Es gibt Zeiten, da muss man die Fotos einer anderen Zeit immer wieder zeigen. Auch als Warnung an all jene, die schon wieder innerlich von einem unberatenen Nationalismus besoffen sind und völlig ausblenden, dass der immer wieder im Extrem endet: in Kriegen, Katastrophen und einer zerstörten Stadt. Wenn man Karl Heinz Mais Bilder aus dem Leipzig der Nachkriegszeit sieht, ist man verdammt froh, in dieser harten Zeit nicht gelebt haben zu müssen.

Die ganz Alten unter uns werden sich noch an diesen bitteren Nachkrieg erinnern, an eine großflächig in Trümmern liegende Innenstadt, an Hunger, Waisenkinder auf den Straßen, Behelfsunterkünfte in halbkaputten Häusern, leere Schaufenster und die liebe Not, auch nur das Notwendigste zum Leben zu bekommen. Eine Zeit, die mit den direkten Nachkriegsjahren 1945 und 1946, als Karl Heinz Mai mit dem Fotografieren begann, nicht endete.

Der erste große Sammelband mit den eindrucksvollsten Fotos aus der Werkstatt Mais erschien ja schon 2007 bei Pro Leipzig. Schon seit den 1980er Jahren hatte es einzelne Veröffentlichungen und Ausstellungen gegeben. Seitdem war dieser besondere Fotograf wieder präsent im Gedächtnis der Stadt. Heute gehört er zu den bekanntesten deutschen Nachkriegsfotografen, auch wenn er selbst damit wohl nie gerechnet hätte.

Mai war eigentlich ausgebildeter Kaufmannsgehilfe. Doch schon wenige Monate nach seinem Berufsantritt wurde er zur Wehrmacht eingezogen und schon 1941 schwer verwundet. Er verlor beide Beine, war also fortan auf einen Selbstfahrer mit drei Rädern angewiesen. Mit 21 Jahren war er also Invalide. Als er 1948 im ersten Nachkriegsadressbuch der Stadt Leipzig unter der Adresse Wilhelm-Plesse-Straße 7 auftauchte, stand daneben: „Rentner“. 1949 heiratete er und zog mit seiner kleinen Familie nach Möckern in die Dantestraße. Aber er war keiner, der zu Hause sitzen konnte und nichts tun. Schon im Krieg hatte er sich die erste Kamera gekauft. Nach dem Krieg fuhr er mit seinem Dreirad immer wieder in die Innenstadt, um zu fotografieren.

Anfangs sichtlich vom Wunsch getrieben, auf Film festzuhalten, was der Krieg mit seiner Heimatstadt und ihren Bewohnern angerichtet hatte. Da traf er Männer, denen es ebenso erging wie ihm, die mit schwersten Verwundungen aus dem Krieg zurückgekommen waren. Er hielt auch die Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft im Bild fest, die Umsiedler, wie sie damals genannt wurden, die Schwarzmarkthändler und die Trümmerfrauen, aber auch Holzsammlerinnen im Rosental, die Bettler und die Hamsterfahrer. Und natürlich die Ruinen der zerstörten Stadt, ganz so, als wolle er den Nachgeborenen immer wieder zeigen: Seht euch das an! Das darf nie wieder passieren!

Dachte er so? Er hat Tagebuch geführt. Doch auch Andreas Mai hat 2007, als er den großen Band mit den Fotografien des 1964 Verstorbenen herausgab, keine Auszüge daraus veröffentlicht. Unübersehbar ist freilich: Karl Heinz Mai sah, dass diese zertrümmerte Stadt eine Mahnung war, ein historisch einmaliger Zustand, der so nicht bleiben konnte. Denn Menschen halten solche Zustände nicht aus. Sie gehen umgehend daran, ihre Stadt wieder aufzubauen, auch wenn die Mittel – wie man in den Bildern sieht – kärglich sind. Mai hat die Trümmmerbahnen fotografiert, mit denen der Schutt aus der Stadt geschafft wurde.

Damit hat er auch noch ein letztes Mal die Reste jener Gebäude fotografiert, die in den Folgejahren komplett aus dem Stadtbild verschwanden. Denn der Wiederaufbau gehörte auch zum Gründungsmythos der DDR. Und es wurde wieder aufgebaut. Die exemplarischen Bauten dieser frühen Zeit sind alle in Mais Fotos zu sehen: die Bauten am Rossplatz, die neue Hauptpost, die neue Oper oder das neue Messehaus am Markt. Mai hat viele dieser Veränderungen fotografiert, als das augenscheinlich für die offizielle Presse des Landes überhaupt noch kein Thema war. Oder existieren solche Fotoserien der damaligen Pressefotografen noch in den Zeitungsarchiven irgendwo?

