Woran lohnt es sich zu erinnern? Was schreibt man auf, wenn man im hohen Alter Zeit dazu findet? Oder bestimmen die Erinnerungen, die ganz von allein wieder wachwerden, was sich jetzt endlich zum Schreiben aufdrängt? In Millionen von Fällen wird der von seinen Erinnerungen überwältigte Senior wohl lieber gar nichts aufschreiben. Denn das, was Hans von Frankenberg getan hat, braucht Herzensmut und eine riesige Portion Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das sind aber keine deutschen Tugenden.

Die Deutschen sind Meister im Verdrängen, im Unterdrücken von Gefühlen und im Unterbinden von Gesprächen. Das hat Ursachen. Denn so wurden sie in vergangenen Jahrhunderten stets erzogen: Gern auch mit Rohrstock, Nötigung und eingebläuter Disziplin. So wurden (und werden teilweise heute noch) jene „Tugenden“ in die Kinder gepflanzt, die einige Parteien nur zu gern als „Werte“ verkaufen und andere tatsächlich als Beweise für ein anderen Völkern überlegenes Volk: Fleiß, „Heldenmut“, Ordnung, Pünktlichkeit, Einsatzbereitschaft, Härte in allen Varianten. Motto: „Jungen weinen nicht“, sind hart wie Kruppstahl und sind fanatisch bereit, sich ins blutige Gemetzel zu stürzen.

Das NS-Reich hat diese „Tugenden“ zum Programm gemacht. Und es hat gewirkt. Weit über das Ende des Hitlerreiches hinaus. Was diese Art Erziehung tatsächlich mit den Kindern und Jugendlichen anstellte, haben dann etwas später Margarete Mitscherlich und Alice Miller in ihren Büchern sehr eindringlich beschrieben.

Denn wenn Kindern der Zugang zu ihren eigenen Gefühlen versperrt wird und sie darüber auch nie reden dürfen, dann bekommt man eine Gesellschaft voller Verleugnung, Verdrängung, ohne Mitgefühl und Wärme. Und das betrifft nicht nur das NS-Reich, in dem Kinder genau so gedrillt wurden. Das wirkte auch in der Zeit danach weiter.

Eigentlich bis heute. Denn Menschen, die keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben, flüchten in den Ersatz, allerlei Hilfskonstrukte, die ihnen ein Akzeptiertwerden versprechen. Das reicht von strengen, patriarchalischen Hierarchien bis hin zu einer erfolgreichen Wirtschaft als „narzisstische Plombe“.

Wir haben uns aber so daran gewöhnt, überall „erfolgreiche“ Männer zu sehen, die ihre Macht als Ersatz für das nie Gelebte ausnutzen, dass wir uns eine andere, vernünftigere Welt gar nicht mehr vorstellen können.

Und nicht nur die eigentliche Kriegsgeneration war mit diesem Verbot „Du sollst nicht merken“ (Alice Miller) bzw. „Die Unfähigkeit zu trauern“ (Margarete Mitscherlich) belastet und sorgte durch ihr Schweigen dafür, dass die psychischen Verheerungen der Nazi-Zeit bis weit in die 1960er Jahren hinein nicht benannt wurden. Auch die Kindergeneration hat diese Last getragen, die heute über 80-Jährigen, von denen die meisten ihr Schweigen nie gebrochen haben, egal, wie traumatisch ihre Kindheit war.

Der Grund dafür ist bekannt: die tiefsitzende Angst, an diesen tief vergrabenen Gefühlen zu rühren und wieder mit der alten Not, Verzweiflung und Hilflosigkeit konfrontiert zu werden. Denn was man in der Kindheit erlebt, prägt einen – bis in die Persönlichkeit und das Selbstbild hinein.

Aufarbeiten der Erinnerungen

Hans von Frankenberg, der über 25 Jahre eine internistische Praxis führte und sich auch ehrenamtlich – etwa für die Karlsruher Tafel – engagierte, wollte den Albträumen nicht mehr ausweichen. Im höheren Alter kamen die Erinnerungen alle wieder an die Oberfläche, erinnerte sich der Autor wieder an Namen, Gesichter, Gerüche und Orte seiner Kindheit. Und manches davon war der reine Albtraum. Und verdrängen nutzte jetzt nichts mehr. Die Erinnerungen hatten sich an die Oberfläche durchgekämpft und ließen ihn nicht mehr los.

