Wolfgang Schmidbauer gehört zu den bekanntesten Psychoanalytikern Deutschlands, also zu jenem Berufsstand, der mit seinen Patienten direkt über all das redet, was sie bedrückt, belastet und verunsichert. Wenn das Leben mental zur Sackgasse wird, dann landet man „auf der Couch“. Rein bildhaft gesprochen. Und eigentlich gehört auch die Bundesrepublik längst auf die Couch. Denn falsches Denken macht auch Gesellschaften krank. Ein psychoanalytischer Blick auf eine verstörte Gesellschaft.
Und damit ist nicht die Corona-Krise gemeint, die viele Deutsche jetzt einmal zum Innehalten zwingt. Denn wie es unsere Gesellschaft spaltet und zerlegt, das war ja vorher überall spürbar. Der Aufschwung der Populisten hat genau damit zu tun. Denn sie setzen auf ein Menschenbild, das unterschwellig zum Kernbestand unserer Konsumgesellschaft gehört. Es ist der eilige, harte Mensch, der schnell entscheidet und keine Zwischentöne und Pausen kennt. Ein selbstgerechter Mensch, der seine Urteile sofort fällt.
Und sie dann gnadenlos umsetzt. Es steckt eine Menge vom „homo oeconomicus“ in diesem scheinbar rationalen Menschen. Und noch mehr vom „homo consumens“, über den Wolfgang Schmidbauer schon 1972 schrieb, in einer Zeit, in der dieser Typus noch gar nicht so radikalisiert war wie heute, wo er einem völlig anderen Druck der Werbe- und Unterhaltungsindustrie ausgesetzt ist.
Das ist vielen gar nicht bewusst, wie sehr sich das Reaktionstempo mit einer rasanten Beschleunigung der Medien erhöht hat – und wie das alle Aufmerksamkeitsspannen regelrecht zerhackt hat. Ein Prozess, den die sogenannten „social media“ noch forciert haben – nicht nur bis zum Exzess, sondern bis zur Radikalisierung. Denn sie sind ja nicht auf empathische, nachdenkliche Menschen programmiert, die im einfühlsamen Gespräch versuchen, miteinander Dinge zu klären.
Sie sind auf Verkauf optimiert, auf hohe Klickraten, auf permanente Präsenz, immerwährende Interaktion. Sie machen ihre Nutzer abhängig, weil sie immerfort Forderungen und Belohnungen anbieten und den Besitzer eines Digitalgerätes geradezu zwingen, immerfort zu reagieren. Und schnell zu reagieren. Wer aber schnell reagiert – und das in einem knallharten Schema von Daumen hoch/Daumen runter –, der radikalisiert sich zwangsläufig.
Denn er kommt gar nicht mehr dazu, Nachrichten sacken zu lassen, darüber nachzudenken, verstehen zu wollen, was der andere da gesagt und gemeint hat. Während er noch nachdenkt, bedienen andere längst das Fallbeil. Deswegen entgleiten Debatten auf Facebook & Co. regelmäßig und blitzschnell. Sie befördern die Gedankenlosen, Rücksichtslosen und Gnadenlosen.
Was nicht ganz neu ist. Nur in dieser Radikalität ist es neu – und es befördert all die sogenannten „Populisten“, die ihre Kälte und Gnadenlosigkeit jetzt unter dem Label anbieten können: „Das muss man doch wohl mal sagen dürfen.“
Dabei haben sie sämtliche Foren schon zugeschüttet und sorgen durch ihre rücksichtslose Selbstgerechtigkeit dafür, dass die anderen, die Nachdenklichen, gar nicht erst zu Wort kommen.
Wolfgang Schmidbauer sieht darin aber keine neue Erscheinung, etwas, was die Menschheit so noch nicht kennt. Die Menschen kennen das längst. Denn beide Arten des Denkens sind wichtig. Tatsächlich schildert Schmidbauer sogar drei Arten des Denkens – das heiße Denken kommt noch hinzu, das ungefähr der gnadenlosen Sprechweise der Radikalen entspricht.
