kolonien. Worรผber nicht nur die Geschichte der โ€žReichspostdampfer nach Afrikaโ€œ erzรคhlt, sondern auch die Grรผndung des Hamburgischen Zentralinstituts, das von Anfang an nicht nur alle Nachrichten รผber die (deutschen) Kolonien sammelte und dabei ein riesiges Archiv aufbaute, es war im Grunde das erste Forschungsinstitut, das auch alle verfรผgbaren Informationen zum Welthandel sammelte.

Entstanden ist daraus das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv. Was natรผrlich auch dort heute die Chance bietet, in die koloniale Vergangenheit des eigenen Archivs hinabzusteigen und dabei auch zu sehen, wie sehr das, was wir heute so flapsig Globalisierung nennen, im Grunde direkt aus dem Kolonialismus erwachsen ist.

Denn Cathrin Hermann vom Institut fรผr Zeitgeschichte geht ja nicht ohne Grund auf den โ€žKolonialismus ohne Kolonienโ€œ ein. Denn auch wenn die Kolonialmรคchte im 20. Jahrhundert allesamt ihre Kolonien aufgaben, heiรŸt das eben nicht, dass sie damit auch ihre Wirtschaftsinteressen in den Lรคndern aufgaben. Der Kolonialismus verwandelte sich. Heute besorgen riesige Konzerne diese Ausplรผnderung der Ressourcen.

Wenn wir in Deutschland von einem โ€žรถkologischen FuรŸabdruckโ€œ sprechen, der grรถรŸer ist als die Bundesrepublik, dann heiรŸt das ganz einfach, dass wir nach wie vor die Ressourcen anderer Lรคnder plรผndern, um unseren Wohlstand zu fรผttern. Das passiert nur eben nicht so offen wie in der Kolonialzeit, sondern vor allem รผber Marktmacht und Freihandelspolitik, in der stets der wirtschaftlich Stรคrkere die Bedingungen diktiert. Und auch in unserem Wettbewerbsdenken steckt bis heute eine riesige Portion kolonialer รœberheblichkeit.

Was auch damit zu tun hat, dass sich Deutschland ganze Generationen lang nicht der Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte gestellt hat. Im Gegenteil: Die Zeit der Weimarer Republik war weiterhin erfรผllt mit kolonialen Trรคumen und Phantasien. Oft geradezu gespickt mit technokratischem GrรถรŸenwahn wie im Atlantropa-Projekt, รผber das Matthias Rรถschner schreibt.

In der NS-Zeit richtete sich die koloniale Gier zwar nicht auf Afrika, dafรผr auf den Osten. โ€žVolk ohne Raumโ€œ ist ein zutiefst koloniales Projekt, das รผber die Vรถlker im Osten genauso herrisch dachte wie zuvor die deutschen Kolonialherren รผber die Menschen in Afrika.

Und diese Art Denken war in der Nachkriegszeit keineswegs verschwunden. Es dauerte tatsรคchlich bis in die 1990er Jahre, bis endlich die Diskussion รผber die deutsche Kolonialvergangenheit in Gang kam. Wenn aber so ein Gespenst in der eigenen Geschichte nie beim Namen genannt wird, dann bleibt es auch im Denken prรคsent. Der Rechtsradikalismus baut immer wieder darauf auf.

Und selbst die Frage, ob das denn in der DDR anders war, kann Andreas Butter nicht ganz so eindeutig beantworten, der sich mit dem Architekturexport der DDR beschรคftigt.

Wobei Silke Nagel und Alisher Karabev mit dem ostdeutschen Afrikaforscher Peter Sebald durchaus einen Mann portrรคtieren kรถnnen, der auch in der DDR versuchte, ein anderes Afrikabild zu vermitteln. Doch auch er kollidierte zuweilen mit den politischen Interessen der Staatsfรผhrung, die zumindest sehr eigenartige Vorstellungen vom โ€žsozialistischen Internationalismusโ€œ hatte.

Tatsรคchlich macht diese Sammlung jetzt erst einmal deutlich, was fรผr einen groรŸen und vielfรคltigen Bestand allein die Leibniz-Institute haben. Mit dem sich eben nicht nur das eher kurze deutsche Kolonialkapitel (1884 bis 1918) erhellen lieรŸe. Mit dem Frankfurter Afrikareisenden Eduard Rรผppel stellt Joachim Scholz ja auch einen Forscher vor, der schon zu Zeiten Alexander von Humboldts nach Afrika reiste. Auch er kein Einzelfall, mit seinem Nachlass aber gut dokumentiert, sodass auch untersucht werden kann, ob und wie koloniales Denken schon damals bei Forschern und Reisenden ausgeprรคgt war.

Denn hinter der Exotik, mit der damals in Reiseberichten รผber fremde Lรคnder geschrieben wurde, versteckte sich oft genug auch schon ein europazentriertes Denken, das die Lรคnder jenseits des Mittelmeeres eben nicht nur als urwรผchsig und wild beschrieb, sondern auch als rรผckstรคndig.

Und gerade die Beitrรคge zum Postkolonialismus zeigen, dass mit den Kolonien nicht auch das รผberhebliche Denken verschwand. Gerade hier gibt es erst recht Forschungsbedarf, weil es hier ans Eingemachte geht, an unsere โ€“ von Wohlstand und Wettbewerbsdenken verzerrte โ€“ Sicht auf die โ€ždritte Weltโ€œ.

Ein Begriff, der ja selbst fragwรผrdig geworden ist, weil er eine Rangfolge beschreibt, die das รœberheblichkeitsdenken der โ€žErsten Weltโ€œ noch immer bestimmt. Bis in die Politik hinein und in unserem Denken รผber Wirtschaft und Wettbewerb (und Globalisierung) erst recht. Was die Beitrรคge in diesem auch reich bebilderten Band deutlich machen, ist im Grunde ein riesiger Forschungsbedarf.

Die kolonialen Archivbestรคnde ruhten lange unberรผhrt in den hintersten Ecken der Magazine. Das hat sich geรคndert. Junge Forscher/-innen haben endlich mal neugierig hineingeschaut. Und sie haben erstaunlich viel Material gefunden, Stoff genug, ein ganz dunkles Stรผck unserer Geschichte einmal grรผndlich aufzuarbeiten.

Heinz Peter Brogiato, Matthias Rรถschner (Hrsg.) Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020, 18 Euro.

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Forschen, Reisen, Entdecken: Ein Buch voller Geschichten aus 16 Archiven der Leibniz-Gesellschaft

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