Wenn man älter wird, beginnt man auch über Zeit anders zu denken. Dann weiß man, dass der Rest vom Leben immer kürzer wird. Die Kräfte lassen nach. Und die Frage taucht auf: Was macht man daraus? Zieht man jetzt beige Sachen an, nimmt den Rollator und benimmt sich wie ein alter Mensch? Oder lernt man jetzt noch einmal, mit der geschenkten Zeit bewusster umzugehen, gerade weil man jetzt nicht mehr die Kraft hat, Bäume auszureißen?
Mit dieser Frage haben sich hier drei Frauen in kluger Selbstanalyse beschäftigt. Roswitha Geppert dürften die meisten Leserinnen (und vielleicht auch Leser) im Osten nur zu gut kennen. Denn mit ihrem Buch „Die Last, die du nicht trägst“ schrieb die Leipzigerin einen der größten Bestseller in der DDR, der nicht nur deshalb frappierte, weil hier über das Leben mit einem behinderten Kind geschrieben wurde, sondern weil Roswitha Geppert dabei kein Blatt vor den Mund nahm, eines jener selbstbewussten Bücher schrieb, die damals, in den 1970er Jahren auch noch dem letzten Funktionär klar machten, was selbstbewusste Literatur von Frauen ist. Und wer heute an Emanzipation in der DDR denkt, der denkt an Autorinnen wie Roswitha Geppert, Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxi Wander und Irmtraud Morgner.
Sie thematisierten in ihren Büchern den durch keine Männer-Vorurteile gebremsten Anspruch von Frauen, ihre Sicht auf die Welt als gleichberechtigt akzeptiert zu sehen. Ohne Abstriche. Sie sprachen Millionen Frauen aus dem Herzen und wurden auch deshalb gelesen.
Und in diesem Bändchen steht exemplarisch neben Roswitha Geppert auch Dr. Katrin Pieper dafür, einst die legendäre Cheflektorin des Kinderbuchverlags Berlin, dessen Bücher noch heute immer wieder nachgedruckt werden. Und natürlich wird in den Essays dieser beiden Frauen dieser Anspruch, auch noch im hohen Alter aktiv und selbstständig zu agieren und sich ganz bestimmt nicht im Altenheim aufs Abstellgleis abschieben zu lassen, besonders deutlich.
Was nicht einfach ist. Das thematisiert auch Katrin Pieper, ganz ähnlich wie die 100-jährige Heinke Thies, die freilich einen völlig anderen Lebensweg hatte, der sie nach Afrika und Frankreich führte, wo sie heute auf dem Urlaubshof ihrer Kinder lebt. Aber beide haben erlebt, wie ihre wichtigsten Bezugspersonen verschwanden. Es sterben ja nicht nur die Lebenspartner, sondern auch die Freunde, Bekannten und einstigen Kollegen. Man wird tatsächlich einsam, wenn man sie alle überlebt, denn mit ihnen teilte man die gleichen Erfahrungen, Sorgen, Lebensprobleme und Themen.
Nur so am Rande: Es wird bald eine Zeit geben, da wird man mit niemandem mehr über all das reden können, was Menschen in der DDR bewegte, beschäftigte und besorgte. Wobei ein großer, kluger Sammelband über die „Frauenliteratur“ in der DDR der 1970er Jahre eigentlich überfällig ist, gern auch geschrieben von einer rotzfrechen jungen Autorin, die dem von denkfaulen Männern geprägten Frauenbild (West) einmal ein Bild entgegensetzt, das wirklich von selbstbewussten und unabhängigen Frauen erzählt. Wir waren da schon mal weiter.
Und wer wirklich keine Tomaten auf den Augen hat, weiß auch, wie sehr gerade ostdeutsche Frauen vieles von dem, was ab 1990 passiert ist, als Rückschritt erlebt haben. Etwas, was uns bis heute lähmt. Denn auch das gehört zum Schisma einer in speckigem Wohlgefallen badenden Bundesrepublik, die Familie und Frau immer nur in Abhängigkeitsbezügen denken kann. Hinter denen sich letztlich piefige Besitzverhältnisse verstecken.
Auch das gehört zu diesem Büchlein, das im Grunde seinen Kern hat in dem schon 2012 geschriebenen Essay „Verliert man den Humor, ist alles verloren“ von Roswitha Geppert. Da hatte sie den 70. Geburtstag noch vor sich und beschäftigte sich in intensiver Auseinandersetzung mit sich selbst mit der Frage, was sie aus den kommenden Jahren noch machen würde. Immerhin meldete sich auch ihr Körper schon mit all den Wehwehchen, ohne die das hohe Alter nicht zu haben ist. Nur wollte sie sich dadurch überhaupt nicht stilllegen lassen, verschaffte sich lieber Bewegung, bekämpfte das Knirschen im Rückgrat mit Sport und Muskelaufbau, ließ sich nicht nehmen, unter die (jüngeren) Leute zu gehen.
Sie ist 2018 gestorben. Die 80, 90 und 100 blieben ein Traum. Aber mit Verlusten gab sie sich nie zufrieden, sorgte immer für Kontakte mit Freunden, Kindern und Enkeln. Denn im Alter, wenn man sich nicht mehr hinter den Ritualen der Arbeit verstecken kann, wird dieses Netzwerk aus Menschen, die zueinander freundlich und hilfsbereit sind, immer wichtiger. Diese Menschen sind „das Fleisch in der Suppe“. Oder mit Roswitha Geppert: die „Lebenssuppe“ selbst.
Und so ganz beiläufig schrieb sie hier, was für die ganze menschliche Gesellschaft gilt, aber von den Optimierern und Beratern allerorten wegoperiert wird, weil es in deren Effizienzdenken keinen Platz hat und sich eben nicht in Geld umrubeln lässt. Roswitha Geppert sprach zwar eher von der Hilfe, die alte Menschen noch überall in allen möglichen sozialen Einrichtungen und Bezügen geben können, „überall ist Hilfe vonnöten“. Aber dann kommt sofort ein weiterführender Gedanke. Sie bleibt nicht stehen bei dem Satz, den sich die sozialen Weichspüler von heute schon schnell mal als neuen Slogan ans Haus pinseln würden. „Und aus Hilfe kann sich Freundschaft entwickeln. Gleichgültig, ob zu Gleichaltrigen, jüngeren oder älteren Menschen. Wer behauptet denn, dass wir zu alt sind, um uns zu verströmen?“
Im Grunde hat sie da so nebenbei den Kern unserer heutigen Renditegesellschaft berührt, wo alles säuberlich separiert, abgeschottet, rationiert und jeglicher menschlicher Nähe und Berührung entkleidet wird: das nackte Grundgerüst ökonomischer Nützlichkeit, mit dem heute Krankenhäuser, Pflegeheime und alle anderen „sozialen“ Einrichtungen bewirtschaftet werden, vom Rest der Marktgesellschaft ganz zu schweigen. Die Vereinsamung ist da schon von Anfang an mit eingebaut.
Und leider lassen sich das auch viel zu viele alte Menschen gefallen. Werden abgestellt und abgespeist. Und das ist tödlich fürs Gehirn. Das braucht nämlich das Futter der Begegnungen und Herausforderungen. Heinke Thies: „Aber die Erde dreht sich weiter, und du musst mitlaufen, solange du auf ihr lebst, damit du nicht Gefahr läufst, in Einsamkeit zu versinken. Die Devise heißt: Besser eine elektronische Nachricht als gar keine!“
Sie wurde übrigens in Berlin geboren 1918, hat Landwirtschaft studiert und in Göttingen promoviert. Sie ist von jener preußischen Selbstdisziplin geprägt, die auch ihre positiven Seiten hat, sich nämlich immer wieder selbst dazu zu bringen, aufzustehen und den Tag bei den Hörnern zu packen, sich nicht gehen zu lassen. Egal, wie die Gelenke schmerzen und dass die Aufgaben, die man sich stellt, nicht mehr an einem Tag zu bewältigen sind.
Natürlich geben alle drei Frauen auch kluge und wohlbedachte Ratschläge, wie man nun mit den ganzen körperlichen Einschränkungen umgehen kann. Oder besser: sollte. Denn wer sich davon entmutigen lässt, der hat nichts mehr von diesen letzten Jahren. Also muss man im Kopf umschalten, mit sich selbst geduldiger werden und auch ein völlig anderes Zeitgefühl lernen, bei dem man eben nicht mehr so viel schafft wie in jungen Jahren.
Aber auch nicht mehr so viel schaffen muss. Denn das scheint wohl das Schwerste zu sein, was man nach dem Verlassen des geregelten Arbeitslebens lernen muss: Dass man niemandem mehr beweisen muss, wie fleißig und vielbeschäftigt man ist. Obwohl augenscheinlich auch ältere Damen aus dieser Schleife nur schwer herauskommen.
Bei Männern scheint das noch schwieriger. Die scheinen noch viel eher abzustürzen, wenn sie auf einmal nicht mehr auf die Arbeit dürfen (müssen) und dann dasitzen und überhaupt nichts mehr mit sich anzufangen wissen. Aber es ist eben kein Männerbuch. Es ist ein Buch mit den nachdenklichen Texten von drei Frauen über das Alter, das ganz bestimmt anderen Frauen sehr nützlich sein kann, für sich eine neue Beziehung zum Alter und zum Leben zu entwickeln. Aufgelockert wird es mit klugen Sprüchen kluger Leute zum Altsein. So wie etwa diesem von Stefan Zweig: „Altwerden heißt ja nichts anderes, als keine Angst mehr haben vor der Vergangenheit.“
Es gibt so manches, was dann nicht mehr so wichtig aussieht, wie es sich in jungen Jahren gibt. Wobei auch das bei allen drei Autorinnen anklingt: Man interessiert sich zwar nicht mehr für alles, was die jungen Leute aufregt, aber man interessiert sich sehr wohl für die jungen Leute und ihre Sicht auf die Welt. Denn nichts ist einem ja im Alter näher als die eigene Jugend, keine Erinnerungen sind lebendiger. Aber für den Sinn, den jeder seinen letzten Jahren gibt, ist auch jeder selbst verantwortlich. Katrin Pieper: „Die Zeit muss neu geordnet werden und einen neuen Sinn bekommen, den man sich nur selbst schaffen kann, dann bietet die Zeit neue Farben, neue Horizonte.“
Sie betont aber auch – zu Recht – dass man nicht alles aufschieben sollte. Da denkt sie wie Roswitha Geppert: Das Leben ist zum Lebendigsein da und zum Erleben. Wer in seinem letzten Stündlein denkt „Ach hätte ich doch …“, der hat es leider gründlich vermasselt.
Roswitha Geppert; Heinke Thies; Katrin Pieper Zeit ist ein Geschenk, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2019, 9,95 Euro.
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