Wie die funktioniert, hat er schon in mehreren Büchern erläutert. Zum Beispiel 2009 in seinem Buch „Psychologie des Terrors. Warum junge Männer zu Attentätern werden“. Das ist heute noch genauso aktuell wie vor elf Jahren, denn die Botschaft ist überhaupt nicht durchgedrungen. Auch weil Politiker selbst in der Klemme stecken bzw. unter Dauerfeuer stehen: Nachdenkliche, empathische Politiker/-innen kommen kaum zu Wort. Die Bitte um Rücksicht und Bedenkzeit kommt gar nicht gut an.
Denn bevor die „social media“ den Druck noch weiter erhöhten, haben schon etliche Medien ihre Gnadenlosigkeit Jahr für Jahr erhöht. Denn wenn Geschichten die größte Empörung auslösen, dann ist das für viele Medien der Volltreffer. Man weiß in den Redaktionen, dass die schnelle, knallharte Meldung mit scharfem Urteil schneller und häufiger gelesen und kommentiert wird, als der ausgewogene journalistische Beitrag, der Politikern auch zugesteht, dass sie Kompromisse schließen müssen, Dinge nicht ad hoc lösen können und manchmal auch in einer moralischen Zwickmühle stecken.
Im Idealfall ist Politik eine Mischung aus warmem und kaltem Denken: Das kalte Denken sagt – oft mit wissenschaftlicher (wie in der Corona-Krise) oder ökonomischer Logik – was getan werden muss. Das warme Denken aber bringt die sozialen Aspekte hinein. Und die meisten Menschen haben es in ihrer Kindheit gelernt. Es ist die Fähigkeit, in Stress- und Schmerzsituationen quasi die Bremse einzulegen, sich über die eigenen Gefühle klar zu werden und sich auch in die anderen Beteiligten einzufühlen.
Im Fall des Kindes z. B. auch in Vater und Mutter. Es ist ein Denken, das völlig andere Lösungsmöglichkeiten bietet. Man kann über das Problem sprechen und damit auch den Konflikt der Gefühle zumindest benennen, wenn nicht auflösen. Und es macht dem Betroffenen deutlich, dass es nicht nur gut und böse, heiß und kalt, falsch und richtig gibt. Sondern dass das Leben im Grunde immer aus lauter Zwischentönen besteht und Gefühle sehr verwirrend sein können und sich vor allem auch nie an starren Normen orientieren.
Weshalb Schmidbauer auch immer wieder auf Sigmund Freud zurückkommt, der als Erster begriff, wie die Sprech- und Fühlverbote einer von Moral und Nützlichkeitsdenken beherrschten Gesellschaft Menschen krank machen können, die sich in diesem Korsett nicht wiederfinden können.
„Der wichtigste Feind des warmen Denkens ist die Angst“, schreibt Schmidbauer. „Angst konzentriert sich auf die Rettung aus einer Gefahr. Sie hat ihre Wucht wenig verändert, seit die Gefahren nicht mehr Kälte, Finsternis und wilde Tiere sind, sondern Scham, Schuld und Entwertung. Wenn eine Beziehung durch den Mangel an Wärme und einen stillen Rückzug kalt geworden ist, wird sie durch Eifersucht in eine Art Fieber versetzt.“
Das gilt nicht nur für Ehepaare, die sich auseinandergelebt haben. Das gilt für die ganze Gesellschaft.
Reine Geldbeziehungen sind eiskalte Beziehungen.
Und wenn dann die digitalen Schwatzbuden auch noch dafür sorgen, dass nicht mal drüber geredet werden kann, dann bekommt die ganze Gesellschaft Fieber und Wutanfälle.
Dabei hätte es gerade unsere Gesellschaft nötig, sich auf die Couch zu legen und darüber zu reden. Denn was die „social media“ anrichten ist ja nur die radikale Steigerung dessen, was den Mitgliedern der Konsumgesellschaft sowieso jeden Tag gepredigt und eingehämmert wird. Stichworte: Konkurrenzdenken, Wettbewerb, Leistungsgesellschaft.
