Alles fängt mit einem falsch angeketteten Fahrrad an und es endet auf einem zugefrorenen See mit Lagerfeuer und einem gealterten Helden, der auf einmal von zwei Frauen zur Liebe aufgefordert wird. Zwei Frauen, die beide mit auffliegenden Papageien tätowiert sind – auch an intimster Stelle. „Eine große, verstrickte Liebesgeschichte“, nennt es der Verlag, was der Dresdner Autor Michael G. Fritz in seinem neuen Roman erzählt.
Es könnte also sein, es wird eine jener Liebesgeschichten aus dem Osten, in der sich zwei oder drei begegnen, die sich nach dem großen Kladderadatsch wiederfinden und merken: Sie sind sich immer noch zutiefst vertraut.
Es könnte auch abdriften in eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte, in der sich zwei oder drei oder vier finden, die in außergewöhnlicher Liebe einen neuen Halt finden in einer kalt und unbegreiflich gewordenen Welt.
Es könnte auch die Geschichte um den rätselhaften Vierten werden, Gussew, den Mann, dessen Liebesbriefe an seine einstige Partnerin Arno dereinst gefunden hat in einem Buch von Truman Capote.
Es könnte auch sein, die Geschichte geht gar nicht irgendwie aus und endet auf dem Eis: „Arno scherte sich auch nicht um das Eis, das zwar ächzte, aber nicht schmolz, das Eis hielt, bis jetzt.“
Alles bleibt unverhofft stehen in einem Bild. Alles ist möglich. Alles ist unmöglich geworden. Und man bekommt doch nur eine Liebesgeschichte, in der ein im Dienst als Freier Journalist ergrauter Arno sich noch einmal begehrt fühlen darf zwischen den beiden Frauen, die ihn in seinem Leben tatsächlich eingenommen haben: Angelika, seine Kindheitsfreundin und Jugendliebe, mit der er zusammenlebte, bis mit dem Zusammenbruch der DDR auf einmal auch Angelika aus seinem Leben verschwand, ihn einfach verließ.
Und nur die folgenden Verhöre bei der Polizei machten Arno bewusst, dass Angelika ein Doppelleben geführt hatte und dabei in Kreisen gelandet war, die im Wendejahr nichts Wichtigeres zu tun hatten, als einen Teil des streunenden Volkseigentums beiseite zu schaffen. 30 Jahre lang verschwand sie aus seinem Leben, war untergetaucht mit jenem mysteriösen Gussew, der jetzt auf einmal in Arnos Leben auftaucht.
Eigentlich eher aus Zufall. Denn dass seine neue Bekanntschaft Lilly mit diesem Gussew zu tun haben könnte, konnte Arno nicht ahnen, als er mit der selbstbewussten Berlinerin Bekanntschaft schloss. Sie wieder gehört nun zu jenen selbstbewussten Frauen, die keine Lust darauf haben, sich den Erwartungen einer Jobwelt auszusetzen, in der von den Jobbern nichts anderes erwartet wird, als stromlinienförmig mitzufließen.
Sie möchte gern ein eigenes Café aufmachen. Aber wie macht man das in Deutschland ohne Geld? Das geht nur mit Mäzenen. Und siehe da: Ihr Mäzen ist Gussew, der nun wieder aufgetaucht ist und dessen Bekanntschaft Arno nun nicht mehr ausweichen kann und auch nicht will. Denn die Sache mit Angelika beschäftigt ihn immer noch. Man wird die Frauen, die einem wirklich einmal wichtig waren, nicht los.
Obwohl er schnell merkt, dass dieser Gussew nicht nur ein Mann mit Charisma ist, der weiß, wie man andere beeindruckt (und herumkommandiert). Gussew macht auch seine Geschäfte nach wie vor mit den Vertretern jener alten Nomenklatura, die in der DDR einst das Sagen hatte, Befehle gab und am Ende auch ohne wirkliche Verluste im Staat des verhassten Klassenfeindes landete, wo man seine Kontakte weiter pflegte, sich in eigenen Welten abschottete und am liebsten auch unter Gleichgesinnten blieb.
Gibt es diese Leute tatsächlich noch? Möglich ist das, denn irgendwo müssen ja die Überzeugten und Stahlgehärteten geblieben sein. Und bei einigen Vorgängen in Ostdeutschland darf man ja durchaus das Gefühl haben, dass etliche dieser verhärteten Gesichter zu Leuten gehören, die weder in der DDR noch danach gelitten haben. Die aber wissen, wie man sich das dickste Stück vom Kuchen nimmt. Und dass Gussew einst in diesen Kreisen groß wurde, lässt Fritz zumindest an einigen Stellen durchschimmern.
Und an einer Stelle lässt er es eine seiner Figuren, die im Stasi-Knast seelisch zerbrochene Frau eines Arztes, den Helden der Geschichte regelrecht ins Gesicht sagen. Sie ist zwar gebrochen – aber sie merkt noch, wenn sie es mit diesen Typen von damals zu tun hat.
