Wir leben in einer Welt der Mythen. Filme, Werbung, Fernsehserien – sie alle bedienen sich freizügig an den großen Ereignissen, Helden und Völkern des Geschichte. Besonders an heldenhaften Völkern, wie den Wikingern. Obwohl: Ein Volk waren die Wikinger nicht. Und die meisten Heldengeschichten, die da medial präsentiert werden, sind übertrieben, aufgeblasen und falsch. Wie fast alle unsere Mythen. Aber wer waren die Wikinger wirklich?
Keiner hätte das besser erzählen können als der Tübinger Mittelalterarchäologe Jörn Staecker. Den Vertrag für dieses Buch hatte er schon unterschrieben, als er 2018 im Alter von 57 Jahren viel zu früh starb. Er galt als der versierteste Kenner der skandinavischen Wikingerzeit, hatte in seinen Forschungen das Spektrum der Themen deutlich erweitert.
Sein Forschungskollege Matthias Toplak hat dann die Arbeit am Buch übernommen und Dutzende mit dem Thema vertrauter Wissenschaftler dafür gewonnen, jeweils ihre Forschungsergebnisse zum großen Komplex der Wikingerzeit in Kapitel zu fassen, sodass dieses Buch dennoch erscheinen konnte und nun den umfassendsten Überblick zum Stand der Wikingerforschung gibt. Plus ambitionierte Vor- und Nachworte, die auch ein wenig den Frust der Historiker erkennen lassen über die mediale Legendenbildung, die den heutigen Mediennutzern ein weitgehend falsches Bild von den Wikingern vermittelt. Das freilich so neu nicht ist. An dem Bild haben schon spätmittelalterliche Mönche mitgeschrieben, Professoren des 19. Jahrhunderts und Märchenerzähler wie Richard Wagner samt einem unbekannten Kostümbildner, der den Wagnerheroen Hörner an die Helme klebte.
Die Schwierigkeiten beginnen mit der Eingrenzung dessen, was die Wikingerzeit eigentlich ist. Traditionell stehen zwei Jahreszahlen aus der britischen Geschichte für Anfang und Ende der Wikingerzeit: der Überfall auf Lindesfarne 793 und die Schlacht von Stamford Bridge 1066. Der Grund für diese fiktive Genauigkeit ist simpel: Mit diesen beiden blutigen Ereignissen tauchten die Wikinger als Akteure in der westeuropäischen Geschichte auf, aufgezeichnet in den Annalen und Chroniken, die damals vor allem in Klöstern angefertigt wurden.
Und da die Wikinger besonders gern die reichen und leicht zu plündernden Klöster überfielen, wurden sie logischerweise zum historischen Schrecken bis hinein in die Königsgeschichten. Denn gerade in England mischten sie tatsächlich lange Zeit als Eroberer mit, zwangen dortige Könige zu Lösegeldzahlungen und sicherten sich auch ein riesiges Gebiet auf der Insel, das Danelag, benannt nach den … na hoppla: Dänen.
Denn tatsächlich erzählt dieses Buch von den Skandinaviern, die in der Wikingerzeit nicht nur zum Teil der (west-)europäischen Geschichte wurden, sondern ganz ähnlich wie andere europäische Völkerschaften genau in dieser Zeit begannen, eigene Staaten zu bilden, das Christentum übernahmen und zu einem Teil der europäischen Staatengemeinschaft wurden. Am Ende der Wikingerzeit haben wir drei bis heute bestehende Königreiche: Dänemark, Schweden und Norwegen. Wir haben auch drei sich langsam ausdifferenzierende Sprachen. Denn bevor die Leute aus dem Norden mit ihren für ihre Zeit überlegenen Booten in die Annalen eingingen, sprachen sie eine gemeinsame Sprache.
Die Vorzeit wird im Buch nur kurz berührt – das ist die Vendelzeit, benannt nach der Region Vendel in Schweden. Sie umfasst etwa die Zeit von 500 bis 800. Und davor lag die Zeit der Völkerwanderung, in der schon einmal berühmte Völkerscharen aus dem Norden auszogen und gewaltig mitmischten in der europäischen Geschichte – die Goten etwa, aber auch die Angeln, die zusammen mit den Sachsen auf die britische Insel fuhren und dort Königreiche gründeten.
Königreiche, die es dann dreihundert Jahre später mit den Wikingern zu tun bekamen. Aber Wikinger beschreibt keine Stammeszugehörigkeit, denn ursprünglich bezeichnet das Wort „viking“ nur eine weite Seereise. Die Männer, die an diesen Seereisen teilnahmen, waren dann die Wikinger, auch wenn sie zu Hause auf ihrem Hof in Südschweden oder Norwegen schlichte Bauern waren. Wobei die bäuerliche Welt im Buch kaum Konturen gewinnt. Da muss noch viel geforscht werden.
