Zu denen, die sich im Herbst 1989 selbst ermutigten, gehört auch der damalige LVZ-Fotograf Martin Naumann. Er fotografierte die Leipziger Ereignisse schon in den Tagen, als in der LVZ-Redaktion noch die Hardliner bestimmten und jede objektive Berichterstattung über die Proteste ablehnten. 1998 veröffentlichte Naumann zum ersten Mal seine Fotos aus dieser Zeit und Passagen aus seinem Tagebuch, sein „Wende-Tage-Buch“.
2008 kam das Buch in einer zweiten Auflage heraus, damals noch im Militzke Verlag. Jetzt hat es Pro Leipzig in dritter Auflage übernommen und pünktlich zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution noch einmal veröffentlicht. Und es liest sich so aktuell wie zuvor. Vielleicht sogar noch aktueller, weil einige der Fragen, die 1989 immer mitschwangen, inzwischen wieder diskutiert werden.
2018 ist Martin Naumann, der von 1955 bis 1992 als Bildreporter bei der LVZ arbeitete, gestorben. Seine Kommentare aus dem Inneren des „Organs der SED-Bezirksleitung“ sind bis heute einmalig geblieben. Oder haben wir irgendwo eine Publikation zum Thema verpasst, die die Redakteure eines Parteiblattes in jenen Widersprüchen zeigt, die bis in den Oktober 1989 für Tageszeitungen in der DDR normal waren? Aber nicht unbedingt für all die Leute, die damals Journalistik studierten – auch in dem Wunsch, das Land weiterzubringen, indem man wirklich über seine Konflikte und Probleme berichtete. Einige wenige Beispiele erwähnt ja Naumann beiläufig. Sie endeten in der Regel mit einer derben Rüge aus der SED-Bezirksleitung, wenn nicht schon der jeweilige (von der SED eingesetzte) Redaktionsleiter dafür sorgte, dass Geschichten, Meldungen oder Fotos gar nicht erst gedruckt wurden.
Was für die Redakteure und Fotografen, die ihre Augen vor dem nicht verschlossen, was spätestens ab den 1980er Jahren die Stadt und die Menschen deprimierte, entmutigte und wütend machte, mindestens frustrierend war. Das geht an die Substanz, wenn wirklich brennende Themen gar nicht erst angepackt werden dürfen oder – wenn man sie dann mal aufgreift – nicht gedruckt werden dürfen, weil sie zur Beweihräucherei der regierenden Partei so gar nicht passen oder den Entscheidern in den SED-Leitungen nicht genehm sind oder die selbst kein Rückgrat haben, obwohl sie gern würden, wenn sie sich trauten …
Und sie trauten sich lange nicht, sogar weit über den 9. Oktober hinaus, wie Martin Naumann erzählen kann, der sogar noch Angst haben musste, dass ihm die Stasi das Haus auf den Kopf stellt, wo er seine Filmrollen versteckt hatte. Der graue Mann vom MfS kam sogar direkt in die Redaktion, um die bei den Montagsdemos angefertigten Fotos einzufordern. Erst spät im Oktober ließ auch die SED-Bezirksleitung endlich locker und unterdrückte die Berichterstattung über die Demonstrationen nicht mehr.
Da war der SED-Staat längst ins Rutschen gekommen und die Zeit der Rücktritte und der Versprecher bei Pressekonferenzen begann. Was Naumann nicht davon abhielt, auch weiterhin zu den Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen dieser Zeit zu gehen und dabei auch ein wenig die Ellenbogen zu benutzen, wie am 4. Dezember, an dem Tag, an dem die „Runde Ecke“ besetzt wurde und ein Rechtsanwalt namens Schnur seinen großen Auftritt hatte.
Aber nicht nur die Machtlosigkeiten der alten Mächtigen konnte Naumann auf Film bannen, auch die massive Veränderung der Montagsdemonstrationen ab November 1989, als es immer weniger darum ging, für die DDR Reise-, Presse- und Meinungsfreiheit zu fordern und ein Ende der SED-Herrschaft. Jetzt wurde die Deutsche Einheit zum dominierenden Thema, ging es um D-Mark und möglichst frühe Wahlen. Und auch die zunehmende nationalistische Dominanz in den Montagsdemonstrationen konnte Naumann einfangen.