Doch statt sie zu ignorieren, setzte sich der Autor hin und begann, die für ihn so prägenden Kindheitsjahre aufzuarbeiten. Entstanden ist daraus dieses Buch, das praktisch mit dem frühen Unfalltod des Vaters beginnt, als Hans erst sechs Jahre alt war. Sein Vater war ein erfolgreicher Manager, von Freunden und Kollegen hochgeachtet.

Und in der Grundtendenz ist diese „Annäherung“ auch ein Versuch, diesem Vater näherzukommen, ihn zu verstehen und auch einordnen zu können. Was nicht ganz einfach ist, denn als führender Manager in der Rüstungsindustrie war er ja in die Politik des NS-Reiches verstrickt. Wie weit ist er da gegangen? Für welche Werte stand er?

Das Bild bleibt ambivalent, auch wenn die Zeugnisse, die von Frankenberg findet, einen sehr offenherzigen und menschenfreundlichen Mann zeigen. Sein Leben jedenfalls wäre anders verlaufen, hätte es diesen tragischen Unfall nicht gegeben, der der Familie sofort die existenzielle Grundlage entzog. Und da wenig später auch die Bombardierungen des Ruhrgebietes, der „Rüstkammer des Dritten Reiches“ begannen, wird die Kindheit des Autors ab 1941 eine Odyssee. Sie führte ihn zuerst auf den Hof der geliebten Tante Lu in Sorna, wo die Familie Tümpling in einem kleinen Schloss lebte und ein großes Gut bewirtschaftete.

Hier erlebte Hans, wie er schreibt, die glücklichsten zwei Jahre seiner Kindheit, unbeschwert mit einer ganzen Clique Dorfkinder in den tierreichen Landschaften an der Auma, auch wenn schon diese zwei Jahre nicht ganz ohne Tragik blieben – angefangen beim „Heldentod“ des Sohns von Tante Lu bis zu jenem Tag, als ein amerikanischer Bomber seine Bombenlast als „Rettungsabwurf“ über dem Gut niederregnen ließ.

Das Gutshaus war zum Teil zerstört. Hans konnte nicht bleiben und kam jetzt wieder zu seiner Mutter, die in Gotha bei einem Arzt untergekommen war, der für Hans so etwas wie ein Stiefvater wurde. Aber halt mit Betonung auf Stief: Der hatte die „männliche“ Erziehung nach deutschen Werten auch verinnerlicht. Vertrauen und Nähe fand der Junge hier nicht.

Und so gab es hier niemanden, mit dem er über seine traumatischen Erfahrungen sprechen konnte. Und die hatten es wirklich in sich. Bei einem Bombenangriff auf Gotha kam fast die gesamte Klasse ums Leben, in der Hans nun lernte, und er wurde gleich eingeteilt, die toten Klassenkameradinnen und -kameraden zu identifizieren, obwohl er eben erst selbst mit seinem besten Freund im Keller von dessen Wohnhaus den Bombenhagel erlebt hatte.

Und während die kurzzeitige Besetzung durch die Amerikaner mit lauter guten Erinnerungen bestückt ist, blieben ihm unter den neuen Besatzern neue traumatische Erfahrungen nicht erspart. Kurz sieht man als Leser einen Zipfel jener Rücksichtslosigkeit, mit der sich die neuen Machthaber im Osten etablierten. Tante Lu’s Gut wurde enteignet, nur knapp gelang ihr mit ihrem schwer verwundeten zweiten Sohn bei der Verschickung ins Straflager die Flucht.

Und auch die kleine Familie von Hans kehrte in den Westen zurück, direkt ins völlig zerstörte Ruhrgebiet, wo die dramatischen Erlebnisse des Jungen nicht enden, wobei hier immer stärker der Wunsch des Autors deutlich wird, verstehen zu wollen, warum ihm manche Beziehungen so schwerfielen, warum sein Selbstbild so unsicher war und wie sehr ihn die erschreckenden Erlebnisse in der Kindheit geprägt haben.