Schmidbauer: „Aber das Problem liegt tiefer, es läuft auf eine intensive Akzentuierung von Rivalität in allen Bereichen der Gesellschaft und auf ein Schwinden der Empathie hinaus.“
Auch im Politik- und Medienbetrieb. Denn die rücksichtslosen unter den Medienmachern haben die Berichterstattung über Politik längst in ein modernes Abbild des römischen Zirkus verwandelt. Weil ihre Zuschauer darauf natürlich sofort reagieren. Denn hier werden alle schnellen Emotionen von Wut bis Zorn geschürt. Das ist keine Erfindung der AfD. Die hat sich das nur abgeguckt. Hier wird nicht gewartet, bis etwas erklärt und sachlich diskutiert wurde. Die Wut ist sofort auf 180. Der „Delinquent“ wird gar nicht erst angehört, sondern gleich verurteilt.
Was bei Schmidbauer dann einen sehr lehrreichen Ausflug in die Justiz ergibt, deren Wert man erst erkennt, wenn man die ganzen Rituale zur Versachlichung des Verbrechens versteht. Denn gerade weil die Rituale vor Gericht die Behandlung eines Falles entschleunigen und die Tatbestände radikal auf den Straftatbestand reduzieren, nehmen sie die heiße Emotion aus diesen Prozessen. Aus dem einst wilden Lynchmord der Vergangenheit wird ein Prozess, in dem ein Angeklagter das Recht hat, angehört zu werden, mildernde Umstände vorzubringen und am Ende „ohne Ansehen der Person“ ganz sachlich nach Gesetzeslage geurteilt wird. Im Idealfall natürlich.
Abweichungen sind immer möglich. Aber die Grundfunktion ist wichtig – und befriedet tatsächlich unsere Gesellschaft, auch wenn sie am Ende einen Schuldigen festmacht. Das ist Kaltes Denken – das aber an dieser Stelle wichtig ist, wie Schmidbauer betont. Es gibt einige gesellschaftliche Bereiche, die gerade deshalb friedensstiftend wirken, weil hier ein durch Regelwerk bestimmtes Kaltes Denken eingeführt wurde.
Die Demokratie mit ihren langen Aushandlungsprozessen ist hingehen typisch für Warmes Denken. Hier entscheidet kein einsamer Diktator kurzerhand per Dekret, was richtig zu sein hat und was falsch. Sondern auch Minderheiten und Randgruppen kommen zu Wort. Die Demokratie zwingt geradezu dazu, dass auch die Machtlosen gehört werden und auf ihre Interessen wenigstens ein bisschen eingegangen wird.
Natürlich kommt Schmidbauer auch auf die Macht zu sprechen, um die sich ja bekanntlich auch in der Demokratie vor allem Männer prügeln, denen man lieber nicht im Dunkeln begegnen möchte. Aber man versteht Macht nicht, wenn man die Angst in den Menschen (und Männern) nicht versteht. Denn dass diese Männer so sind, hat einen psychologischen Grund: „Das ,Streben nach Macht‘, das Alfred Adler wichtiger gefunden hat als die Libido, wurzelt im Sicherheitsbedürfnis und damit in der Angstabwehr. Wenn ich Macht ausübe, bin ich vor der Ohnmacht sicher.“
Dumm nur, dass solche Machtkonstellationen dazu neigen, zu entgleisen. Die Situation radikalisiert sich. Denn all diese Männer, die sich ihre eigentlichen Ängste (oft sind es sogar nur Ängste des Verlassenwerdens und Nicht-mehr-Geliebtwerdens) nicht eingestehen, neigen nicht nur dazu, alle, die ihnen widersprechen, zu Feinden zu machen. Sie bewaffnen sich auch und lassen Situationen eskalieren. In der Ehe kommt es dann zu Gewalt, in Gesellschaften zu Krieg und Bürgerkrieg. Diese Ängstlichen wählen dann nicht nur extremistische Parteien, sie forcieren auch die Spaltung der Gesellschaft. Ein friedliches Miteinander hat keinen Platz in ihrem Denken.
