Deutschland ist Exportweltmeister. Sorry: „Exportweltmeister“. Dass Deutschland auch 2019 mit 276 Milliarden Euro wahrscheinlich wieder einen neuen Rekord-Handelsüberschuss erwirtschaftet ... sorry: „erwirtschaftet“, denn es hat nichts, wirklich nichts mit der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte zu tun. Das ist ein Märchen, das auch einst jubelnde deutsche Zeitungen nicht mehr so richtig glauben können.
Auch wenn das dann gleich wieder sehr technokratisch klingt, wenn etwa die „Zeit“ am 13. September schrieb: „Viele Ökonomen sehen den Überschuss kritisch. ,Deutschland baut damit mehr finanzielle Forderungen gegenüber dem Ausland auf als das Ausland gegenüber Deutschland‘, sagte Grimme. Schließlich werden nicht nur Autos, Anlagen und Chemikalien ins Ausland geliefert, sondern Kredite zu deren Finanzierung gleich mit. ,Deutschland ist deshalb auch Weltmeister beim Kapitalexport‘, sagte Grimme dazu. Das kann dann zum Problem werden, wenn es zu Zahlungsausfällen kommt – etwa wenn das Ausland nicht mehr fähig ist, die Zinslast zu bedienen.“
Der zitierte Herr Grimme ist Ökonom Christian Grimme vom ifo-Institut, der hier nach einer Reuters-Meldung zitiert wird. Was schon etwas zeigt, was für große deutsche Zeitungen sehr typisch ist: Sie stehen nicht im Stoff und zitieren dann die trockenen Ökonomen jener Institute, die ganz bestimmt nicht wirklich untersuchen, was hinter dem deutschen Exportüberschuss wirklich steckt.
„Eine Leistungsbilanz zeigt an, dass das betreffende Land mehr produziert als verbraucht hat“, schreibt zum Beispiel die „Zeit“.
Man merkt schon: So richtig bereit, das Märchen zu hinterfragen, ist man dort nicht. Denn mit deutscher Sparsamkeit im Verbrauch hat das alles nichts zu tun. Das erklärt Herbert Storn jetzt in diesem Buch etwas ausführlicher, gespickt mit amtlichen Tabellen und – im zweiten Teil des Buches – auch mit Vorschlägen, wie diese Ungleichgewichte, mit denen Deutschland auf Kosten anderer Länder lebt, abgebaut werden können.
Sorry: Ja, man stolpert wirklich immer wieder über all die falschen Worte, die heute in unserem täglichen Sprachgebrauch dominieren. Seit vier Jahrzehnten eingehämmert in die Gesellschaft. Was übrigens auch erklärt, warum so viele Menschen – auch und gerade Politiker – aus diesen Denkschablonen einfach nicht ausbrechen können.
Denn es ist ja nicht Deutschland, das von den Exportüberschüssen profitiert. Bestenfalls indirekt, indem es quasi Arbeitslosigkeit exportiert. Aber von den Exportüberschüssen hat weder die breite Bevölkerung etwas, noch partizipiert der Staat davon. Im Gegenteil: Obwohl Deutschland derart gewaltige Handelsbilanzüberschüsse generiert, ist der Staat seit über 20 Jahren flächendeckend unterfinanziert.
Das merken die Bundesbürger längst allerorten – die Kommunen sitzen auf einem riesigen Investitionsstau von 159 Milliarden Euro (2008 betrug er nur 84 Milliarden Euro), die Bahn verwaltet ein Investitionsloch von über 80 Milliarden Euro, kämpft mit Verspätungen, fehlendem Personal und Verschleiß im Netz. Das Gesundheitswesen ist so kaputtgespart, dass in vielen Regionen die Ärzte fehlen, die Krankenhäuser in die roten Zahlen rutschen und das Pflegepersonal entweder frustriert kündigt oder dauerhaft krank wird.
Das sind nur einige der Phänomene, die das so gern beschworene Wachstumsdenken in Deutschland hervorgebracht hat. Und die Bürger merken es ja: Da wird ihnen jeden Tag das Lied vom Wachstum gesungen, das BIP wächst und wächst und wächst – aber die simplen Dienstleistungen des von ihnen steuerfinanzierten Staates schrumpfen, werden immer lückenhafter und schlechter.
Gerichte sind – wegen Richtermangels – überlastet, die Polizei wurde über Jahre geschrumpft, vom „Lehrermangel“ in den Schulen kann man Trauerlieder singen, das wissenschaftliche Personal an den Hochschulen arbeitet prekär und zeitbefristet. Egal, wo man hinschaut: Wenn es um die wichtigsten staatlichen Aufgaben geht, dann galt über Jahre immer das Motto: Zu teuer. Können wir uns nicht leisten.