Was nicht heißt, dass er zu einigen der Handlungsorte nicht ein starkes Gefühl aufgebaut hatte, etwa zu Sorna, das er nach der „Wende“ besuchte und regelrecht eintauchte in die Abenteuer seiner schönsten Kindheitsjahre.

Denk- und Sprechverbote

Das Buch ist tatsächlich eine Annäherung des alten Mannes an sein junges Selbst, an die Wurzeln der Unsicherheiten, die ihn ein Leben lang begleiteten, aber auch an das, was ihn deutlich von vielen Menschen unterscheidet, die ihm damals begegnet sind – Menschen, die das Sprechen über das Schlimme und Bedrohliche regelrecht verweigerten. Möglicherweise auch aus Selbstschutz – denn in der NS-Zeit galt dergleichen ja als Defätismus und konnte – bei Anzeige – für den Betroffenen schlimm enden.

So ganz nebenbei hat man eine der lebendigsten Wurzeln des Faschismus vor sich: die bis zum Denk- und Sprechverbot gehende Unterdrückung jeglicher Empathie. Wer Mitgefühl zeigte – gar mit den brutal behandelten „Feinden“ der Regimes – riskierte sein eigenes Leben. Aber was wird aus Menschen, die auf die harte Tour gelernt haben, dass man keine Gefühle (mehr) zeigen darf?

Das ist höchst aktuell. Die Lasten der NS-Zeit haben sich in vielen Familien vererbt, sind unterschwellig immer dagewesen in der eindeutig deutschen Verrenkung zwischen herrischer Arroganz und der Verachtung für alles Schwache, „Verweichlichte“, wie das so schön heißt. Heute stecken es die Verächter nur zu gern in das Wort „Gutmenschen“.

Und dem Osten fällt auf die Füße, dass das Thema noch viel länger tabu war als im Westen. Das ist zwar nicht Thema dieser „Annäherung“. Aber Hans von Frankenberg kennt seine Altersgenossen und weiß, wie wenige sich wirklich mit den Verwundungen ihrer Persönlichkeit in frühen Jahren jemals beschäftigt haben. Gerade unter den Männern, die mit ihrem angelernten Männerbild so offensichtlich nicht glücklich werden, Disziplin und Gehorsam für Primärtugenden halten und geradezu widerborstig reagieren, wenn sie für ihre Anpassung keine Belohnung (mehr) bekommen. Nicht einmal ahnend, dass das nur ein schwacher Ersatz ist für das Nicht-Gefühlte und Nicht-Gelebte.

Eigentlich hat Hans von Frankenberg sogar Glück gehabt, weil er mehrmals auch Menschen traf, die ihm klarmachten, dass sie ihn genauso akzeptierten, wie er war, mit all seinen Unsicherheiten und Verletzlichkeiten. Und dass er selbst Zugang gefunden hat zu seinen Gefühlen. Nicht souverän oder gar selbstverständlich. Aber das war nach so einer Kindheitserfahrung wohl auch nicht zu erwarten.

Die Stadt Karlsruhe freilich fand dieses Buch so wichtig, dass sie die Publikation unterstützte. Auch weil es ein seltenes Beispiel für eine wirklich ernsthafte Erinnerungsarbeit ist, die das Erlebte nicht glorifiziert, sondern zu verstehen versucht.

Es zeigt ein großes Stück von dem, worüber die Kriegskindergeneration meistens nicht sprechen wollte, ist also auch ein Buch für alle Jüngeren, die an der Verschlossenheit der Alten verzweifeln. Nach dieser Lektüre ahnt man zumindest, was damals Millionen Kindern so oder ähnlich geschah. Und was meist als Tabu bis heute fortlebt in einer Gesellschaft, in der die großmäulige Gefühlskälte auch wieder politisch um sich greift.

Hans von Frankenberg Vom Überleben des Herzens, Lindemanns Bibliothek, Bretten 2019, 13,80 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar