Da nun viele öffentliche Einrichtungen aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen geschlossen sind, dürften viele Leipziger ein bisschen mehr Zeit dafür haben, sich mit einem Tässchen Tee und einem frischen Buch in den Lesesessel zu setzen. Denn auch wenn die Leipziger Buchmesse ausfiel, haben die Verlage wieder Berge an spannenden Frühjahrspublikationen vorgelegt. Manche entführen – wie dieses Buch – in eine Zeit, die aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis zu verschwinden droht. Das wäre tragisch.
Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, kennen auch „gelernte DDR-Bürger“ fast nur aus plakativen Darstellungen in Schulbüchern und – wenn sie viel gelesen haben – aus heftig diskutierten Büchern wie Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“ oder „Der Wundertäter“ (3 Bände).
Die thematisierten zwar, dass der „sozialistische Frühling auf dem Dorf“ ganz und gar nicht so geradlinig und konfliktfrei verlief, wie es die SED-Geschichtsschreibung behauptete. Aber auch Strittmatter wagte es nicht, die „Kollektivierung der Landwirtschaft“ aus der Sicht eines Bauern zu erzählen, der mit Abgabesoll und steuerlicher Erpressung dazu gezwungen wurde, den Hof aufzugeben.
Zu den Menschen, die in den 1950er Jahren die DDR zu Millionen verließen, gehörten auch viele Bauern. Und zu ihnen gehörte auch Rudolf Wallrabe aus Birmenitz, heute einem Ortsteil von Lommatzsch. 1956 verließ er, völlig demotiviert von den Schikanen, die ihm den Betrieb des 43-Hektar-Betriebes unmöglich gemacht hatten, die DDR Richtung Westberlin.
Und es ist eigentlich ein Glücksfall der Geschichte, dass er sich gleich nach seiner Flucht hinsetzte und aufschrieb, wie es zu dieser Flucht gekommen war, wie alles noch in den letzten Tagen des Nazi-Reiches begann und 1953 – mit dem 17. Juni – noch einmal in ein friedliches Fahrwasser zu kommen schien, und wie dann doch die Amtswalter im Kreis alles daran setzten, die verbliebenen selbstständigen Bauern zum Aufgeben zu zwingen.
Um das in den historischen Kontext einzuordnen, hat Jens Schöne ein einführendes Kapitel geschrieben, in dem er die politischen Entscheidungen in Moskau und Ostberlin beleuchtet. Denn die Kollektivierung der Landwirtschaft nahm ja erst 1952 richtig Fahrt auf, kurz nachdem Stalins Angebot an den Westen, über eine mögliche deutsche Wiedervereinigung zu verhandeln, abgelehnt worden war.
Die Ablehnung nutzte Stalin, um den SED-Funktionären in Berlin das Signal zu geben, dass sie jetzt an die Vergesellschaftung der Landwirtschaftsbetriebe gehen könnten. Das Feigenblatt einer freien Bauernschaft wurde nicht mehr gebraucht.
Schöne schildert die Methoden, die die Bauern dazu bringen sollten, „freiwillig“ in die Produktionsgenossenschaften zu gehen, zeigt aber auch, dass es durchaus von der Handlungsweise der örtlichen Funktionsträger abhing, wie rabiat dabei vorgegangen wurde. Er entlarvt die Geschichte von den Bauerndelegationen, die in Berlin regelrecht darum gebettelt haben sollen, Genossenschaften gründen zu dürfen. Und er erzählt von den Schikanen, mit denen selbstständigen Bauern das Wirtschaften immer mehr erschwert wurde.
Alles Methoden, die Rudolf Wallrabe dann ab 1952 kennenlernte. In seiner Geschichte verfremdet er seine Erlebnisse als „Steinerts Geschichte“, indem er quasi ein Pseudonym annahm. Denn kurze Zeit nach seiner Flucht kehrte er in den Osten zurück, wurde so auch für seinen Neffen Wolfram Männel zu einer prägenden Gestalt, auch wenn diese Familiengeschichte bis weit nach der Wiedervereinigung ins Hintertreffen geriet.
Erst als eine Enkelin von Rudolf Wallrabe sich darum bemühte, dessen Erinnerungen aus der Handschrift in ein digitales Manuskript zu verwandeln, wurde die Geschichte auch für die nachfolgenden Generationen spannend. Erst recht, als der Physiker Wolfram Männel dann seinen Ruhestand dazu nutzte, für das Manuskript einen richtigen Verlag zu suchen, weil ihm klar war, dass diese Geschichte weit über die eigene Familienerzählung hinausgeht.
Vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur bekam er sofort positives Feedback. Die Historikerin Nancy Aris ist die Stellvertreterin des Landesbeauftragten und hat schon mehrere Bände in dieser eindrucksvollen Buchreihe, die in der Evangelischen Verlagsanstalt erscheint, betreut. Band um Band macht immer neue Facetten der DDR-Geschichte sichtbar. Was so mit der Zeit entsteht, ist tatsächlich eine Art fundierter DDR-Geschichte, auch wenn natürlich thematisch die Widerständigkeit dominiert.
Aber gerade das LPG-Thema zeigt, wie viel auch in der Geschichte der ländlichen Räume noch aufzuarbeiten bleibt. Denn mit dem massiven Druck auf die Bauern wurden auch dörfliche Wirtschafts- und Eigentumsstrukturen zerstört. Und auch das Misstrauen in die SED-Machtstrukturen hat sich dadurch verfestigt. Ganz zu schweigen vom Verlust wertvoller Bausubstanz, denn der Erhalt der alten Bauernhöfe stand ganz und gar nicht auf der Agenda der neu entstehenden LPGn. Scheunen und Wohngebäude verfielen. Auch der Wallrabe-Hof ist verschwunden, auch wenn ein Teil der Bausubstanz nach der Deutschen Einheit zum Kern einer neuen Wohnanlage wurde.
Aber Wallrabe schildert ja auch, wie mit der staatlich durchgedrückten Vergesellschaftung das Misstrauen einzog ins Dorf. Nach seiner Rückkehr jedenfalls kehrte Rudolf Wallrabe nicht zurück in den Beruf eines Landwirts. Und auch seine nächsten Angehörigen blieben nicht in Birmenitz. Da das aber auf die meisten Bauern zutrifft, die in den 1950er Jahren enteignet wurden und das Land verließen, war ihr Teil der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte bislang völlig unterrepräsentiert.
Obwohl gerade diese Erlebnisse zeigen, wie falsch letztlich das ökonomische Denken in der DDR-Spitze war, wo man bis 1989 stur daran festhielt, die komplette Wirtschaft des Landes über zentral vorgegebene Planzahlen zu steuern.
Was nicht nur zu einer systematischen Trickserei in allen Wirtschaftszweigen führte, sondern auch zur völligen Demotivation der Betroffenen. Und es führte zu jener Schwerfälligkeit der gesamten Wirtschaft, die letztlich den Verlust jeglicher Wettbewerbsfähigkeit bedingte.
Rudolf Wallrabe schildert, wie diese zentralen Normvorgaben im Grunde binnen eines Jahres dazu führten, dass er auf Wetterunbilden und Ernteausfälle nicht mehr reagieren konnte, in Soll-Schuld geriet und damit immer weiter in die Handlungsunfähigkeit hineingetrieben wurde.
Man ahnt nur, wie tief verletzt er als Mensch gewesen sein muss, erst recht nach dem frühen Tod seiner Frau.
Ein zweiter Glücksfall ist, dass auch sein Vater Oskar Wallrabe zumindest bis 1951 Tagebuch führte, ein zutiefst konservativer Mensch, der der neuen Macht noch viel kritischer gegenüberstand als sein Sohn. In seinem Tagebuch spiegelt er einiges von dem, was sein Sohn als Hofinhaber erlebte, machte sich auch Gedanken über die politischen Folgen. Auszüge aus seinem Tagebuch ergänzen die Aufzeichnungen seines Sohnes, sodass der Leser/die Leserin ein sehr vielschichtiges Bild von dem bekommt, was Anfang der 1950er Jahre in diesem kleinen Dorf Birmenitz in der Lommatzscher Pflege geschah.
Ein kleines Interview von Nancy Aris mit dem Herausgeber Wolfram Männel beleuchtet dann auch noch ein wenig die spätere Familiengeschichte der Wallrabes und den Umgang der Familie mit den Aufzeichnungen Rudolf Wallrabes. Letztlich fand der Physiker im Familienkreis die Zustimmung, den Text zu veröffentlichen. Und mit den fundierten Zugaben ist es ein Buch geworden, das sehr lebendig einführt in dieses sehr spezielle DDR-Kapitel, von dem in Ost-Lesebüchern immer nur die parteiliche Seite erzählt wurde, nie das Drama der Betroffen. Hier hat man es vor sich, auch wenn Rudolf Wallrabe seine Erlebnisse vorsichtshalber unter einem anderen Namen erzählte, wohl aus der begründeten Furcht, dass ihm aus so viel Offenherzigkeit im Osten immer ein Strick hätte gedreht werden können.
Nancy Aris, Wolfram Männel (Hrsg.) Als der Sozialismus aufs Dorf kam, Evangelische Verlagsanstalt,Leipzig 2020, 12 Euro.
Druckstellen: Die Lebensgeschichte des Dresdner Künstlers Jürgen Gottschalk, um Interviews und Dokumente erweitert
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