Aber eine Legende löst sich schnell in Luft auf: So, wie sie heute meist dargestellt werden, als ein Volk von Seeräubern, waren diese Leute aus dem Norden nicht. Auch wenn sie über die besten und schnellsten Boote ihrer Zeit verfügten. Boote, die eine jahrhundertelange Entwicklung hinter sich hatten und Seereisen ermöglichten, die für die eher landsässigen Völker Westeuropas kaum vorstellbar schienen. Mit diesen Booten fuhren die Wikinger nicht nur nach England, Frankreich, auf die Faröer Inseln und dann auch noch weiter nach Island, Grönland und Nordamerika, sie konnten damit auch die großen Flüsse Europas hinauffahren und sogar flussaufwärts gelegene Städte wie Paris und Köln in Angst und Schrecken versetzen.
Erfolgreiche und schnelle Räuber waren sie, keine Frage. Aber schnell wird klar: Diese Plünderung reicher und meist ungeschützter Orte waren Teil eines ganzen Wirtschaftsgefüges, denn tatsächlich waren die Schiffsreisenden aus dem Norden vor allem Händler. Sie waren an allen wichtigen Handelsplätzen Westeuropas präsent und tauschten ihre Waren vorrangig gegen Silber. Über die Silberwirtschaft der Skandinavier gibt es gleich mehrere Kapitel im Buch, weil der Silberhandel in vielen Bodenfunden greifbar wird.
Die Wikingerwelt war eine Silberwelt. Und sie waren erfolgreiche Händler, was erst so richtig in jenem Buchteil sichtbar wird, in dem ihre Handelsreisen über Osteuropa und das heutige Russland bis nach Konstantinopel und nach Bagdad sichtbar werden. Auch die Geschichte Russlands gehört ja mit dazu, denn die Rus waren – archäologisch ebenso nachweisbar wie in alten Chroniken vermerkt – eben jene Männer aus dem Norden, die an Wolga und Dnjepr ihre Handelsniederlassungen gründeten und als Elite bei der Werdung der Kiewer Rus mit dabei waren.
Deswegen engt der Buchuntertitel „Entdecker und Eroberer“ die Geschichte auch viel zu sehr ein. Staatengründer, Händler und Globalisierer hätte es noch viel mehr getroffen. Denn zu ihrer Zeit, die Matthias Toplak viel weiter zieht als die oben benannten beiden Daten, waren die Wikinger die Einzigen, die wirklich alle aus europäischer Sicht bekannten Meere bereisten, auch das Mittelmeer. Ihre hochentwickelte Schiffstechnik machte es möglich. Schiffe, die nicht nur seegängig waren wie kein anderer Schiffstypus dieser Zeit, sondern auch schnell, für die Vorwarnzeiten des damals eher dünn besiedelten Europa viel zu schnell.
Möglicherweise machten sie auch Sklaven. Aber diese Frage wird im Buch sehr kritisch diskutiert, denn Chroniken erzählen zwar davon, dass sich die Wikinger am östlichen Sklavenhandel beteiligten – aber vor allem auf den Erlös dieses Handels aus waren: das Silber. Und auch die berühmten Städte der Wikinger – Haithabu, Lund oder Birka – waren Handelsstädte. Schon die Ausgrabungen in Haithabu haben ja eine Welt zum Vorschein gebracht, die mit Seeräuberei eher nichts zu tun hatte, dafür mit jenem typischen Gemisch von Menschen aus allen Ecken der damals bekannten Welt, die hier nebeneinander lebten, Handwerk und Handel betrieben.
Regelrecht fasziniert sind die Forscher von Grabfunden, die eindeutig auf die slawischen Gebiete südlich der Ostsee und die Völker der Wolgaregion verweisen. Augenscheinlich brachten sich die Bootsreisenden nicht nur Frauen mit von ihren weiten Reisen, sondern es kamen tatsächlich auch Menschen gerade aus dem Osten in die Wikingerstädte, um sich hier niederzulassen und am Ende auch begraben zu werden.
[Doku] Das Rätsel der Wikingerschiffe
Die Grabbefunde zeigen eine bunte Welt, die möglicherweise auch deshalb so an die Gegenwart erinnert, weil die Wikinger augenscheinlich überhaupt keine Probleme damit hatten, mit anderen Völkern intensiv Handel zu treiben, sich gar als Warägergarde am Hof in Konstantinopel zu verdingen. Und dabei irgendwie ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu bewahren. Was wohl die Hauptmotive sind in der heutigen Wikingerglorifizierung: Wilde Recken aus dem Norden, die rücksichtslos ihr Ding machten … quasi als Gegenbild zu den schon christinanisierten und gezähmten Reichen Alt-Europas mit ihren Händlern, Handwerkern, Steuereintreibern und Mönchen.
Hm.
Es ist der heutige falsche Freiheitsbegriff, der sich hier mit falschen Bildern einer glorifizierten Vergangenheit trifft, der die Wikinger zu etwas macht, was sie nie waren, weshalb sie ja scheinbar einfach so wieder aus der Geschichte verschwinden und scheinbar wenig mit den sich langsam etablierenden (braven) Königreichen im Norden zu tun haben. Da die Wikinger aber auch mit den anderen Völkern des Kontinents interagierten, merkt man so nebenbei: Andere waren auch nicht viel anders, vielleicht nur mit dem Unterschied, dass sie nicht über die schnellen Boote der Skandinavier verfügten.