Auch in Sachsen.
Dass dahinter freilich eine Doktrin steckt, die auf erstaunliche Weise dem „America First“ von Donald Trump ähnelt, weiß kaum jemand. Dazu braucht man nämlich ein Elefantengedächtnis. Und dann landet man bei zwei Bundeskanzlern, die alles dafür getan haben, „Germany first“ zur politischen Doktrin zu machen. Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD).
Was gehört dazu?
Eine rigorose Niedriglohnpolitik, die dafür sorgt, dass Deutschland billiger produzieren kann als die Wettbewerber auf dem Weltmarkt. Deutschland hat heute den größten Niedriglohnsektor in der EU. Und die wichtigste Treibpatrone dazu heißt: „Agenda 2010“. Denn damit wurde die Angst eingepflanzt in die Welt der deutschen Arbeitnehmer. Denn wer nicht pariert, wird sanktioniert. Das Arbeitsamt wurde zur Sanktionsagentur, in der die arbeitslos Gewordenen so entmündigt werden, dass sie bereit sind, auch noch den schlimmsten Billigjob anzunehmen.
Und diese Angst zerfrisst nicht nur die acht Millionen, die da unten regelmäßig landen. Die sitzt als Panik auch in der glorreichen Mittelschicht. Die immer wieder dieselben Parteien wählt, die dafür sorgen , dass sie mit „Hartz IV“ allesamt richtig Panikfeuer unterm Hintern kriegen.
Der riesige Niedriglohnsektor sorgt übrigens mit dafür, dass Deutschland weniger importiert, also den anderen Ländern abkauft. Denn 8 Millionen Menschen im Prekariat bedeuten nun einmal zweistellige Milliardenbeträge beim Konsum – die einfach nicht ausgegeben werden können, weil die Leute das Geld nicht haben.
Was braucht man noch?
Eine Währung, die die wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands nicht abbildet. Das ist der Euro. Der verteuert für alle wirtschaftlich nicht so starken Euro-Länder Waren und Kredite, für Deutschland, den fetten Primus, macht er alles billiger. Deutschland könnte also eigentlich mehr einkaufen. Oder mehr Schulden machen. Macht es aber nicht. Wenn es um europäische Solidarität geht, ist Deutschland ein Versager.
Denn der dritte Notnagel für das eigene Land ist die „Schwarze Null“, die an sich ja noch Sinn machen würde, wenn Deutschland ein gerechtes Steuersystem hätte. Aber mit der Abschaffung der Vermögenssteuer unter Kohl und dem rabiaten Absenken des Spitzensteuersatzes auch noch unter Schröder, ist das deutsche Steuersystem völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die Superreichen und Höchstverdiener haben ihre Steuerzahlungen in die gemeinsame Kasse um zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr abgesenkt.
Die Tabelle mit den Steuerausfällen durch Steuerrechtsänderungen findet man auf Seite 44 im Buch. Bis 2009 waren es im Schnitt 30 Milliarden Euro, die dem Staat jedes Jahr entzogen wurden. Danach waren es durchschnittlich 50 Milliarden. Und da kann man ruhig Volker Pispers zitieren: „Der Staat ist eben nicht das gefräßige Monstrum, das Steuerzahlerbund und Konsorten jedes Jahr malen. Der Staat, das sind wir. Denn der Staat baut mit unseren Steuergeldern Schulen, Straßen, Brücken, bezahlt Lehrer, Polizisten, Richter …“
Das ist nämlich die nächste Säule der riesigen Umverteilung: Damit das Geld bei den Reichen bleibt, wird es (mit faulen Parolen) dem Staat entzogen. Was auch dafür sorgt, dass auch der Staat zu wenig im Ausland einkauft. Er fällt ebenfalls als Konsument aus. Das ist der zweite fette Batzen, der zum „Exportüberschuss“ beiträgt.
Aber wenn es um Staatsausgaben geht, jammern die Lobbyvereine der großen Unternehmen ja immer über die „ausufernden Sozialkosten“. Obwohl sie selbst mit ihrer Niedriglohnpolitik dafür gesorgt haben, dass Millionen Menschen ohne staatliche Hilfe gar nicht mehr über die Runden kommen. Auch und gerade die, die Arbeit haben.
