Seit einiger Zeit sind Pilgerwege ja wieder in Mode. Besonders seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ (2006), in dem Kerkeling seine Erlebnisse auf dem Jakobspilgerweg beschreibt. Schon vorher war der Jakobsweg der bekannteste aller Pilgerwege. Seitdem ist er noch viel überlaufener. Einkehr und die Ruhe zum Sichselberfinden findet man dort kaum noch. Deswegen wollte auch Eberhard Grüneberg von Anfang an einen der nicht so bekannten Pilgerwege laufen: die Via Romea.
Also ein richtiger Rom-Weg. Auf dem zogen wahrscheinlich im Mittelalter viele Pilger, die nach Rom wollten. Unter anderem auch Martin Luther auf seiner Romreise im Jahr 1510. Es ist also kein Zufall, wenn Eberhard Grünberg unterwegs auch auf Spuren Martin Luthers trifft. Offiziell geht die heute ausgewiesene Via Romea auf die Reise des Abtes Albert von Stade im Jahre 1236 von Stade über den Harz, Thüringen, durch Bayern über den Brenner nach Italien zurück.
Bis Rom sind das rund 2.200 Kilometer. Wer damals loslief, wusste, dass er etliche Monate unterwegs sein würde, und da man auch zu Fuß zurückkehrte, wurde schnell mal ein Jahr daraus. Und unterwegs war man darauf angewiesen, in Klöstern und Pilgerherbergen unterzukommen. Man war also auf die Barmherzigkeit der Gastgeber angewiesen.
Dass die Pilgerreise Alberts von Stade im Jahr 2007 so akribisch erforscht werden konnte, liegt natürlich daran, dass er seine Reise genau dokumentierte. Darauf konnte der Verein Romweg – Abt Albert von Stade e. V. seine Arbeit aufbauen, konnte Partner in Italien finden und ab 2014 den Weg mit Schildern ausstatten und Pilgerunterkünfte organisieren.
Aber auf Albert von Stades Spuren wollte der 1955 geborene Pfarrer Eberhard Grüneberg nicht eigentlich wandern. Bis 2017 war er Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland. Und eigentlich wollte er schon vor seinem Ruhestand Richtung Süden pilgern. Aber das verhinderte seine Arbeit. Nie waren die drei Monate drin, in denen er sich von seiner kräftezehrenden Arbeit tatsächlich einmal loseisen konnte.
Sogar einen Herzinfarkt riskierte er, weil er sich der Mühle der Tagesgeschäfte nicht entziehen konnte. Letztlich kam der Ruhestand, ohne dass er gepilgert war, also nahm er es sich für den Übergang in den Ruhestand vor und erlebte, wie auf einmal sein Körper streikte und glattweg verhinderte, dass er loszog. Er wollte zwar pilgern – aber er hatte sich augenscheinlich der Angst vor diesem Weg und dem Aufsichalleingestelltsein nicht gestellt. Zumindest interpretiert er die Symptome so, die ihn im ersten Ruhestandsjahr davon abhielten, loszuziehen.
So machte er sich erst im Mai 2018 auf den Weg zu Franz von Assisi. Denn das ist der Franziskus aus dem Titel, zu dem er wirklich wollte. Rom war nicht sein Ziel. Und das hat mit Elisabeth von Thüringen zu tun, deren 800. Geburtstag in Grünebergs Heimatort Eisenach 2007 gefeiert wurde. Und dabei wurde auch die intensive Beziehung Elisabeths zu den Franziskanern gewürdigt, die schon kurz nach der Gründung des Franziskanerordens in Assisi auch in Eisenach auftauchten und Elisabeth zu ihrer legendären Armenfürsorge animierten.
