Es ist schon erstaunlich, wie gegenwärtig so manches aus der Leipziger Geschichte wirkt, wenn man es mit heutiger Politik vergleicht. Und wie uralt manches aus der heutigen Politik, wenn man mit Doreen Franz abtaucht in die Geschichte der Städtischen Speiseanstalt. Nicht, dass es sie rund 100 Jahre lang gab, ist das Frappierende, sondern dass das Denken aus dieser Zeit heute wieder als normal gilt.

Es gilt wieder als normal, dass Menschen Mietzuschüsse beantragen müssen. Es gilt wieder als normal, dass sich viele Menschen kein gesundes Essen und keine regelmäßige warme Mahlzeit leisten können. Es gilt wieder als normal, dass viele auf das Angebot der Tafeln angewiesen sind. Es gilt auch wieder als normal, dass viele Menschen von einer Vollzeit-Arbeit nicht leben können. Und es werden auch wieder dieselben Debatten geführt wie vor über 100 Jahren, in denen überbezahlte Snobs den Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, Faulheit und fehlende Leistungsbereitschaft vorwerfen.

Genau wie in den Debatten der Gründerzeit, die sich freilich in einem wesentlichen Punkt von der Gegenwart unterschied: Die SPD war damals die Stimme der Armen und Malocher. Und kein SPD-Politiker wäre auf die Idee gekommen, solche Sprüche von sich zu geben wie „Fördern und Fordern“, mit denen ja seit der Schröderschen „Agenda 2010“ nur „Fordern und vielleicht fördern“ gemeint ist. Denn die heutigen Moralprediger finden ja nichts dabei, den eh schon Armen auch noch das Lebensnotwendigste zu kürzen, wenn sie nicht parieren.

Wenn wohlversorgte Bürger über „die da unten“ reden, dann schwingen sie immer die Moralkeule und drohen mit den Disziplinierungsinstrumenten.

Nur tun sie es heute dreister und unverschämter als die Akteure damals, als nicht nur in Leipzig Volksküchen entstanden. Anfangs aus blanker Not entstanden. Denn der Revolution von 1848/1849 gingen einige der schlimmsten Hungerjahre des 19. Jahrhunderts voraus. Die Nahrungsmittelpreise stiegen nach Jahren der Missernten in Höhen, die sich viele Leipziger nicht mehr leisten konnten.

Besonders betroffen waren davon die Beschäftigten in den noch recht jungen Fabriken der Stadt. Die Industrialisierung war ja gerade in Gang gekommen. Die ersten Dampfmaschinen ratterten auch in Leipzig. Die neuen Fabrikarbeitsplätze gaben zwar Männern und Frauen Arbeit – aber die Löhne waren, gemessen am Preisniveau, nach wie vor prekär.

Viele Familien lebten von der Hand in den Mund. Mit einigen Beispielrechnungen aus verschiedenen Städten taucht Doreen Franz ein in die Lebensbedingungen dieses frühen Proletariats. Den Begriff verwendet sie zwar nicht, aber er bezeichnet wohl am genauesten die Lebensbedingungen der Menschen, die damals in den Leipziger Fabriken arbeiteten.

Und den Leipziger Kaufleuten und Fabrikanten, die auch im Leipziger Rat das Sagen hatten, war das sehr wohl bewusst. Da unterscheiden sie sich ebenfalls von den heutigen Managern, denen das Leben ihrer Angestellten genauso fremd ist wie die Sozialpolitik in den Kommunen.

Schon in vorhergehenden Bänden der „Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig“ haben sich die Autor/-innen einmal intensiver mit der Leipziger Armenfürsorge im Lauf der Geschichte beschäftigt, explizit Dörthe Schimke in „Fürsorge und Strafe“, worin sie sich mit der Geschichte des Georgenhauses und der sich sichtbar wandelnden Sicht der Leipziger Ratsherren auf jene Menschen beschäftigt, die aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt nicht (mehr) erarbeiten konnten.

Schon da wurde sichtbar, wie stark der alte Paulus-Spruch die Diskussion darüber prägte, wer eigentlich einen Anspruch auf die Unterstützung der Kommune hat und wie sehr er (oder sie) sich das durch Arbeit erst verdienen muss.

Auch Bebel bezog sich auf dieses Paulus-Zitat, als er 1883 schrieb: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Bei Franz Müntefering klang es noch genauso. Obwohl Paulus, verglichen mit diesen Genossen, ein aufmerksamerer Schreiber war, denn bei ihm heißt es im 2. Brief an die Thessalonicher noch: „Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten.“

Wobei schon „Fürsorge und Strafe“ zeigte, dass es darum auch in Leipzig nie ging. Angefangen mit der Bettelordnung ging es immer um die Frage, wie eine Stadt wie Leipzig mit jenen Menschen umgehen sollte, die keinen Broterwerb haben. Und mit jenen, die aus Krankheits- und Altersgründen ihr täglich Brot nicht mehr verdienen konnten. Die Geschichte der Armenhäuser und Hospize war auch über Jahrhunderte eine Geschichte des Ausprobierens. Und die Geschichte der Städtischen Speiseanstalt ist eigentlich auch eine.

