2010 hat Christine Arendt zum ersten Mal einen Band mit Erinnerungen an Kleinzschocher veröffentlicht, auch damals schon mit den Erinnerungen anderer Kleinzschocherscher. Es wurde „Ein Spaziergang, gepflastert mit Erinnerungen“. Das kennen zumindest jene Leipziger, die tatsächlich in Leipzig aufgewachsen sind. Dann hat man ganz andere Gefühle, die einen mit seinem Kindheitsort verbinden.

Die Erinnerungen der Älteren sind ein Schatz, ganz zu schweigen von den kleinen Archiven, die jede Familie hat: Fotoalben, gesammelte Eintrittskarten, Urkunden, Rechnungen längst verschwundener Händler im Ortsteil. Eigentlich müssten überall in Leipzig die Ortsteilforscher ausschwärmen, sammeln und Interviews führen. Denn anders werden die jüngeren Geschichtsepochen und grundlegenden Veränderungen in einem Ortsteil nicht bewahrt. Sie verschwinden einfach. Mit jeder entrümpelten Wohnung, mit jeder gedankenlosen Haushaltsauflösung, mit jedem älteren Nachbarn, der stirbt.

Denn anders als noch bis 1989, als auch Nachbarschaftsstrukturen noch sehr stabil waren und man die meisten Haus- und Straßennachbarn wenigstens vom Sehen, meistens aber auch aus persönlichen Gesprächen, Begegnungen in der Schlange beim Bäcker oder aus Schultagen kannte, ist mit den rasanten Veränderungen ab 1990 auch eine allgegenwärtige Anonymität eingekehrt. Nachbarn wechseln oft schneller, als man sich ihre Namen merken kann, man hat auch keine Austauschbeziehungen mehr miteinander wie damals, als vieles Mangelware war und jeder jedem half, wo man nur konnte.

Da braucht es schon eine wie Christine Arendt, die in ihrem Ortsteil tief verwurzelt ist und noch viele ältere Einwohner kennt, sich noch bestens an die Inhaber all der Geschäfte erinnert, an denen sie als Kind Schaufensterbummel gemacht hat, und die auch noch weiß, wen man fragen kann, wer etwas zu erzählen hat zu all diesen Wegmarken aus der Kindheit.

Und so entstand jetzt ihr zweites Buch „Unser Kleinzschocher“ „Lebensbilder und Überlieferungen“, das natürlich in ihrem Kindheitsareal am Schlossweg und der Schlippe zur Windorfer Straße beginnt. Diese Gegend dominierte ja auch im ersten Buch und einige Kleinzschochersche aus den westlich der Windorfer Straße gelegenen Straßen beschwerten sich augenscheinlich – freundlich, aber nachhaltig. Aber Arendt betont es nicht zu unrecht: Wirkliche Kindheitswelten spielen sich meist nur in ein, zwei Straßenzügen rund um das Elternhaus ab.

Hier kennt man die Leute. Hier hat man aber vor allem als Kind auch mit den Gleichaltrigen gespielt, jedes Detail in sich aufgesogen, den Kohlenmännern beim Kohlenschleppen zugeschaut, staunend in die Wäscherei mit der riesigen Wäschemangel gelugt, in den Wiesen am Schlossweg Abenteuer erlebt und – wenn man alt genug war – auch die Bombenabwürfe im Zweiten Weltkrieg, den Lärm der Flak und das Leiden der in Baracken untergebrachten Zwangsarbeiter mitbekommen. Wenn es Christine Arendt gelungen ist, auch wirklich betagte Bewohner des Ortsteils dazu zu bringen, ihre Erinnerungen aufzufrischen, dann erweitert das logischerweise die Dimension dieses Ausflugs in die Vergangenheit.

Einer Vergangenheit, die natürlich nur noch in den Erinnerungen der Älteren bewahrt ist. Denn auch so ein Ortsteil verändert sich. Das Schloss ist verschwunden und mit ihm die Schlossgärtnerei, etliche der sichtlich damals schon ärmlichen Häuser am Schlossweg (dem heutigen Kantatenweg) sind abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden.

Und man braucht schon das Wissen der Einheimischen, um an der Windorfer und an der Dieskaustraße noch zu rekonstruieren, wo der Bäcker der Kindheit einst sein Geschäft hatte, der Maler, der Friseur, der Fischhändler. Manchmal muss man noch gar nicht uralt sein, denn bis zur „Wende“ hatten noch dutzende Kleingewerbetreibende am Kleinzschocherschen Boulevard, der Dieskaustraße, ihr Auskommen.

Weit über die Grenzen des Landes hinaus beliebte Faltboote wurden hier gebaut, die einstige Handelsschule hat sich zu einem renommierten Kunst-Ort verändert und der „Kosmos Ruststraße“ existiert auch nur noch in der Erinnerung Horst Lüddickes, genauso wie das einst beliebte Ausflugslokal „Elstertal“ in der Rödelstraße nur noch Erinnerung ist, von dem heute nur noch die alten Bäume im einstigen Freisitz stehen. Verschwunden ist die im Nachbarortsteil stehende Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft, wo viele Kleinzschochersche einst Arbeit fanden. Ein Figaro entpuppt sich als Freigeist, die Bäckerfamilie Oehm bekommt ein Gesicht und in einem Schuhgeschäft wird an die alte Tradition des Seilerhandwerks in Kleinzschocher erinnert.

Natürlich kommen auch jüngere Entwicklungen ins Buch – so die erfolgreiche Arbeit in der Taborgemeinde und die Sanierungserfolge an der unverwechselbaren Kirche seit 1990, die Triathlon-Biografie des „Radwelt“-Betreibers Sven Bemmann und das Ende einer beliebten Eckkneipe an der Wigandstraße, die den überschnappenden Mietpreisen der Nach„wende“zeit zum Opfer fiel. Das Buch macht wieder auf vielfältige Weise sichtbar, was alles selbst aus persönlichsten Lebensgeschichten bewahrenswert ist, weil es unersetzliche Puzzle-Teile zur Ortsteilgeschichte beiträgt, die sonst niemand schreiben würde.

Alle einst selbstständigen Dörfer, die nach Leipzig eingemeindet wurden, verlieren mit der Eingemeindung auch ihre eigene Geschichte, weil sie in der großen Stadtgeschichte einfach verschwindet, nicht so wichtig erscheint. Dabei wird oft erst auf dieser Ebene wirklich sichtbar, wie Menschen lebten,wie all jene Strukturen entstanden, die für Menschen erst Heimat bedeuten. Und wenn das niemand sammelt und aufbewahrt, dann verschwindet nicht nur diese Erinnerung. Dann verlieren Menschen auch die Beziehungen zu dem Ort, an dem sie wohnen, kümmern sich nicht mehr, engagieren sich nicht mehr.

Es gibt nur wenige Leipziger Ortsteile, wo so emsig gesammelt wird. Die meisten verwandeln sich, weil die Erinnerungen fehlen, in Orte ohne Gedächtnis. Zu trügerischen Orten, die nicht mehr verraten, wie schnell sich selbst in so einem kleinen Teil der Welt alles ändern kann, wie also Geschichte passiert. Und zwar schneller, als man gedacht hatte.

Christine Arendt „Unser Kleinzschocher. Lebensbilder und Überlieferungen“, Pro Leipzig, Leipzig 2019, 15 Euro

Hinweis der Redaktion in eigener Sache (Stand 1. Oktober 2019): Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen und ein Freikäufer-Abonnement abschließen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 450 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar