Klaus G. Saur, Gründer des K. G. Saur Verlags, hat die Leipziger Buchmesse einst aus der Sicht eines Westverlegers erlebt. Und aus der Sicht eines Mannes, der Mitglied jener Kommission war, die den innerdeutschen Buchaustausch organisiert hat. Deswegen ist dieses Buch vielleicht nicht das, was sich Leipziger unter einer heroischen Geschichte der Leipziger Buchmesse vorstellen würden. Auch wenn sie 1946 neu gegründet wurde, noch deutlich vor der Frankfurter Buchmesse.

Mancher erinnert sich vielleicht sogar noch an die Diskussionen ab 1990, ob und wie die Leipziger Buchmesse eigentlich in der Deutschen Einheit gerettet werden könnte. War sie denn nicht seit Mitte des 18. Jahrhunderts die größere und damit auch wichtigere Buchmesse in Deutschland gewesen?

War Leipzig nicht bis zu den Bomben im Dezember 1943 die deutsche Buchstadt schlechthin, der große Dreh- und Angelpunkt des gesamten Buchgewerbes? Könnte man an diese großen Traditionen jetzt nicht wieder anknüpfen?

Aber Nostalgie ist nie ein guter Ratgeber – nicht in der Politik und auch nicht im Geschäftsleben. Vielleicht hätte man das auch den Ostdeutschen ab 1990 deutlicher und eindringlicher erklären sollen. Stattdessen wurde jede Menge Ostalgie gepflegt, wurde selbst das, was in DDR-Zeiten aus praktischer Not entstanden war, glorifiziert.

Auch die Leipziger Buchmesse, die selbst vor 1989 nie die Leitmesse war, die die Frankfurter Buchmesse ab 1949 geradezu mit Naturgewalt wurde. Nur wenige Buchmessen weltweit können sich mit der Frankfurter Buchmesse messen, was Ausstellerzahlen und Geschäftsabschlüsse betrifft.

Und auch im Osten war die Leipziger Buchmesse nur die Nummer 2 – hinter der Warschauer Buchmesse, der es viel stärker gelang, auch westeuropäische Verlage zu binden. Aber welche Rolle spielte die über Jahrzehnte im Messehaus am Markt untergebrachte Buchmesse in Leipzig nun wirklich, wo sich so manche Leipziger Leseratte heimlich ihre Westlektüre sicherte?

Da Saur in den entsprechenden Gremien saß, die die deutsch-deutschen Buchhandelsbeziehungen verhandelten, kennt er die Zahlen, weiß, wie die Kontingente ausgehandelt wurden. Denn wirklich ganz abgeschottet vom westlichen Buchmarkt war die DDR nie. Auch wenn ihre Möglichkeiten, Bücher von Westverlagen anzukaufen, begrenzt waren. Und nicht immer floss Geld.

Oft wurde direkt für Westverlage gedruckt, bezahlte die DDR quasi mit Büchern dafür, dass ein wichtiger Titel wenigstens in kleiner Auflage auch im Osten erschien. Hart gerungen wurde um die Titel von Ostverlagen, an deren Vertrieb im Westen Westverlage durchaus Interesse hatten.

Genauso, wie die DDR-Seite um Lizenzen für Titel aus dem Westen feilschte, um sie in kleiner Auflage auch dem lesehungrigen Publikum im Osten anbieten zu können. Und augenscheinlich wussten tatsächlich die meisten Westverlage nicht, dass gerade bei begehrten Titeln einfach mal mehr Bücher gedruckt wurden, als vertraglich vereinbart.

Aber warum kamen dann die großen Westverlage in das letztlich viel zu enge Messehaus am Markt, wo sie doch wussten, dass die Besucher kaum eine Möglichkeit hatten, an die ausgestellten Titel zu kommen?

Doch Saur verweist auf eines jener typischen DDR-Phänomene, die man gar nicht so recht wahrgenommen hat. Denn die Erinnerung an die DDR ist ja voller Geschichten über beschlagnahmte Bücher aus Westpaketen.

Aber die Wirklichkeit war wohl doch eine andere: Die meisten Westbücher wurden gar nicht beschlagnahmt, sondern wurden vom DDR-Zoll durchgelassen. Und Westverlage kalkulierten den Messeauftritt in Leipzig schon deshalb mit ein, weil dadurch, dass ausgehungerte Leser in der DDR sich die Wunschtitel dann von Westverwandten schicken ließen, ein nicht unwichtiger Teil des Umsatzes generiert wurde.

Klaus G. Saurs Essay führt also in eine Welt hinein, in der sich die merkantilen Interessen aus Ost und West überlagerten, ostdeutsche Zensurpolitik zwar stets als Drohkulisse aufrechterhalten wurde und der Besitz von Westbüchern einen Geruch des Gefährlichen hatte, andererseits selbst die staatlichen Instanzen beide Augen zudrückten, denn auch für Bücher galt – wie für alle anderen Mangelwaren im Osten – dass die Paketsendungen aus dem Westen volkswirtschaftlich einfach schon mit einkalkuliert wurden.

Diese Funktion verlor die Leipziger Buchmesse 1990 zwangsläufig. Und trotzdem hatte sie Glück, denn vom Börsenverein bis hin zur Leipziger Messeleitung dominierte dennoch der Wunsch, Leipzig als Schaufenster der Büchermacher zu erhalten. Und es gab zum Glück auch schon ein Format, das sich im Westen bewährt hatte – ein Format wie „München liest“ z. B., das eben auch außerhalb Frankfurts die direkte Begegnung von Lesern und Leserinnen mit Autoren und Verlegern ermöglichte. In recht überschaubarem Rahmen. Aber auch ein paar hundert Lesungen innerhalb so eines Lesefestivals sind ein kultureller Höhepunkt für Bücherliebhaber – und eine echte Marketingstrategie für Verlage.

So wurde 1991 auch „Leipzig liest“ aus der Taufe gehoben, auch erst mit einigen hundert Lesungen rund um die Buchmesse im Frühjahr. Und erstaunlicherweise erwies sich der Frühjahrstermin dabei sogar als Vorteil: Die Verlage konnten ihre Frühjahrsproduktion noch einmal extra promoten. Und sie taten das in den Folgejahren immer intensiver. Das Lesefest „Leipzig liest“ erreichte bald die Zahl von 1.000 Veranstaltungen, sprang selbst über die 3.000. Damit wurde das Leipziger Frühjahrsereignis zum größten Lesefest Europas.

Und auch wenn Leipzig mit den Frankfurter Ausstellungszahlen nicht mithalten kann, stellen heute deutlich mehr Verlage in Leipzig aus als in DDR-Zeiten. Und es gibt deutlich mehr Podien für Bücherwelten jenseits des klassischen Buches – man denke nur an den Comic-Bereich.

Und da Klaus G. Saur mit dem Blick des Geschäftsmannes auf die Leipziger Buchmesse schaut, vermisst man auch die Patina aus ORWO-Color und Leipziger Messe-Anekdötchen nicht. Auch das Buch ist zuallererst einmal ein Produkt, das an die Käufer gebracht werden muss. Der geistige Effekt für Leser und Land ist dann quasi die Zugabe, das kleine, unberechenbare Sahnehäubchen, vor dem sich Sicherheits- und Parteiapparate immer so fürchten. So sehr fürchten, dass sie selbst immer grauer, mut- und geistloser werden bei dem Versuch, das Nachdenken über Möglichkeiten und Alternativen zu unterdrücken.

Aber zumindest den DDR-Administratoren war es unmöglich, das Land tatsächlich so abzuschotten, wie das heute Nordkorea tut. Tatsächlich wird selbst mit dieser Buchmesse-Geschichte deutlich, wie wichtig der deutsch-deutsche Warenaustausch in diesen 40 Jahren immer war. Und dass beide Seiten sehr findig wurden, auch solche Probleme wie die Existenz gleichnamiger Verlage in Ost und West zu tolerieren und trotzdem Wege zu finden, Bücher dann halt unter falscher Flagge bzw. anderem Impressum über die Grenze zu schaffen.

Und mit der Etablierung von „Leipzig liest“, so Saur, „ist eine Verbindung zum Publikum, zum Leser, geschaffen worden, die es kaum auf einer anderen Buchmesse vergleichbar gibt.“

Klaus G. Saur Die Buchmesse Leipzig von 1946 bis 2019, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2020, 19,50 Euro.

Der Leipziger OBM-Wahlkampf in Interviews, Analyse und mit Erfurter Begleitmusik

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