Denn auch hier waren es wohlhabende Leipziger, die die Initiative ergriffen und in der alten Polizeiwache am Königsplatz eine Speiseanstalt gründeten, die keine Armenküche sein sollte, aber Speisen so günstig bereitstellen sollte, dass sie auch von jenen Arbeitern und Arbeiterinnen bezahlt werden konnten, die sich mit ihren knappen Löhnen eine ordentliche Mahlzeit nicht leisten konnten.

Dazu hatten die Gründer der Anstalt schon vier Jahre zuvor einen Fürsorgeverein gegründet, der im Grunde schon ganz ähnlich arbeitete wie der Verein, der dann auch die Städtische Speiseanstalt bewirtschaftete. Der Verein kaufte Nahrungsmittel en gros auf und schaffte es durch diesen Großeinkauf, die Herstellungspreise für die dann in großer Zahl ausgereichten Mahlzeiten deutlich unter den Preis zu drücken, den Arbeiterfamilien sonst für gewöhnlich für ihre Nahrung ausgeben mussten.

Denn die winzigen Wohnungen, in denen sie lebten, und die fehlenden Lager- und Kühlmöglichkeiten zwangen sie dazu, ihre Nahrungsmittel jeden Tag frisch und in kleinen Mengen zu kaufen – was natürlich zur Folge hatte, dass sie dafür höhere Preise zahlten. Die Erfahrungen dieses Fürsorgevereins waren belastbar genug, dass die Gründer 1849 darangingen, nach Chemnitzer Vorbild eine eigene Speiseanstalt auf die Beine zu stellen. Und da sich der Leipziger Rat sowieso aus diesen Vertretern der besitzenden Klasse rekrutierte, waren einige der Akteure neben ihrer Mitgliedschaft im Fürsorgeverein auch Mitglied im Stadtrat.

Man hatte also den direkten Draht in die städtischen Entscheidungen und konnte so auf schnellstem Wege auch städtische Unterstützung organisieren – von der mietfreien Bereitstellung der benötigten Gebäude bis zu den notwendigen Investitionen zum Beispiel in die moderne Dampfküche, die es erst ermöglichte, relativ preiswert große Mengen an auszureichenden Speisen herzustellen.

Und da ein großer Teil der Akten dieses Trägervereins, der bis zum Ende des von Doreen Franz untersuchten Zeitraums bis 1914 auch Träger der Speiseanstalt war, erhalten blieb, konnte die Autorin das Material gründlich nach unterschiedlichen Aspekten untersuchen – nach den Männern z. B., die über die Zeit Mitglied des Vereins waren, ihren Berufen und ihrer Rolle im Rat, aber auch nach Lebensmittelpreisen und Kostendeckung im Betrieb.

Denn einige Jahre geriet die Speiseanstalt auch in die roten Zahlen, stiegen die Herstellungskosten pro Portion deutlich, während die Zahl der Besucher zurückging. Was zum Teil natürlich mit der weiteren Industrialisierung der Stadt zu tun hat, dem frühen Wirken der Sozialdemokratie und steigenden Arbeiterlöhnen.

Aber allein das erkläre nicht alle Phänomene, stellt Doreen Franz fest. Denn das Angebot der Speiseanstalt, das bis zuletzt im Grunde nur aus sehr fleischarmen Eintöpfen bestand, entsprach schon nach wenigen Jahrzehnten nicht mehr dem Anspruch der Arbeiter, die nicht nur versucht waren, den bürgerlichen Lebensstandard nachzuahmen, sondern auch lernten, woraus gesundes und reichhaltiges Essen eigentlich bestand.

Denn die Ernährungswissenschaften professionalisierten sich in dieser Zeit ja auch. Und gleichzeitig verbesserte sich durch die Verbesserungen in der Landwirtschaft auch die Versorgungslage. Arbeiter konnten sich zum Ende des Jahrhunderts eben nicht mehr nur Graupen, Erbsen und Kartoffeln leisten. Fleisch- und Milchprodukte zogen auch in die Arbeiterhaushalte ein.

Dass der Verein dann bis 1914 sogar noch weitere sieben Speiseanstalten gründete, hat natürlich mit dem rasanten Wachstum der Stadt und damit auch dem Wachstum der Arbeiterschaft zu tun. Die neuen Angebote wurden deshalb möglichst nah an den neuen Fabriken errichtet, um den Arbeitern kurze Wege zu ermöglichen. Denn lange noch war es üblich, dass die Belegschafen der Fabriken in der Mittagspause nach Hause eilten, um dort in der Familie Mittag zu essen. Erst als die Industriegebiete immer weiter an den Stadtrand wanderten, wurden die Wege zu lang, brauchte es billigere Angebote in der Nähe der Fabriken. Und zwar Angebote, die eben nichts mit der normalen Armenversorgung zu tun hatten.