Ein Thema, das auch Grüneberg in der diakonischen Arbeit beschäftigt hatte. Und das wollte er mit seiner Pilgerschaft nach Assisi einfach verbinden und dabei auch den Übergang in sein Leben nach der Arbeit regelrecht erlaufen. Denn wenn solche Pilgerwege für etwas stehen, dann ja für die intensive Begegnung mit dem eigenen Ich, den eigenen Wünschen und der Beziehung zum Glauben. Das bringt selbst Ungläubige zum Pilgern.
Einigen dieser Menschen, die aus der Überforderung des Jobs ausbrechen, um auf dem Pilgerweg wieder zu sich selbst zu finden, begegnet Güneberg, der seinen Pilgerweg schön übersichtlich in Tagesabschnitten und Wochenetappen schildert, von den Herbergen erzählt, die er vorfand, der Verpflegung und den Reaktionen seines Körpers auf die Anstrengungen des Laufens.
Am Ende stellt er zwar für sich fest, dass er diese 1.368 Kilometer so nicht noch einmal erlaufen wird. Einmal ist ihm genug. Aber gerade auf dem italienischen Teil seines Weges haben ihn einige der in der Regel ehrenamtlichen Gastgeber voller Begeisterung eingeladen, doch irgendwann auch mit seiner Frau wiederzukommen. Von der wir den herrlichen Namen Diotima erfahren. Und auch gleich noch, wie Grüneberg seine Diotima kennenlernte. Und es hat tatsächlich mit seiner frühen Begeisterung für Hölderlin und dessen Roman „Hyperion“ und die Gedichte an Diotima zu tun, in denen der bettelarme Hölderlin seine Liebe zu Susette Gontard verarbeitet hat.
Dass Grüneberg von der Via Romea letztlich auf den Franziskusweg kommt, hat natürlich damit zu tun, dass die meisten Pilgerwege nun einmal nach Rom führen. Es sind die uralten Reiserouten, auf denen die Menschen des Mittelalters ganz selbstverständlich unterwegs waren. Da berührten sich die damaligen Reiserouten, die später zu Pilgerrouten wurden. Ab Camaldoli ist Grüneberg dann tatsächlich auf dem Franziskuspilgerweg unterwegs. Und wahrscheinlich erzählt er die Geschichte mit seiner Herzoperation auch nicht zufällig genau hier, wo er die Einsiedelei vorfindet, wo Franz von Assisi eine Weile gelebt hat. Ab jetzt ist er auf den Spuren des Mannes, dessentwegen er ja losgewandert ist, ohne zu wissen, ob er tatsächlich so weit kommt.
Dass ihn auch die nicht ganz beiläufige Frage beschäftigt, ob das Ziel wichtiger ist oder der Weg dahin, gehört nun einmal zum Pilgern, das ja gleich mehrere Effekte mit sich bringt: Der Pilger ist tatsächlich für Wochen und Monaten völlig herausgelöst aus seinem gewohnten Leben. Die täglichen Wanderetappen geben den Lebensrhythmus vor. Der Körper passt sich dem größeren Gehpensum an. Und er verändert sich.
Bei Grüneberg zum Positiven, wie er feststellt. Braucht er auf den ersten Etappen, die ihn durch Thüringen und Bayern führen, noch Schmerztabletten, weil Beine und Rücken schmerzen, fällt ihm das Laufen mit der Zeit immer leichter, kann er auch die Wanderung genießen, bei der er (trotz einiger ernüchternder Erlebnisse) viele freundliche und offenherzige Menschen kennenlernt, Gastgeber wie Mitwandernde.
Denn auf so einem Weg muss man sich ja nicht mehr beweisen. Jeder weiß, dass einer hier unterwegs ist, um in Gleichklang mit sich und seinem Leben zu kommen. Deswegen überrascht auch nicht, dass Eberhard Grüneberg bei der Ankunft in Assisi auch keineswegs in Jubel ausbricht. Er sagt zwar, dass er dafür nicht der Typ ist.
Aber man hat ihn da ja schon unterwegs erlebt und gemerkt, wie sehr es ihn schon ausfüllte, dass er einfach beschwerdefrei und ohne große Probleme (bis auf ein paar neugierige Kühe und ein paar Schlangen) diesen durchaus anspruchsvollen Weg bewältigt hat, der nicht nur in den Alpen, sondern auch in Italien selbst und gerade auf der letzten Etappe in der Toskana einige herausfordernde Bergabschnitte bereithielt. Wie aber bewältigt man Berge? Eberhard Grüneberg geht es langsam an, teilt sich die Etappen so ein, dass er sie gut bewältigen kann, gönnt sich Pausen und wird unterwegs auch gut verpflegt.
Der Pilgerweg wird zum Lebensweg. Am Ende steht für ihn tatsächlich die Erkenntnis, dass unser Körper mit uns kommuniziert, dass „weiche Knie“ und „Magendrücken“ und die im Nacken sitzende Angst eben nicht nur Bilder sind für starke Gefühle, sondern auch Zeichen, wo wir gegen die Warnsignale unseres Körpers anleben. Oder die Botschaften unseres Ichs einfach nicht erst nehmen.
Zwar zieht Grüneberg nicht so einen großen Bogen – aber das hat trotzdem mit unseren sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ zu tun. Wir leben oft gegen unsere innigsten Bedürfnisse an, hören nicht auf unser Herz, unseren Bauch und unsere „innere Stimme“. Wir sind nicht im Einklang mit uns selbst. Und das hat auch mit all der Panik und der Wut zu tun, die unsere westlichen Gesellschaften heute so erschüttern. Die meisten Menschen spüren sehr wohl, dass da etwas nicht stimmt, dass sie gegen ihre eigenen tiefsten Gefühle leben.
Aber sie suchen den Ausweg eben nicht, indem sie – wie Eberhard Grüneberg – losziehen und beim Erfahren ganz realer Wege über Stock und Stein, Asphalt und Kies zu sich selbst finden, zu jener inneren Ruhe, über die dann die Eisenacher staunten, als Grüneberg wieder zurückkehrte. Natürlich spürt man das, wenn ein Mensch in Einklang mit sich ist. Oder eben – wie es so schön heißt – „außer sich“.
Unsere Sprache ist nicht nur bildhaft, sondern sehr genau.
Ob ihm der „Brückenschlag zwischen Elisabeth und Franz“ gelungen ist, weiß Grüneberg am Ende zwar nicht zu sagen. Aber um so eine Symbolik ging es ihm wohl auch nicht wirklich. Denn die beiden Heiligen stehen ja auch für eine unverstellte Beziehung zu uns selbst, zu dem, was wir wirklich brauchen (Armutsgelübde) und zu unserer Mitwelt, der wir offen und neugierig begegnen können, so wie es Grüneberg getan hat. Oder verbissen und immer im Widerspruch, wie es heute viele Menschen tun, die ihr Glück und ihren Frieden nicht bei sich selbst suchen, sondern alle Schuld immer nur bei anderen.
Es kann also sein, dass die Pilgerwege immer mehr Zuspruch finden, weil es auch immer mehr Menschen gibt, die wissen, dass man aus dem Irrsinn des Alltag tatsächlich aussteigen muss, wenn man sich selbst wiederfinden will.
Und die Route, die Eberhard Grüneberg gelaufen ist, ist ganz bestimmt eine der schönsten, die man dabei wählen kann. Und das eigentliche Ziel muss nicht einmal Rom oder Assisi heißen. Denn das Wichtigste ist der Weg, der Mut zum Aussteigen. Und das ist ein großer Mut. Denn die größte Angst der Gegenwart ist ja: Was passiert, wenn ich aussteige aus dem Hamsterrad?
Aber das muss sich jeder selbst beantworten.
Eberhard Grüneberg Zu Fuß zu Franziskus, Wartburg Verlag, Weimar 2020, 16 Euro.
Der Leipziger OBM-Wahlkampf in Interviews, Analyse und mit Erfurter Begleitmusik
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