Und mit Storn wird dann noch deutlicher, was das eigentlich mit der billigen Industrienahrung in unseren Supermärkten und der Industrialisierung der Landwirtschaft zu tun hat. Denn die acht Millionen würden ja irgendwann rebellieren wie die Bauern 1789 in Frankreich, weil sie sich nicht mal mehr etwas zu Essen leisten können. Aber wenn das Zeug industriell und mit niedrigsten Produktionskosten hergestellt wird (oft aus Zutaten, die der Käufer lieber gar nicht wissen will), dann ist die Nahrungsversorgung im Billigmaßstab gesichert. Discounter beherrschen die Landschaft.
Gerade gerät das Konstrukt der niedrigen Lebenserhaltungskosten ja ins Rutschen, weil die Reichen, die mit ihrem steuerersparten Geld schon gar nicht mehr wissen wohin, alles aufkaufen, was auch nur wie eine Immobilie aussieht. Das jagt in den Großstädten die Mieten in die Höhe. Normalverdiener können sich das nicht mehr leisten. Man ahnt schon, wie der Zorn und der Unmut in den Provinzen wächst. Die Menschen sind ja nicht doof. Sie merken, wenn sie – trotz all ihrer Mühe – um den Lohn für ihre Leistung betrogen werden.
Dumm sind sie nur, wenn sie dann ausgerechnet rechtsradikale Parteien wählen, die die ganzen neoliberalen Rezepte noch viel verschärfter im Parteiprogramm stehen haben. Ein Staat aber, dem jedes Jahr 50 Milliarden Euro entzogen werden, die ganz unübersehbar nicht wieder in das Land investiert werden, hat irgendwann keine Spielräume mehr, soziale Härten abzufedern. Deswegen können die Apologeten des „Wachstums“ auch immer behaupten, das Geld sei gar nicht da für solche „Wohltaten“ – Grundrenten zum Beispiel.
Wenn jemand so argumentiert, darf man ruhig ahnen, wie viele Milliarden die eh schon Satten und Gierigen seit 30 Jahren dem Staat entzogen haben. Denn dazu kommen ja noch die ganzen Tricksereien mit sogenannten Steueroasen, von Cum Cum und Cum Ex ganz zu schweigen.
Aber ihren eigentlichen Anteil am „Exportüberschuss“ nehmen sich ja die Superreichen schon, bevor das Unternehmen überhaupt Steuern zahlt – über Ausschüttungen an die Eigner und über millionenschwere Abfindungen von Managern und Aufsichtsräten. Aufsichtsräten, in denen dann fast automatisch all jene Politiker gelandet sind, die unter Kohl und Schröder die Plünderung der Staatskassen vorangetrieben haben. Immer mit denselben Argumenten.
Und auch schon unter Kohl mit der faulen Behauptung, Private könnten Leistungen für den Staat billiger erbringen als der Staat selbst. Weshalb ja alles Mögliche verscherbelt wurde oder versucht wurde zu verscherbeln. Mit dem Ergebnis, dass es hinterher für den Bürger teurer wurde und sich der Service radikal verschlechterte, egal, ob Bahn, Post oder – in einigen Städten ja im Wahnsinn durchgaloppiert – die Wohnraumversorgung (Berlin und Dresden), Wärme, Strom oder – ja, auch das – die Arbeitsleistung der Regierung.
Denn dafür ist die Merkel-Regierung symptomatisch, dass fast alle Ministerien ihre Leistungen an Beraterfirmen ausgelagert haben. Von den Unternehmen ganz zu schweigen, die ihre Leute direkt ins Ministerium entsendet haben und die Gesetze schon mal fertig formulieren.
Wer nicht blind ist, merkt, wie sich der deutsche Staat in den vergangen 30 Jahren entmachtet hat. Und wie damit auch die Macht immer weiter abgewandert ist – weg von den gewählten Parlamenten hin zu jenen riesigen Unternehmen, die nicht nur die Gesetze in ihrem Sinn umschreiben lassen, sondern auch das Lied von der Privatisierung genauso beharrlich singen wie die Melodie des weltbeglückenden Freihandels.
Zum Freihandel findet sich logischerweise genauso ein Kapitel im Buch wie zur fatalen (und verlogenen) Rolle Deutschlands innerhalb der EU. Denn all die „Gesetze aus Brüssel“, über die immer so eifrig von den Lobbyisten lamentiert wird, wurden meistens auf Druck von Deutschland durchgesetzt und in Hinterzimmern ausgehandelt.
