2015 feierte Leipzig nicht nur das 1.000. Jahr seiner Ersterwähnung. Auch die Leipziger Frauen hatten einen besonderen Grund zum Feiern: 150 Jahre zuvor wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegründet. Und das wurde im Oktober 2015 mit einer wissenschaftlichen Tagung gewürdigt. Die Tagungsbeiträge sind jetzt in diesem Band versammelt. Und sie haben es in sich, denn sie zeigen, dass der lange Kampf der Emanzipation noch lange nicht zu Ende ist.
Das wird besonders deutlich, wenn Ruth-Ellen Joeres über „Gender, Class und Louise Otto“ schreibt. Also noch nicht die berühmte Mitgründerin des ADF, sondern die junge Autorin, die später den 1848er Revolutionär August Peters heiratete, sich aber schon mit Zeitschriftenbeiträgen einen Namen machte und die Frauenfrage so vehement thematisierte, dass aufmerksame Männer fortan zu ihren wichtigsten Adressaten und Mitstreitern wurden.
Und in gewisser Weise fehlte bislang auch der Blick darauf, wie Louise Otto die Frauenfragen auch als Klassenfrage begriff. Und Ruth-Ellen Joeres zeichnet den großen Bogen bis zur heutigen Gender-Diskussion. Denn wer nicht einmal begreift, wie sehr die Entrechtung und Ausbeutung der Frau parallel läuft mit den Entrechtungen von Menschen anderer Hautfarbe und der alten Klassenfrage, der versteht die Brisanz nicht und auch nicht, warum unsere Gesellschaft derart aus dem Ruder laufen konnte.
Und auch nicht, dass die Benachteiligung von Frauen bis heute System hat. Sie steckt in den Köpfen von Männern, die ihre Eigeninteressen immer auf Kosten anderer und vor allem finanziell und sozial Schwächerer durchsetzen.
Und die vor allem auch keinen Gedanken daran verschwenden, was sie mit ihrem Handeln anrichten. Und etliche Beiträge im Buch behandeln genau diese Frage: Wie schwer es eigentlich von Anfang an war, diese patriarchalischen Denkweisen aufzubrechen. Wobei mehrere Beiträge auch zeigen, wie sehr das neue Denken auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung einherging.
Denn die bürgerliche Revolution von 1848 hatte ihren Ursprung ja darin, dass die alten, feudalen Herrschaftsstrukturen nicht mehr zu einer Gesellschaft passten, in der die alte Leibeigenschaft am Verschwinden war und Frauen auf einmal dringend gebraucht wurden als billige Arbeitskräfte in den sächsischen Fabriken. Louise Otto und alle ihre Mitstreiterinnen ab 1865 hatten eine Welt vor Augen, in der Frauen zunehmend zum Erwerb gezwungen waren.
Und der nächste Denkschritt war folgerichtig: Wenn Frauen in der neuen arbeitsteiligen Industriegesellschaft als Arbeitskraft gebraucht werden, dann sollten sie auch ein Recht haben, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Dann passten die alten Gesetze nicht mehr, die Frauen quasi zum Eigentum ihrer Männer machten, sie lebenslang unter Vormundschaft stellten und ihnen verwehrten, dieselben bürgerlichen Rechte wahrzunehmen wie die Männer.
Dass der ADF 1865 in Leipzig gegründet wurde, hat viel mit den vielen sich überschneidenden Emanzipationsbewegungen der 1848er Revolution zu tun und jenen Vereinen, die sich gerade in den 1860er Jahren gründeten. Man denke nur an die Arbeiterbildungsvereine, aus denen dann auch die SPD hervorging. Und es waren auch Männer, die sich intensiv Gedanken darüber machten, dass die Emanzipation des Bürgers zwingend auch die Emanzipation der Frau einschloss.
Irina Hundt würdigt diese Männer in ihrem Beitrag „Ein gemeinsames Projekt der Geschlechter?“, in dem sie akribisch die Gründung des ADF und die Rolle der daran beteiligten Männer wie Anton Korn, Ludwig Eckhardt oder Carl Volkhausen ausarbeitet, die nicht nur als Unterstützer und Ratgeber auftraten, sondern auch als Dampfmacher. Was auf den ersten Blick verwundert: Geht denn der Mythos nicht so, dass die Gründung des ADF auf Initiative von Louise Otto-Peters zurückging?
Aber Hundt kann dabei einen psychologischen Moment zeigen, der auch Frauen oft nicht bewusst ist: Denn damals noch viel mehr als heute wurde Frauen das Zurücknehmen ihrer Persönlichkeit systematisch anerzogen. Was ja in Debatten bis heute immer wieder auftaucht: Nehmen Frauen ihre „dienstbaren“ Rollen von Natur aus ein und ist ihre Zurücksetzung in der Gesellschaft also „natürlich“ bedingt? Oder wird ihnen ihr Rollenverhalten anerzogen?
Und Männer wie Korn waren überzeugt davon, dass es anerzogen war. Und so staunen auch in diesem Band Autor/-innen wie Kerstin Wolff, Magdalena Gehring oder Heiner Thurn darüber, wie zurückhaltend der ADF eigentlich agierte – zumindest verglichen mit der Frauenbewegung an der amerikanischen Ostküste, mit der der ADF in regem Austausch stand und über die auch regelmäßig in der ADF-Zeitung „Neue Bahnen“ berichtet wurde. Denn wo die Frauen in Deutschland ganz vorsichtig darangingen, das Bewusstsein zu schaffen dafür, dass Frauen auch wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können müssen, kämpften die Amerikanerinnen längst um das Wahlrecht.
Wobei sich in Deutschland einiges deutlich änderte, als 1888 die Debatte um das neue Bürgerliche Gesetzbuch entbrannte, in dem die Frauen wieder im alten, feudalen Rollenverständnis festgeschrieben wurden. Das war der Zeitpunkt, an dem auch die bislang so geduldigen Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung deutlicher und lauter wurden, noch mehr befeuert 1890 durch das Ende des Bismarckschen Sozialistengesetzes, das auch Frauen daran gehindert hatte, sich politisch zu organisieren.
Logisch, dass mehrere Autorinnen in diesem Buch daran erinnern, dass man sowohl das Wirken von Louise Otto-Peters als auch des ADF nicht richtig einordnet, wenn man die konkreten historischen Rahmenbedingungen nicht beachtet. Erst dann wird vieles an Zurückhaltung und scheinbar unpolitischem Ausweichen auf das große Thema Erwerbsarbeit verständlicher.
Und nicht nur Ruth-Ellen Joeres mahnt an, auch die Forschungen zum publizistischen Werk von Louise Otto-Peters weiterzutreiben. Selbst in Louises scheinbar gar nicht revolutionären frühen Gedichten findet man, wenn man nur aufmerksam liest, genug verstecktes Gedankengut, mit dem die junge Dichterin die Zensur zu unterlaufen wusste.
Und Susanne Schötz macht in ihrem Beitrag „Überlegungen zum Emanzipationskonzept von Louise Otto-Peters“ erst richtig deutlich, wie sehr das späte Hauptwerk von Louise Otto-Peters bis heute ignoriert wurde. Denn dort arbeitet sie ein Emanzipationskonzept aus, das weit über die wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen hinausgeht. Mit zwei sehr dramatischen Folgerungen.
Die eine formuliert Schötz so: „Eine Höherentwicklung der Menschheit, eine vollkommene Gesellschaft war für sie demnach undenkbar ohne die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.“ Was für sie dann auch die Folge hat, dass Frauen auch die „allgemein menschliche Bestimmung der eigenen Vervollkommnung wie der treuen Mitarbeit an der allgemeinen Vervollkommnung der ganzen Menschheit“ haben. Dieses Zitat stammt jetzt direkt von Louise Otto-Peters.
Ein Satz, der direkt mit der von Ute Gerhard diskutierten Frauenbewegung in Ost und West zu tun hat, den Sackgassen und Irrwegen der Bewegung. Denn wenn man erst einmal so denkt, merkt man, dass es mit der Emanzipation und vollen Gleichberechtigung der Frau nicht getan ist. Schon gar nicht mit der nur äußerlichen Gleichberechtigung der Frauen in der DDR, die dann, wenn sie tatsächlich Schritte zur Emanzipation und zum Selberdenken gingen, genauso wie die Männer mit den Herren von Partei und Stasi zu tun bekamen (worüber Jessica Bock in ihrem Beitrag zum „Frauenzentrum“ im Klubhaus Jörgen Schmidtchen schreibt).
Dass es ab 1990 deshalb zu wahrnehmbaren Missverständnissen zwischen den Frauenbewegungen in Ost und West kam, war nur folgerichtig. Und es wirkt bis heute nach. Denn zur Marginalisierung und wirtschaftlichen Ausgrenzung der Ostfrauen ab 1990 kam eben auch die Marginalisierung der medialen Teilhabe des Ostens. Was bis 1990 im ostdeutschen Protestdiskurs entstanden war, verschwand völlig aus der Debatte.
Bis heute dominieren westdeutsche Medien und Männer die Gleichstellungsdebatte und dominieren die uralten Ansichten konservativer Parteipolitik, die Frauen schlichtweg nicht als Ebenbürtige und Gleichbegabte akzeptiert, sondern den Topos der Dienstbarkeit immer wieder erneuert. Auch im Arbeitsmarkt.
Da wirken selbst die scheinbar so vergessenen Gedanken einer Louise Otto-Peters hochmodern. Und man merkt, dass nach wie vor die Männerfrage steht – nämlich die Frage nach den anerzogenen Männerbildern, die heute auch deshalb in die Krise geraten sind, weil die meisten Männer mit einem falschen Frauenbild aufgewachsen sind und schon dann in persönliche Krisen geraten, wenn ihre scheinbar „natürliche“ Machtposition von Schwächeren infrage gestellt wird. Ein Punkt, an dem deutlich wird, wie recht Ruth-Ellen Joeres hat, wenn sie die Geschlechterfrage auch als Klassenfrage betrachtet.
Der Sammelband holt natürlich noch weiter aus. Die Einstiegsbeiträge loten zum Beispiel die Handlungsspielräume mittelalterlicher Fürstinnen oder der von „gelehrten Frauen“ der Aufklärungszeit aus. Theresa Schmotz sucht gar nach den Frauenbibliotheken im Leipzig des 18. Jahrhunderts – und wird sogar fündig, wohl wissend, das auch hierzu noch immenser Forschungsbedarf besteht.
Die Konferenz liegt nun schon wieder über drei Jahre zurück. Umso wichtiger ist, dass die Vorträge jetzt gesammelt im Buch erschienen sind. Denn sie bieten jede Menge Stoff, an den anzuknüpfen ist. Und sie zeigen eben auch, wie viele Forschungsfelder, die eben nicht nur die Emanzipation der Frauen betreffen, noch so gut wie gar nicht abgegolten sind.
Und – das ist ja der zweite Effekt: Sie zeigen, wie sehr auch unsere Emanzipationsdebatte nachhinkt, nicht zu den Möglichkeiten und Notwendigkeiten passt, die vor uns liegen. Denn eine durch und durch von nicht-emanzipierten Männern konstruierte Wirtschaftsweise ist gerade dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Eine Wirtschaftsweise, die durch (anerzogene) männliche Eigenschaften wie Machtgier, Egoismus und Rücksichtslosigkeit befeuert wird.
Diese Eigenschaften sind als Grundprinzipien regelrecht eingebaut – nämlich überall dort, wo Schutzgüter und Regeln über den Haufen geworfen werden mit der heiligen Doktrin eines allmächtigen Marktes.
Aber dazu braucht man wahrscheinlich den weiblichen Blick, um das überhaupt zu sehen. Wer aus seiner Männerblase nicht herauskommt, ist blind dafür. Und gerät in Panik, wenn er von 17-jährigen Mädchen gesagt bekommt, dass sich jetzt alles ändern muss.
Susanne Schötz; Beate Berger Frauen in der Geschichte Leipzigs, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2019, 34 Euro.
Ich habe Licht gebracht! Der mitreißende Lebensroman der Louise Otto-Peters
Ich habe Licht gebracht! Der mitreißende Lebensroman der Louise Otto-Peters
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