Doreen Franz kann da durchaus auch die Selbstbilder des Vereins zitieren, der bis zuletzt großen Wert darauf legte, dass er eben kein Teil der städtischen Armenfürsorge war, sondern ein Angebot schuf, dass die Arbeitenden in ihrer Würde respektierte. Denn die Speisen wurden zwar zum Selbstkostenpreis abgegeben, die Vereinsmitarbeiter selbst arbeiteten ehrenamtlich (auch in Einkauf und Abrechnung), nur die Küchenkräfte wurden bezahlt, aber die Nutzer der Speiseanstalt mussten für ihre Portion eben doch bezahlen. Sie waren also nicht einer Fürsorge unterworfen und damit Bettler, sondern konnten sich die billige Essensportion eben leisten.

Dieses durch und durch bürgerliche Denken durchzieht die ganze Geschichte der Speiseanstalt. Es hat durchaus auch mit dem patriarchalischen Denken der Fabrikbesitzer selbst zu tun, die sich auch damals als berufen fühlten, sich für das sittliche Verhalten ihrer Angestellten verantwortlich zu zeigen und die Speiseanstalt mit ihrem doch sehr bürgerlichen Regelwerk auch als eine Art Erziehungsprojekt verstanden.

Obwohl schon die ersten Jahre zeigten, dass das gar nicht nötig war. Denn wer hier seine 12-Pfennig-Portion abholte, benahm sich „anständig“. Bloß weil Menschen prekär leben, benehmen sie sich noch lange nicht unflätig und rücksichtslos.

Weshalb die Speiseanstalten augenscheinlich auch nie zum Brennpunkt polizeilicher Vorfälle wurden. Eher wurden sie sogar als fester Bestandteil der städtischen Fürsorge betrachtet, auch wenn sie immer in Trägerschaft des Fürsorgevereins blieben. Sie übernahmen teilweise auch echte städtische Aufgaben – so wie die Versorgung der Insassen des Georgenhauses (wo das Angebot der dortigen Speiseanstalt in dauernden Konflikt mit den Ansprüchen einer niveauvollen Krankenernährung geriet) oder auch mal als Auftragnehmer für das Deutsche Turnfest.

Die Vereinsvorstände empfanden sich in ihren Festschriften durchaus als Wohltäter und feierten sich selbst dafür, dass sie die Einrichtung der Speiseanstalten über all die Jahre bewerkstelligten (und nur ab und zu eine ordentliche Investitionsspritze aus der Stadtkasse beantragten).

Aber Doreen Franz macht berechtigterweise die Diskussion auf: Ist diese private Wohltätigkeit eigentlich noch so anerkennenswert, wenn gleichzeitig – wie das in den vergangenen 20 Jahren geschah – das soziale Sicherungssystem systematisch demontiert wird und wichtige Aufgaben, die zuvor noch die Gemeinschaft organisiert hat, wieder zurückverwiesen werden in die Selbstvorsorge des Einzelnen? Flankiert durch den Abbau gut bezahlter Vollzeitstellen und die Schaffung neuer prekärer Arbeitsverhältnisse, die Menschen wieder zwingen, in Armenküchen Schlange zu stehen?

Da wirkt nicht nur das System der Städtischen Speiseanstalten irgendwie sehr gegenwärtig. Auch das Denken wirkt wieder wie renoviert, auch wenn es heute geradezu schäbig wirkt, geradezu verlogen nach einer Reihe deftiger Steuersenkungen für all jene „Wohltäter“, die in ihrer Gier die Verantwortung für die Gesellschaft völlig aus dem Blick verloren haben.

Worin sie sich dann freilich deutlich unterscheiden von jenen Leipziger Fabrikanten, Professoren, Juristen, Handwerksmeistern und Kaufleuten, die sich damals für die Leipziger Speiseanstalt engagierten. Die fühlten sich durchaus noch verantwortlich für „ihre“ Stadt. Auch wenn dahinter wahrscheinlich eine nur zu begründete Angst vor Hungerunruhen steckte, die Deutschland in den 1840er Jahren in vielen Regionen erlebte. Auch in Sachsen.

Weshalb wohl nicht nur der Fürsorgeverein sich auch als einen nicht unwichtigen Teil des Leipziger Fürsorgesystems empfand, der der Stadt andererseits etliche Kosten ersparte, die sonst entstanden wären, wenn die nicht ganz so Armen tatsächlich zu Bettlern geworden wären. So gesehen funktionierte die Speiseanstalt auch ein bisschen wie „Hartz IV“. Nur mit dem Unterschied, dass niemand auf die Idee kam, den Besuchern der Anstalt die Portion zu kürzen, wenn sie nicht pünktlich am Schalter standen.

Doreen Franz Die Städtische Speiseanstalt zu Leipzig 1849–1914, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2019, 34 Euro.

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