Wie wertvoll Mais Aufnahmen waren, hat man damals schon im Stadtgeschichtlichen Museum und im Staatsarchiv begriffen und einige wichtige Aufnahmen aufgekauft. Manchmal war Mai auch direkt im Auftrag unterwegs. Und er ist viele Kilometer durch die Stadt gerollt, um seine Fotos zu machen. Und da es ihm nicht nur um Gebäude ging, sieht man in seinen Fotos auch das Alltagsleben der Stadt eingefangen, dunstige Straßenszenen, in denen die Leipziger dick eingemummelt zur Arbeit laufen, Straßenarbeiter, Messebesucher und immer wieder Kinder, die in den Trümmerlandschaften spielen.

Einzigartig sind seine vielen Aufnahmen vom Abbruch des Gerberviertels. Nur in diesen Fotos ist überhaupt dokumentiert, was für ein vielfältiges und von Altbebauung geprägtes Viertel das war. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Die Strukturen sind völlig verschwunden, genauso wie das durchaus pittoreske und gleichzeitig armselige Leben in den alten Häusern und dunklen Innenhöfen. Ähnliches sieht man auch auf Mais Aufnahmen aus dem Seeburgviertel, das zwar nie so komplett abgerissen wurde wie das Gerberviertel. Aber die Brachen im Seeburgviertel, die heute – nach über 70 Jahren – wieder bebaut werden, waren damals noch dicht bebaut. Hier wurde bis 1985 immer wieder stückweise abgerissen, wenn ein Haus bei all der Vernachlässigung wirklich nicht mehr zu retten war.

Und man ahnt natürlich auch, mit welchem Feuereifer auch ab 1949 darangegangen wurde, die Stadt völlig neu aufzubauen. Solche Komplettabrisse wie im Gerberviertel waren ja noch viel mehr geplant. Und die Aufbaugeschwindigkeit am Rossplatz und am Georgiring versprach ein geradezu berauschendes Aufbautempo. Doch das wurde ja bekanntlich nicht lange durchgehalten. Zum Glück, kann man heute bei manchem dennoch erhaltenen Straßenzug sagen.

Trotzdem beinhaltet diese Auswahl von Mais Fotografien zwei große Kapitel zur „Verlorenen Stadt“. Als die Bilder erstmals online veröffentlicht wurden, waren viele Leipziger beteiligt daran, die fotografierten Straßen und Plätze überhaupt erst einmal zu identifizieren. Denn oft haben sich die örtlichen Ansichten seit Mais Druck auf den Auslöser so gründlich verändert, dass meist nicht einmal Ortskenntnis mehr hilft, die Aufnahme zu lokalisieren.

Manche Bilder haben auch regelrecht ikonischen Charakter, weil Mai nicht nur die richtige Lichtstimmung erwischt hat, sondern auch wusste, wo er sich mit seinem Gefährt platzieren musste, um mit dem Bild eine hochemotionale Geschichte zu erzählen. Das trifft zum Beispiel auf seine Fotos von der Sprengung der Katholischen Kirche in der Westvorstadt zu. Ebenso eindrucksvoll sind die Trümmer des Johanniskirchturms, die Bilder vom Hochwasser 1954 oder die von fliegenden Händlern oder den Menschentrauben an den Leipziger Straßenbahnen.

Indem der Lehmstedt Verlag Karl Heinz Mai in sein Programm mit aufgenommen hat, reiht er ihn auch ein in die Reihe der großen ostdeutschen Fotografen, deren Fotografien noch in Generationen erzählen werden, wie das Leben im Osten wirklich war. Und auch das hat Mai mit Melis, Steinert, Fischer und Weber gemeinsam: Die meisten Fotos hat er im „Selbstauftrag“ angefertigt. Er ist einfach losgefahren, weil es ihm wichtig war, die Wirklichkeit zu dokumentieren, wie sie war. Und mit der Kamera eben auch dabei zu sein, wenn sie sich änderte.

Nur so entsteht mit der Zeit aussagekräftige Dokumentarfotografie, erzählen Bilder auch noch den Nachgeborenen, wie hart das Leben in diesem Moment der Leipziger Geschichte war, den Karl Heinz Mai bis 1964 im Bild festhalten konnte. Ein Moment, der auch in Mais Bildern zunehmend an Helligkeit gewinnt und vor allem Menschen zeigt, die sich nicht unterkriegen lassen, die wieder anpacken und die Stadt so weit in Ordnung bringen, wie das in ihren Kräften steht.

Vielleicht braucht wirklich jede Generation so eine Herausforderung, um das Gefühl zu bekommen, gefragt und gebraucht zu werden. Wozu man freilich nicht erst Kriege führen muss. Zu tun gäbe es genug. Aber vielleicht wird man über uns später sagen: Sie hatten so eine schöne Stadt. Und dann haben sie es trotzdem vergeigt …

Karl Heinz Mai Reporter auf drei Rädern, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 24 Euro.

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