Im Januar jรคhrte sich der bis heute ungeklรคrte Tod von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeiarrestzelle zum 15. Mal, ein Fall, der auch Juristen bewegt. Erst recht, nachdem ein neues Brandgutachten 2014 zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens gefรผhrt hatte. Und eigentlich wollte der Gรถttinger Schriftsteller und Rechtsanwalt Markus Thiele den Fall Oury Jalloh als Kriminalroman aufarbeiten. Aber dann kam ihm diese komische Sache mit Schuld und Sรผhne in die Quere.

Ein Themenkomplex, mit dem sich ja nicht nur der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski ein Leben lang herumschlug. โ€žSchuld und Sรผhneโ€œ (in neueren รœbersetzungen: โ€žVerbrechen und Strafeโ€œ) ist ja nicht sein einziger Roman, in dem er sich der Frage stellt, wie Menschen schuldig werden kรถnnen und wie sie mit der Last ihrer Tat umgehen.

Wer seine Bรผcher liest (und man sollte sie wieder und wieder lesen), der weiรŸ, dass es auf der dunklen Seite unsere Gesellschaft nicht so billig zugeht, wie es unsere (Boulevard-)Medien immer wieder darstellen. Weder werden Tรคter vor Gericht von ihrer Schuld entlastet, noch erzรคhlt das StrafmaรŸ tatsรคchlich davon, wie viel Schuld jemand auf sich geladen hat.

Und im Fall Oury Jalloh wird die Sache schon deshalb kompliziert, weil es keine unbeteiligten Zeugen gibt. Da kommt der Verteidiger ins Spiel, in diesem Buch ein aufstrebender Rechtsanwalt in einer renommierten Hamburger Kanzlei, dem die Verteidigung des Hauptangeklagten bei der Wiederaufnahme des Falls in die Hรคnde gelegt wird. Natรผrlich heiรŸt der Getรถtete in diesem Buch anders, auch der beschuldigte Dienstellenleiter wird anders dargestellt.

Thiele verfremdet den Fall, denn ihn interessiert vor allem der Zwiespalt, in dem der junge Rechtsanwalt steckt, der den Polizisten verteidigen muss. Dieses โ€žMussโ€œ ist sein Arbeitsethos als Verteidiger: Er muss sich ganz fรผr seinen Mandanten einsetzen. Auch dann, wenn er โ€“ wie in diesem Fall โ€“ Hinweise darauf bekommt, dass sein Mandant vielleicht doch nicht ganz unschuldig ist.

Es ist nicht der einzige Konflikt, den Strafverteidiger Hannes Jansen mit sich austragen muss. Denn gerade erst hat er bei einer Auktion in Berlin ganz zufรคllig eine selbstbewusste junge Frau namens Dr. Sophie Tauber kennengelernt, mit der er nach seiner gerade erst gescheiterten Ehe eine neue Liebe erfรคhrt. Nicht ahnend, dass Dr. Sophie Tauber just jene Pathologin ist, die das neue Brandgutachten zum Fall Abba Okeke erstellt hat, das er nun vor Gericht in Zweifel ziehen muss. Logisch, dass an dieser Stelle die Liebe geradezu in eine Katastrophe zu stรผrzen droht.

Aber die beiden verbindet noch mehr. Man merkt schon, dass Markus Thiele diese unverhoffte Begegnung in einem Prozess nicht auf dieser simplen Ebene lassen wollte. Da, wo die meisten Medien solche Geschichten belassen, weil sie kein Gefรผhl dafรผr haben, dass das mediale Jetzt immer ein historisches Davor hat.

Fรผr Sophie Tauber wird es ganz konkret, denn nach dem Tod ihrer Mutter machte sie sich auf die Suche nach ihrem Vater, von dem sie bislang glauben musste, dass er ihre Mutter, gleich nachdem er sie geschwรคngert hatte, einfach sitzen lieรŸ und nach Kanada ausbรผxte. Doch schon bei der Spurensuche in der Schweiz, wo sie aufwuchs, zeichnet sich ab, dass die Erzรคhlung ihrer Mutter so nicht stimmen kann. Und dass das sogar mit der Herkunft ihrer Mutter zu tun hat.

Fรผr den Leser wird das Ganze zu einem tatsรคchlich mehrschichtigen Krimi. Ein Strang entfรผhrt ihn in die Geschichte eines berรผhmten Spirituosenherstellers. Auch hier hat Markus Thiele krรคftig verfremdet, auch wenn es in skizzenhaften Zรผgen tatsรคchlich so eine Urgeschichte gab โ€“ nur dass dort der Bruder des erfolgreichen Spirituosenherstellers nicht im Zuchthaus der Nazis gelandet ist und seine jรผdische Geliebte auch nicht im KZ. Thiele รผberzeichnet hier den siegreichen Bruder, lรคsst ihn geradezu eiskalt wirken, auch in der Entscheidung, dass das Kind seines Bruders zu verschwinden hat, egal, wohin.

Womit Markus Thiele ja jenes groรŸe Kapitel erรถffnet, in dem Millionen Deutsche nur zu gern bereit waren, ihr Gewissen an den Nagel zu hรคngen und mit den Wรถlfen zu heulen und ihre Mitmenschen zu verraten. Eine Zeit, in der sich auch sein Rechtsanwalt Jansen nicht wirklich vorstellen kann, wie er dort als Anwalt hรคtte arbeiten kรถnnen. Auch das gehรถrt zur Botschaft dieses Buches: Wie wichtig die grundgesetzlich verankerte Unabhรคngigkeit von Richtern und Anwรคlten ist. Und damit eben auch das Recht jedes Angeklagten, vor Gericht die bestmรถgliche Verteidigung zu bekommen.

Was aber, wenn es gleiches Recht fรผr alle nicht gibt? Sondern jene alles Recht auf ihre Seite bekommen, die mit den Mรคchtigen heulen?

Das ist die ganz und gar nicht historische Frage, die Markus Thiele hier eigentlich aufmacht. Und natรผrlich durch die Geschichte beantwortet, die er erzรคhlt. Denn dadurch, dass seinerzeit das Recht derart gebrochen und vernichtet wurde, entstehen ja erst all jene Verwicklungen, die Sophies Leben ausmachen und die sie nun dazu bringen, ihren Vater nicht nur ausfindig zu machen, sondern auch zur Rede zu stellen. Noch so ein Feld, auf dem ja viele Menschen verzweifeln: diese schweigenden Vรคter.

Nur dass dieser Mann, den sie tatsรคchlich in der kanadischen Provinz aufstรถbert, ganz und gar nicht der Unhold ist, den sie vielleicht erwartet hatte. Auch wenn er lange braucht, die Geschichte tatsรคchlich zu erzรคhlen. Denn auch er trรคgt schwer an Schuld. Will am Ende gar selbst zur Polizei gehen und sich stellen, obwohl die eigentliche Schuld eine vรถllig andere ist.

Denn der Mensch trรคgt nicht nur an der Last seiner Taten, sondern auch an all dem, was er seinen Mitmenschen verweigert hat. Was ja viele Mรคnner tatsรคchlich sprachlos macht, weil in ihnen das alte Verdikt der Schwarzen Pรคdagogik fortwirkt: Du sollst nicht merken. Du sollst deine Gefรผhle nicht zulassen. Du sollst nicht verletzlich sein. So, wie es Alice Miller in ihren Bรผchern beschrieben hat.

Wenn aber Kinder nicht fรผhlen dรผrfen, dann kรถnnen sie auch ihren eigenen Kindern gegenรผber ihre tatsรคchlichen Gefรผhle nicht zeigen. Dann wird die anerzogene Unfรคhigkeit zum Lieben zu permanenter Verstellung. Oder auch zu neuer Aggression. Dann pflanzt sich das fort.

Auf einmal haben wir also einige Mรคnner vor uns, die mit der Last der unausgesprochenen Vergangenheit umgehen mรผssen. Und das durchaus auf unterschiedliche Art tun. Wobei Thiele sich durchaus nicht zurรผckhรคlt mit seinem sehr kritischen Blick auf den angeklagten Polizisten, der bis zuletzt nicht aus seiner ziemlich steifen Rolle als fรผr nichts verantwortlicher Beamter und Ordnungshรผter herauskommt.

Und der damit auch in gewisser Weise fรผr jene Welt steht, die lieber die Initialen HASS in die Wรคnde der Haftanstalt ritzt, als sich den eigenen Gefรผhlen zu stellen. Thiele schreibt dazu gar nicht viel. Aber es ist in fast allen Szenen prรคsent, in denen er Jansen seinen Mandanten begegnen lรคsst, zunehmend distanzierter zu dessen Art, mit dem Tod des Asylbewerbers in der Arrestzelle irgendetwas zu tun haben zu wollen.

Und damit irgendwie typisch fรผr eine Gegenwart, in der sich die Kaltherzigkeit und Gefรผhlsverachtung der Nazi-Zeit auf einmal wieder ausbreiten kann als politische Haltung. Als bรคrbeiรŸige Selbstgerechtigkeit in der Opferpose, als jenes selbstgefรคllige Schweigen, mit dem sich die Gefรผhlsverachtung wieder ausbreitet im Land. Und zwar nicht nur im Osten (auch wenn der Tatort natรผrlich dort liegt) und auch nicht mehr nur in den asozialen Netzwerken. Man spรผrt durchaus die Ratlosigkeit dieses Verteidigers, der von seinem Mandanten zunehmend abgestoรŸen ist. Kann man so einen eiskalten Typen denn รผberhaupt verteidigen? Verliert man da als Verteidiger nicht alle Glaubwรผrdigkeit?

Das ist wohl der Widerspruch, mit dem alle Anwรคlte ringen mรผssen. Und die Antwort fรผr Jansen ist am Ende klar: Ausgerechnet dieser Widerspruch garantiert eine unabhรคngige Justiz. So seltsam das klingen mag. Der Strafwรผrdige bekommt dabei denselben Schutz durch das Recht wie der Unschuldige. Und es liegt ganz allein bei Hannes Jansen, ob er dabei zum Zyniker wird oder sich seinen menschlichen Anstand bewahrt. Ob er es am Ende schafft, Sophie ehrlich und unverstellt gegenรผberzutreten und auszuhalten, wie sie ihm begegnen wird.

Sophie ist also auch so eine Art MaรŸstab fรผr die Mรคnner in dieser Geschichte. Mit ihrer selbstbewussten Art zwingt sie sie dazu, Farbe zu bekennen und vor allem sich selbst zu prรผfen, herauszufinden, worum es ihnen in ihrem Leben tatsรคchlich geht.

Indem Markus Thiele die Geschichte so vielschichtig aufbaut, schafft er es auch, vielschichtige Charaktere zu erschaffen. Und der Geschichte um den hilflos in seiner Zelle verbrannten Afrikaner zusรคtzliche Dimensionen zu geben, die zwingend dazugehรถren. Denn wenn sich Menschen nicht ihrem Gewissen stellen, dann beginnt das Vertrauen in einer Gesellschaft zu zerbrรถseln, genau jenes Vertrauen, um das Hannes Jansen so sehr ringt. Denn wenn gerade die Machtlosen und Schwachen nicht mehr damit rechnen kรถnnen, von Polizei und Justiz gleichwertig behandelt zu werden, dann sind wir schon auf einem sehr gefรคhrlichen Weg. Dann beginnt jener Zynismus, mit dem Wehrlosen Schutz und Gerechtigkeit verweigert werden โ€“ von Amts wegen.

Das ist der Punkt, an dem sich Sophies Familiengeschichte mit dem Tod Oury Jallohs trifft. Und der zeigt, warum sich Markus Thiele an dieser Geschichte so festgebissen hat, aber nicht beim verstรถrenden Prozess um den Tod Oury Jallohs blieb, sondern mit Hannes Jansen einen Verteidiger ins Zentrum rรผckte, der โ€“ schon um Sophies willen โ€“ der Frage nach Ehrlichkeit und Gerechtigkeit nicht ausweichen mรถchte. Auch wenn sein Sieg vor Gericht ihm wie eine persรถnliche Niederlage vorkommt.

Markus Thiele Echo des Schweigens, Benevento, Salzburg/Mรผnchen 2020, 22 Euro.

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