Na hoppla: Der Roman hat einen doppelten Boden. Arno läuft tatsächlich über knackendes Eis. Vielleicht macht ihn die Liebe blind. Denn eigentlich hat er für die Verstrickungen Angelikas schon bezahlt – damit nämlich, dass ihm eine Festanstellung als Journalist immer verwehrt blieb. Er wird mehr oder weniger nur geduldet als Lieferant für die Beilagen, wo er zu allerlei Boulevardthemen schreibt. Mittlerweile so routiniert, dass ihn Gussew einfach abwirbt, um ein neues Online-Magazin aufzumachen, wo es nur um ostdeutsche Ess- und Lebensart gehen soll.
Ein Magazin, das sofort eine gewaltige Resonanz bekommt, denn darin darf sich auch das heute so deftig aufgekochte Gefühl von deutscher Kultur und Widerständigkeit wieder austoben. Genau das, was sich im Osten ja als seltsame Melange aus Ostalgie und sturem Neu-Nationalismus heute politisiert.
Arno weiß also, wo er da hineingeraten ist. Und lässt sich trotzdem darauf ein, versucht sogar, dem gerecht zu werden, was dieser Gussew vielleicht in ihm sieht. Denn dass Gussew ihm sagt, er sei in Ordnung, regt augenscheinlich seinen Trieb an, es Gussew jetzt auch zu beweisen.
Auch wenn es am Ende auf eine kleine Tragödie hinausläuft, als Arno ersatzweise zum Fahrer des Selbstherrlichen wird und dabei in seiner Nervosität ausgerechnet den Hund überfährt, der in dieser Geschichte so etwas wie die treueste aller Seelen ist. Hernach landet man dann irgendwo in der märkischen Pampa, an jenem See, der in einer frostigen Nacht zugefroren ist und auf dem die Dörfler feiern.
Und das in einem Kapitel, das mit den Worten begann: „Der Tag begann mit einem Unglück.“ Ein Anfang, der alles Mögliche vermuten lässt, der wie der Anfang aussieht für einen gewaltigen Showdown, in dem einer der Helden oder Heldinnen vom Schicksal zermalmt wird. Vielleicht gar Gussew. Aber es endet mit jener Szene auf dem knirschenden Eis. In einer seltsam unsicheren Situation. Gussew ist lieber wieder zum Auto zurückgelaufen. Nur Lilly, Angelika und Arno blieben zurück, vereint in einer seltsamen Liebesbeziehung. Aber eigentlich völlig anhängig von diesem Gussew.
Ein stiller, einvernehmlicher Ausbruch? Oder ein ganz bewusst schwebend gelassenes Ende, so schwebend wie eine Gegenwart, die zwar so eine intensive Liebe nicht kennt. Aber diese unheimlichen Begegnungen mit einer Vergangenheit, die nicht wirklich abgehakt ist, die immer wieder auflodert mit dieser Attitüde des Verschworenseins, des Einer-von-uns-Seins, mit dem sich auch Arno einfangen lässt, obwohl er doch eigentlich mit diesen alten Funktionären nie etwas zu tun hatte.
Aber unübersehbar fühlt er sich auch in der neuen Zeit nicht wirklich aufgehoben, auf gewisse Weise heimatlos und entwurzelt. Ein Gefühl, das wahrscheinlich viele Ostdeutsche mit ihm teilen, wahrscheinlich auch Michael G. Fritz, der 1975 selbst erlebte, wie schnell man aus politischen Gründen mit der Staatsmacht in der DDR zusammenrasselte und ins Abseits geriet.
Und dann landet man in einer Geschichte, in der man selbst nach der Rehabilitierung nie wirklich wieder dazugehört, wozu auch immer. Ein einsamer Streuner wird wie dieser Arno … Kann das sein, dass Fritz gerade mit dieser Szene auf dem Eis dem nahekommt, wie viele Ostdeutsche heute ihr Leben empfinden? Als ein Versuch, irgendwie zu ignorieren, wie brüchig das Eis ist, wie seltsam die Situation, nie wirklich anzukommen, nie wirklich dazuzugehören? Also doch irgendwie gezwungen, sich selbst zu wärmen am Feuer?
Das sind jetzt schon Gedanken, die über das ziemlich abrupte Ende hinausgehen. Ein Ende, das dutzende Möglichkeiten offen lässt, wie es weitergehen könnte. Eine davon drängt eigentlich darauf, dass irgendetwas Gewaltiges passiert. Der Tod des armen Hundes kann – von der Dramatik her betrachtet – nur der Auftakt sein. Doch wir wissen auch, das Arno nicht der Handelnde sein wird. Er wird die Sache nicht in Bewegung setzen. Aber wer dann?
Auch das eine Situation wie auf knirschendem Eis. Doch wenn das Lagerfeuer weiterbrennt, ohne dass das Eis bricht …
Dann wird alles so weitergehen, verworren, zwiespältig, unfertig. Ohne den lösenden Moment, den ein klassisches Drama hat. Und das ist das, was Menschen eigentlich schwer aushalten. Und dennoch aushalten. Seltsamerweise.
Michael G. Fritz Auffliegende Papageien, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 14 Euro.
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