Am Dienstag, 28. Januar, erscheint bei Wunderlich ein Krimi, der nicht nur Leipziger Krimi-Freunden schlaflose Nächte bereiten dürfte, sondern auch Kennern der Geschichte und all jenen, die mit Sorge darauf schauen, wie derzeit enthemmte Nationalisten wieder versuchen, die Demokratie zu zerstören. Und dabei hat Thomas Ziebula Leipzig ganz und gar nicht zufällig ausgewählt als Schauplatz seines Kriminalromans.

Denn auch wenn er in der Nähe von Karlsruhe lebt, erklärt Thomas Ziebula Leipzig tatsächlich zu seiner deutschen Lieblingsstadt. Und er sieht in dieser Stadt – ganz ähnlich wie der Leipziger Autor Uwe Schimunek – auch das historische Erzählpotenzial. Schimunek hat ja auch die 1920er Jahre in seinen Katzmann-Krimis verarbeitet, Jahre, in denen auch Leipzig die politischen Extreme, Inflation, Wirtschaftskrise und den am Ende verlorenen Kampf um die Republik erlebte.

Und auch Katzmann bekam es mit den politischen Extremen seiner Zeit zu tun, jenen Gespenstern einer vergangenen Zeit, die die junge Republik mit Gewalt bekämpften.

Denn das Ende dieser Republik war in ihren Anfängen angelegt, in den Lügen, mit denen die Deutschen und die meisten ihrer Parteien versuchten, das Debakel des Weltkrieges irgendwie zu bewältigen und die Schuld von sich abzuwälzen. Stichwort: Dolchstoßlegende.

Und auch das erinnert fatal an die Gegenwart: Der Hass der Militaristen und Nationalisten auf „die Linken“. Ein Hass, der kaum Gegenwehr fand, auch weil die junge Regierung von Anfang an auf das enge Bündnis mit der Reichswehr angewiesen war. Mit der wollte und konnte es sich die junge Regierung nicht verscherzen.

Und in deren Schatten tummelten sich in Deutschland die sogenannten Freikorps und auch jene frühzeitig schon rechtsradikalen Gruppen wie die Organisation Consul, der Bund Wiking oder die Schwarze Reichswehr, die nun Thomas Ziebula in seinem Buch thematisiert, indem er auch etwas macht, was man in jüngeren historischen Romanen eher selten findet: Er taucht ein in die Gefühlswelten jener Männer, die gerade aus Krieg und Kriegsgefangenschaft zurückgekommen waren und jetzt – mit ihren albtraumhaften Erinnerungen im Kopf – wieder einen Platz im normalen Leben finden mussten.

Auch Ziebulas Held, der aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Major Paul Stainer, ist von diesen Gespenstern eines Krieges gezeichnet, in den er einst sogar freiwillig gezogen war. Doch was er erlebt hat, hat ihn mehr als ernüchtert. Und er leidet psychisch unter diesen Erinnerungen, zweifelt anfangs auch daran, ob er mit diesen Spätfolgen überhaupt wieder in den Polizeidienst zurückkehren kann. Doch auch die Leipziger Polizei braucht ihre Leute.

Und zum Kriminalinspektor befördert landet Stainer sofort in einer Mordermittlung, die sich schon nach kurzer Zeit als etwas entpuppt, was alle seine Albträume wieder wachruft. Denn er hat es nicht mit einzelnen Morden zu tun, sondern mit einer ganzen Mordserie, hinter der eine Gruppe von Offizieren steht, die nicht nur vom „Dolchstoß“ redet, sondern systematisch Menschen umbringt, die versuchen, die Kriegsverbrechen der Deutschen in Belgien ans Licht zu bringen.

Und auch wenn die konkreten Personen in diesem Krimi so nie existierten, hat Ziebula dennoch einen realen historischen Hintergrund für seine Geschichte genutzt. Einer Geschichte, die in der Weimarer Republik tatsächlich erst fünf Jahre später für Aufsehen sorgte, als der ehemalige Offizier und jetzt als Journalist tätige Carl Mertens in der „Weltbühne“ erstmals über die Fememorde der Schwarzen Reichswehr berichtete.

Allein 354 politisch motivierte Morde aus dem rechtsradikalen Spektrum sind für die Jahre 1919 bis 1923 verbürgt. Die meisten blieben ungesühnt. An der Denkweise der Rechtsradikalen hat sich – man sehe nur den Mord an Walter Lübcke und die vielen Morddrohungen gegen Politiker/-innen aus dem demokratischen Spektrum – bis in die Gegenwart nichts geändert. Mit Drohungen, Einschüchterungen und Morden versuchen die Rechtsradikalen ihre Deutungshoheit in der Gesellschaft durchzusetzen, die Zivilgesellschaft einzuschüchtern und jeden Widerspruch zu ersticken.

Natürlich erzählt Thomas Ziebula nicht die Geschichte des Carl Mertens. Er erzählt die Geschichte des Kriminalinspektors Paul Stainer, der sich auch von einigen dubiosen Kollegen im Polizeipräsidium nicht davon abbringen lässt, die Hintergründe der Mordserie aufzuklären und Verbindungen herzustellen zu weiteren Morden.

Und er ignoriert auch nicht die Hinweise auf jene obskure „Operation Judas“, die sich augenscheinlich vorgenommen hat, die Veröffentlichungen über die Kriegsverbrechen sächsischer Offiziere und Soldaten im belgischen Dinant zu verhindern, die als Massaker von Dinant in die Geschichtsbücher eingegangen sind.

Zum historischen Hintergrund gehört auch die Forderung der Alliierten von 1920, rund 900 Offiziere und Soldaten wegen Kriegsverbrechens auszuliefern. Eine Forderung, der die damalige Reichsregierung nicht nachkam. Nur einige wenige wurden in den „Leipziger Prozessen“ vor Gericht gestellt.

Das Ergebnis fasst Wikipedia so zusammen: „Von den etwa 900 deutschen Militär- und Zivilpersonen, deren Auslieferung von den Alliierten ursprünglich verlangt worden war, sowie einigen hundert weiteren Beschuldigten, gegen welche die deutschen Behörden 1920 von sich aus Ermittlungen eingeleitet hatten, um Deutschlands guten Willen zu demonstrieren, wurden letztlich nur zehn zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren verurteilt und sieben (zum Teil wegen Mangels an Beweisen) freigesprochen.“

Auch das gehört zum Erbe der Weimarer Republik – vielleicht zur fatalsten Last, die die junge Republik zu tragen hatte. Und Ziebula ist ein erfahrener Autor. Er besitzt die Gabe, diese Hintergründe in lebendige Erzählung zu verwandeln und seine Helden als Menschen zu zeichnen, die nach all diesen grausamen Erfahrungen versuchen, wieder Mensch sein zu dürfen, wieder leben und lieben zu wollen.

Ihm gelingt etwas, was in den radikalisierten Diskussionen von heute fast verschwindet – nämlich den eigentlichen Konflikt zu zeigen, um den es immer geht, wenn so leichtfüßig von „links“ und „rechts“ geredet wird, ganz so, als sei die Radikalisierung nach rechts nur eine Art politische Einfärbung, eine Meinung, die man einfach haben darf.

Dafür steht im Buch übrigens nicht nur Paul Stainer. Ziebula schafft ein ganzes Ensemble von lebendigen, lebenslustigen Menschen, die dem Kriminalisten auch emotional naherücken, weil sie wie er der Überzeugung sind, dass für das Gute gekämpft werden muss. Dass man seinen Stolz und seine Überzeugungen nicht einfach über Bord wirft, wenn sich die radikalen Überzeugungstäter wieder breitmachen. Und die auch wissen, dass sie sich selbst damit in Gefahr bringen. Und ihre Familien.

Denn Rechtsradikalismus ist zuallererst die Verachtung für menschlichen Anstand, für Gerechtigkeit, Wahrheit und Ehrlichkeit. Was Ziebula in einigen sehr eingängigen Szenen durchspielt, in denen er seinen zuweilen enttäuschten und entmutigten Ermittler auch diesen höhnischen und überheblichen Gestalten begegnen lässt, von denen er ahnt, dass es seine Gegenspieler sind und dass sie keine Skrupel kennen, ihre Rache- und Mordlust an all jenen auszutoben, die sie in ihrem Klüngel zu „Verrätern“ erklärt haben.

Deshalb auch „Operation Judas“. Und deshalb auch der Buchtitel. Denn als Stainer nicht spurt und die Mördergruppe um die eiskalt agierenden Offiziere mit ihrem blutigen Ehrenbegriff nicht in Ruhe lässt, wird er für diese Leute zum „roten Judas“. Selbst die Wortwahl frappiert, denn die ähnelt ja nicht ganz zufällig der aggressiven Wortwahl heutiger Rechtsradikaler.

Die Gegenwart wetterleuchtet geradezu hinein in diesen Krimi, den Ziebula justament vor 100 Jahren in einem Leipzig spielen lässt, in dem auch die Straßennamen noch an die alte Kaiserzeit erinnern und Stainer nicht der einzige Heimkehrer ist, den die Schatten des Überlebten bedrücken. Und in dem scheinbar honorige Amtsträger mit dem blutigen Mordkommando sympathisieren, dem Stainer auf der Spur ist.

Und keineswegs nur Randfiguren sind jene Frauen und Männer, die zumeist unverschuldet in die Vorgänge verwickelt werden – so wie der junge Boxer Max, der mit Einbrüchen versucht, das Geld für seine kleine Familie heranzuschaffen, diesmal freilich an die Falschen gerät. Oder wie seine Tante Fine, die bei der Großen Leipziger Straßenbahn Fahrzeugführerin ist, eine Frau, die Ziebula mit genau derselben einfühlsamen Akribie zeichnet wie die Tänzerin Rosa oder selbst den Pathologen Dr. Prollmann, den Stainer anfangs auch fürchtet, weil der es möglicherweise in der Hand hat, seine Karriere bei der Leipziger Polizei gleich wieder zu beenden.

Gerade dieses Personenensemble macht sichtbar, worum es eigentlich geht, wenn eine Gesellschaft von Rechtsradikalen bedroht wird: um die simpelsten Werte von Menschlichkeit. Um Vertrauen, Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe, um Anstand im irdischsten Sinn. Darum, ein aufrechtes Leben leben zu können, ohne sich von den Angstmachern in falsche Rollen, Lüge und Verstellung treiben zu lassen.

So funktionieren ja auch die besten Kommissar-Rollen in Kriminalromanen. Diese Helden kämpfen stellvertretend für ihre Leser/-innen für das Gute im Menschen. Kaum ein Genre erfasst die nur scheinbar beängstigende Gegenwart so genau und vielschichtig wie der Kriminalroman. Jedenfalls dann, wenn der Autor auch einen Sinn hat für die menschlichen Schwächen, Nöte, Ängste und Wünsche seiner Helden. Und für ihren Alltag, den Ziebula ebenfalls kenntnisreich malt.

Er gehört zu jenen Autoren, die tatsächlich erst einmal so viel wie möglich recherchieren, um ihren Romanen ein möglichst authentisches Flair und historische Stimmigkeit zu verleihen. Nur die Leipziger werden sich über einige topographische Kühnheiten wundern. Aber spätestens wenn sie nach den ersten Kapiteln drinstecken in dieser Atmosphäre des Jahres 1920, den Geruch der Kohleheizungen in der Nase, das Klappern der Pferdegespanne, das Klingeln der Straßenbahnen und das Brummen der Kraftdroschken im Ohr, werden sie mitgerissen.

Denn dieser Stainer ist keiner, der sich aufhalten lässt oder der erst lange grübelt, auch wenn er mitten in seinem Fall fast verzweifeln will und sich tatsächlich Hilfe sucht, seiner Albträume Herr zu werden. Und er lässt sich erst recht nicht aufhalten, als die Fememörder auch seine Nächsten treffen. Da wird er erst richtig wütend, während der Leser mit Rosa mitfiebert, die von den Mördern gefangen wurde. Es wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Am Ende quietschen auch die Reifen und der Leser wird das Buch ganz bestimmt nicht mehr zur Seite legen, um es am nächsten Tag zu Ende zu lesen.

Und das hat nicht nur mit der aufgebauten Spannung zu tun, sondern längst auch mit dem Gefühl, den Helden und Heldinnen in dieser Geschichte sehr nahe zu sein. Als genügte ein Seitenumblättern, und schon steht man unverhofft vor dem Haus in der Salomonstraße, in dem „Tante Fine“ und und die selbstbewusste Cousine von Max, Monika, wohnen. Oder vor der „Wächterburg“ in der Wächterstraße, wo Stainer sein Büro hat und jeden Moment die „Mannschaftsdroschke“ aus dem Torweg brettern kann, um eiligst die zusammengetrommelten Polizisten zum nächsten Tatort zu bringen.

Ein atmosphärischer und hochemotionaler Roman, der so beiläufig auch zeigt, wie spannend Leipziger und deutsche Geschichte sein kann, wenn ein hochinteressierter Autor sich ihrer annimmt.

Thomas Ziebula Der rote Judas, Wunderlich, Hamburg 2020, 20 Euro.

Uwe Schimuneks neuer Krimi entführt die Leser ins Leipzig des Jahres 1907

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