Logische Folge: Genau diese Politik zerstört Europa, sorgt dafür, dass gerade die Südstaaten unter verschärften Verschuldungsverboten leiden, die Sozialsysteme abbauen (in Griechenland gleich mal auf Weisung aus Deutschland) und unter einer Unlösbarkeit der Widersprüche leiden, die sie nicht mehr lange aushalten werden. Auch dort merken die Wähler ja, wie wenig es ihnen nützt, wenn sie eine andere Regierung wählen, wenn sich selbst die radikalste Regierung dann dem TINA-Diktat (Margaret Thatcher: „There is no alternative!“) aus Berlin beugen muss, dieser massiven Denkfalle, die dafür sorgt, dass kaum noch ein Politiker aus den Denkschablonen des Neoliberalismus ausbrechen kann.
Das Ergebnis ist genau das, was sich im Misstrauen der immer wieder befragten Bürger in die Demokratie ausspricht: Die Hälfte der Deutschen misstraut der Demokratie, wie sie jetzt ausgeübt wird. Obwohl fast 90 Prozent die Demokratie an sich toll finden. Manche ahnen zumindest, dass ihr Gefühl, politisch keinen Einfluss zu haben, wohl stimmt. Und dass das mit Einfluss und Macht zu tun hat, die nun einmal 90 Prozent der Menschen nicht haben. Denn wer nichts daran ändern kann, dass das Geld, das er miterwirtschaft, permanent nach oben fließt, zu den 10 Prozent, die in Deutschland 64 Prozent allen Vermögens besitzen, der hat keinen Einfluss.
Der wird nur mit den Folgen einer trickreichen Steuerpolitik konfrontiert, die dafür sorgt, dass sämtliche staatlichen Leistungen in den letzten 30 Jahren immer schlechter wurden und direkt vor seiner Nase einfach eingespart wurden: Krankenhaus, Schule, Zugverbindung, Bushaltestelle, Ärztestation, Gemeindeverwaltung, Polizeistation …
Und so weiter.
Das propagierte „Wachstums“-Denken, von dem so ganz ersichtlich die meisten Menschen gar nichts haben, zerfrisst also nicht nur die Funktionsfähigkeit des Staates, sondern auch die Demokratie. Denn nichts anderes sahen wir doch bei den letzten Wahlen: Ein um sich greifendes Misstrauen in die Demokratie und in die bislang tragenden Parteien dieser Politik, die sich tief verheddert haben in der Denkweise des Neoliberalismus. Und da wohl auch nicht mehr herauskommen.
Oder vielleicht doch?
Im zweiten Teil seines Buches versucht Storn wenigstens etwas Hoffnung zu säen, ein paar Alternativen zu skizzieren (und eine bessere Steuerpolitik mit einer deutlich besseren Binnenfinanzierung wäre wirklich mal ein Anfang), aber auch für eine kritische Masse zu werben. Denn ein Nebeneffekt des TINA-„Wachstums“-Denkens ist auch die um sich greifende Lethargie, das Gefühl, dass man ja nichts ändern könne, das viele Menschen ergriffen hat. Auch solche, die sich über Jahre engagiert haben und irgendwann gemerkt haben, wie sie immer wieder an denselben Bollwerken und denselben Gummi-Phrasen abprallten.
Aber ohne sie gibt es keine Veränderung und gibt es auch keinen echten Aufbruch in Deutschland. Das malt Storn gar nicht groß aus, man kann es sich aber leicht vorstellen, was Deutschland auslösen könnte, wenn es wirklich jedes Jahr 50 Milliarden Euro mehr in Bestandserhalt und den Umbau zu einer neuen klimaschonenden Wirtschaft investieren würde. Das Geld ist da. Wer etwas anderes sagt, lügt.
Und es wäre genau die Konjunkturspritze, die auch den Nachbarländern helfen würde.
Es wäre noch nicht die ganze Lösung. Denn ohne eine echte Steuerharmonisierung in der EU und ein Schließen der innereuropäischen „Steueroasen“ geht es ebenso wenig wie ohne andere Regeln für den Euro.
Aber das Gewicht des Buches liegt vor allem in der Entlarvung der wichtigsten Mythen über den „Exportweltmeister“ und sein verlogenes „Wachstum“. Wenn man weiß, wie all die Reformen unter Kohl und Schröder genau zu dem geführt haben, was wir heute als Zerreißprobe erleben, dann weiß man, wo man ansetzen müsste. Oder könnte, wenn man den Mumm dazu hat. Oder den Verstand, die katastrophalen Folgen dieser Politik sehen zu wollen.
Na ja, da sieht es, wenn man das amtierende politische Personal so anschaut, ein bisschen trübe aus.
Herbert Storn Germany first! Die heimliche deutsche Agenda, Büchner Verlag, Marburg 2019, 18 Euro.
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Keine Kommentare bisher
“Das Geld ist da. Wer etwas anderes sagt, lügt.”
Das kann man garnicht laut genug sagen.