Er fotografierte die Kundgebungen der SED-PDS genauso wie die des Neuen Forums oder den Wahlkampfauftritt Helmut Kohls am 14. März, vier Tage vor der Volkskammerwahl, bei dem ihm ein handgemaltes Plakat besonders ins Auge stach: „Helmut nimm uns an der Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland.“ Eine Haltung, die ja dann bekanntlich auch den Wahlerfolg der „Allianz für Deutschland“ bedingte und dann jenen wilden Sommer, in dem am 1. Juli erst die D-Mark eingeführt und dann eiligst der 3. Oktober zum Beitrittstermin gemacht wurde.
Wer Naumanns Fotos betrachtet und die wirklich kurzen und knappen Tagebucheinträge, der bekommt ein Gefühl dafür, warum der Osten so werden musste, wie er heute ist. Warum die Enttäuschung gerade bei vielen einstigen „Allianz“-Wählern und „Deutschland. Einig Vaterland“-Rufern so tief sitzt. Selbst in den März-Fotos sieht man schon, wie nicht nur die SED zum neuen Feindbild wurde, sondern die aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangene SPD gleich mit. Der Sommer wurde dann zum Sommer der Schlangen: Schlangen vor den Sparkassenfilialen, weil für den geplanten Geldumtausch neue Konten aufgemacht oder Geld vom Konto der Großeltern auf das der Enkel verschoben werden musste, Schlangen bei der D-Mark-Einführung, Schlangen vor Tankstellen und – Überraschung – Schlangen vor den Türen des neu eröffneten Arbeitsamtes im alten Stasi-Neubau. Und zwar schon im Juni, als die erste Betriebe schließen mussten. Naumann war erschrocken.
Es ist ein komplettes Jahr in Bildern, Bilder, die zeigen, wie rasant sich alles änderte. Die aber auch zeigen, dass das alles kein Wunder war, sondern einen langen Vorlauf hatte, den Naumann spätestens seit dem Olof-Palme-Friedensmarsch von 1987 fotografisch aufmerksam beobachtete und dabei sichtlich kritischer wurde den inszenierten Jubelarien der Mächtigen gegenüber. Am 7. Oktober 1989 überwand er endgültig seine Angst, weshalb es vor allem seine Fotos sind, die von der Polizeigewalt in der Grimmaischen Straße berichten. Zwar erzählt das Tagebuch nach wie vor von seiner Angst, dass ihn seine Redaktion im Regen stehen lassen würde, wenn die Polizei ihn einkassieren würde. Aber ohne diese Angst überwindet man sich nie, schafft nie den Schritt auf die kleine Mauer, von der aus man mehr sieht und (mit zitternden Händen) die Ereignisse ins Bild nimmt.
Und trotzdem konnte er den Westredaktionen dann, als es ab November problemlos möglich war, aus Leipzig zu berichten, keine Bilder von Demonstranten mit angstverzerrten Gesichtern bieten. Seine Fotos zeigen – gerade für den Herbst 1989 – viele junge Menschen, die selbstbewusst auftreten und ihre Angst vor den martialisch aufgerüsteten Polizisten eigentlich schon verloren haben. Denn eine Regierung, die mit Wasserwerfern, Hunden und Schlagstöcken gegen friedlich demonstrierende Menschen vorgeht, die gesteht eigentlich schon ein, verloren zu haben.
Gerade die Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit dieser Demonstrationen machten sichtbar, wie sehr den Allmächtigen ihre Legitimation abhanden gekommen war. Das Volk schaute sich um und sah: Außer ein paar völlig verängstigten Bereitschaftspolizisten war da nichts mehr. Vielleicht noch ein Egon Krenz, der eiligst das Wort von der Wende aufgriff. Und dann selbst baldigst verschwunden war. So einen Zeitgalopp hatten die Ostdeutschen vorher nicht erlebt. Und nachher auch nicht wieder.
Martin Naumann „Wende-Tage-Buch“, 3. Auflage, Pro Leipzig, Leipzig 2019, 25 Euro
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