„Extremisten aller Lager teilen die Welt in zwei Hälften, eine gute, eine böse, sehen sich selbst als Kämpfer für das Gute und sind überzeugt, dass sie genau wissen und schnell entscheiden können, was das Böse ist, was getan werden müsste, um es aus der Welt zu schaffen. In diesen Spaltungen hat das warme Denken keinen Platz, denn der zögernde, um Einfühlung ringende Freund wird ebenso bekämpft wie der erklärte Feind. In einer auf den Kampf um Macht reduzierten Welt ist für Empathie und Differenzierung kein Raum. Populismus lebt vom Ritual der Flucht in eine Masse hinein, die sich unaufhalt- und unzerstörbar auf dem richtigen Weg fühlt.“
Nur halt mit Folgen, die man ohne Vorausdenken und ein bisschen Zeit zum Nachdenken nicht begreift. Denn die schnellen, kalten Lösungen führen in der Regel zu neuen und meist viel schlimmeren Problemen. Eben weil sie weder die betroffenen Menschen mitdenken noch die vielen nachdenklichen Alternativen, zu denen der Mensch fähig ist, wenn er nur kühlen Kopf bewahrt.
Das ist hochaktuell. Denn wenn Medien so sind, wie Schmidbauer sie schildert (und viele sind es leider), dann halten diese Medien immerfort einen enormen Druck aufrecht, schnelle und kalte Entscheidungen zu fordern von Politikern, die dem Druck oft nicht gewachsen sind.
Solche Schnell-Entscheidungen aber sind katastrophal: „In einer Polemik zwischen dem spaltenden Konzept, das nur richtig oder falsch kennt, und einem integrierenden, das versucht, bedeutsame Faktoren zu gewichten und Entwicklungen zuzulassen, ist die Spaltung so lange überlegen, wie sie ihre destruktiven Folgen verbergen kann.“
Aber dann ist es in der Regel zu spät. Dann ist meist das zerstört, was ein konstruktives Miteinander erst möglich macht. Das wissen die meisten aus ihren Liebes- und Eheerfahrungen, aber auch aus zerbrochenen Freundschaften und vom Arbeitsplatz. Und viele sind auch zu Recht ratlos damit, weil sie sich unverschuldet in solchen Situationen glauben und es manchmal auch sind. Denn es muss tatsächlich gelernt werden, wie man positiv miteinander kommuniziert, wie man sich in andere einfühlen oder zumindest verstehen kann, warum sich der oder die Andere in der Situation nicht wohl fühlen.
Das trifft auf die ganz persönliche Ebene genauso zu wie auf die gesellschaftliche, die ja ihrerseits durch den Dauerdruck des „Wachstums“ regelrecht besinnungslos ist. Denn es muss ja permanent mehr produziert werden, damit immer mehr konsumiert werden kann, um im Wettbewerb immer mehr Marktanteile zu bekommen, wofür die Menschen dann immer schneller und „effizienter“ agieren müssen mit dem Gefühl, immer mehr Konkurrenz und Rechtfertigungsdruck zu bekommen, weil bei dieser bis zum Anschlag überreizten Effizienz kein Platz mehr für Versagen, Schwäche und Fehler ist. Da wird der Mensch selbst zum Produkt – und wird (bei Fehlerhaftigkeit) – auch so behandelt.
Das alles hat Folgen.
Und Schmidbauer wundert sich gar nicht, dass mit dem Aufkommen der „social media“ der Populismus in allen Ländern rasanten Zulauf bekommen hat. Denn die setzen genau da an, wo der Mensch sich vorher noch zurückziehen konnte in Räume des Nachdenkens und des Mal-sacken-Lassens. Jetzt aber muss auch hier noch immerfort agiert und reagiert werden. Und immer mehr Menschen landen völlig ausgepowert und ausgebrannt auf der Couch des Psychoanalytikers, der mittlerweile selbst unter Beschuss steht, weil er für etwas kämpft, was im rationalen und kalten Denken einer durchökonomisierten Gesellschaft keinen Platz mehr hat: Das Verständnis für den leidenden, in seiner Not gefangenen Menschen.
Ein Buch, das vieles begreifbar macht von dem, was unsere Gesellschaft derart aus dem Lot gebracht hat. Und das auch ahnen lässt, dass wir sehr vieles werden ändern müssen, damit uns der Laden nicht – eiskalt – um die Ohren fliegt.
Wolfgang Schmidbauer Kaltes Denken, Warmes Denken, kursbuch.edition, Hamburg 2020, 20 Euro.
Der gesteuerte Mensch: Gottfried Böhmes vehemente Streitschrift gegen die Überwältigung unserer Schulen durch die Gier der Digitalkonzerne
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