Wer damals einen Staat „gründen“ wollte, musste erst einmal auf Raubzug gehen und sich möglichst große Gebiete untertan machen. Kurz streift die Geschichte ja die Staatsbildung der Rus, aber auch die des neu entstehenden Polenreichs (die der Entstehung des dänischen Königreichs erstaunlich ähnelt), aber auch die Ottonen werden erwähnt, die ja bekanntlich aus dem westfränkischen Reich erst das formten, was wir heute als Deutschland bezeichnen. Und nicht nur Frankenkönig Karl der Große versuchte die Dänen genauso unter seine Knute zu bringen, wie er es vorher mit den Sachsen getan hatte, die Ottonen versuchten ja dasselbe mit den Slawen an der Elbe.
Aber was ist mit jenen Mythen, die dann Richard Wagner in seinen Opernwerken verwurstete? Wird hier nicht von einer heldenhaften Vorgeschichte kriegslüsterner germanischer Helden erzählt? Schwierig zu sagen, sagen die Forscher. Auch die Überlieferungen zu nordischen Sagas, Skaldengesängen und Chroniken werden diskutiert – bis hin zu der Schwierigkeit, ihre Glaubwürdigkeit als Quelle zu verifizieren.
Was trotzdem in Teilen gelingt. Viele Helden der vor allem in Island und Norwegen überlieferten Sagas sind geschichtlich nachweisbar, manchmal sogar auf einem der vielen Runensteine, die man heute noch in Skandinavien findet. Und manches in den ganz alten Heldensagas scheint auch in eine Vorzeit zu verweisen, uraltes Märchenmaterial aufzugreifen, das auch schon lange vor jener Klimakatastrophe im Umlauf war, die um das Jahr 540 Europa eine Reihe eisiger Hungerjahre bescherte – ein vulkanischer Winter, der möglicherweise die Schablone abgab für das in der „Edda“ geschilderte Ragnarök.
Es gibt zwar auch einige aufsehenerregende reich ausgestattete „Kriegergräber“ im Norden. Aber nichts deutet darauf hin, dass die Skandinavier in Gänze ein nur von Raubzügen lebendes Kriegervolk waren. Die reich mit Waffen ausgestatteten Gräber deuten eher auf Personen aus der Führungsschicht hin. Selbst in Frauengräbern wurden solche Waffen gefunden. Eher typisch sind die berühmten Schiffsgräber, in denen sich Führungspersonen beerdigen ließen.
Einerseits wohl Zeichen ihres Reichtums und ihrer Anführerschaft entweder in organisierten Raubzügen (die die Nordmänner eher wie ein genossenschaftliches Geldbeschaffungsunternehmen aufzogen) oder bei großen Handelsexpeditionen. Vielleicht aber stand das Boot auch für Vorstellungen einer Reise im Jenseits. Man wisse einfach zu wenig über die Glaubensvorstellungen der Wikinger, betonen mehrere Autoren. Denn die Glaubenszeugnisse stammen sämtlich schon aus einer Zeit, in der das Christentum im Norden Fuß fasste, fast symbiotisch mit den alten Göttervorstellungen.
Sodass sich für die späte Wikingerzeit vor allem ein Bild des Übergangs abzeichnet, das einer Gesellschaft, die sich zusehends in eine nach damaligem Standard moderne Gesellschaft transformierte – und das auch nur mit wenig Verspätung gegenüber jenen Ländern, die scheinbar schon länger dabei waren und scheinbar schon ein bisschen zivilisierter waren. Wobei selbst das schwer zu klären ist, denn über die Vorstellungen von Werten und gesellschaftlichen Normen der Wikinger wissen wir auch erst Bruchstücke. Aber es sind Bruchstücke, die von einer Welt erzählen, in der es sehr wohl klare Regeln und Abhängigkeiten gab. Und in der es sehr nutzenorientiert zuging, wenn man berücksichtigt, wie die Männer aus dem Norden ihre Fahrten übers Meer organisierten – auch ihre Handelsfahrten, denn jedes bemannte Boot war für damalige Verhältnisse eine riesige Investition. Die Männer gingen in Vorleistung und konnten nur hoffen, das ihre Fahrt auch den erhofften Gewinn einbrachte.
Allein wenn man das bedenkt, hat man ein Buchten bewohnendes Volk von Bootsbauern vor sich, das bereit war, für gewinnbringende Unternehmungen auch das eigene Leben zu riskieren. Etliche der Runensteine erzählen ja von Bootsbesatzungen, die nicht zurückkehrten.
Die Geschichte der Wikingerzeit gewinnt so Konturen, das Bild verwandelt sich. Das Buch bringt in einem farbigen Bilderteil auch viele der erstaunlichen Funde aus dem Norden zum Anschauen. Die beiden Vorsatz-Karten, die die Wikingerfahrten und -niederlassungen auf einer Europakarte sichtbar machen, fehlen noch. Die soll es nach Auskunft des Verlages in der zweiten Auflage des Buches geben.
Jörn Staecker; Matthias Toplak Die Winkinger, Propyläen, Berlin 2019, 32 Euro.
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