Am 29. Oktober gibt es eine kleine, feine Buchpremiere im Café Maitre in der Südvorstadt. Dann stellt der Dichter Andreas Reimann den neuen Band aus seiner in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erscheinenden Werkausgabe vor: „Das große Sonettarium“. Noch so einen Band, der einen daran erinnert, dass man Gedichtbände nicht wegen der Inhalte kauft, sondern wegen der Sprache. Denn einer wie Reimann weiß: Sprache ist ein Politikum.
Eigentlich müsste das jeder wissen, der ein einigermaßen profundes Bildungssystem durchlaufen hat. Aber die simple Wahrheit ist: Die meisten wissen es nicht. Auch jene nicht, die eigentlich sprechen können müssten. Unsere Politiker, die leider – ganz ähnlich wie einst die Schmirgelpapiersprecher des Politibüros – nur eine Kunst beherrschen: Die Kunst des sprachzerwürgenden Blablas. Wobei die Politbürokraten zumindest noch ein bisschen Angst hatten davor, dass einer in ihrem Lande zu deutlich würde.
Sie hatten die Dichter auf dem Kieker. Auch den Dichter Andreas Reimann, den sie nach seinem Protest gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ zwei Jahre ins Gefängnis sperrten – auch und gerade wegen seiner Worte. Und dieses Misstrauen sollte den Dichter auch bis zum Ende der überwachten Republik begleiten. Denn zensieren ließ er sich nicht. Und zur Ausreise drängen schon gar nicht. Er wusste, wie er die All-Ohnmächtigen ärgern konnte – und welchen Preis er dafür zahlte.
Die Genauigkeit beim Umgang mit dem Wort hat er sich bis heute bewahrt. Und keine Gedichtform zwingt so sehr zur peniblen Arbeit mit dem Wort wie das Sonett. Die Versform ist streng. Beim Versmaß hat der Dichter ein bisschen Spielraum. Aber nach 14 Zeilen muss er den Punkt setzen. Und dieser Punkt muss ein Treffer sein. Einer ins Herz oder einer ins Schwarze. Und weil das so ist, zwingt das selbst Dichter, die sowieso schon mit Feile und Pinzette arbeiten, noch viel genauer zu arbeiten, denn jeder Fehler in einem Sonett sorgt dafür, dass es nicht funktioniert.
Was zur Sprache führt. Denn wer seinen Wortschatz nicht beherrscht, hat nicht das Material für so ein Sonett. Der muss scheitern, weil gerade diese strenge Form von der Dichte lebt, der Kompaktheit des Sprechens. Sie zwingt den Schreiber dazu, seinem Thema auf den Grund zu gehen, das eigentlich Gewollte herauszuhämmern und herauszufeilen. Und Andreas Reimann liebt diese Form der dichterischen Konzentration. Sie taucht praktisch in allen seinen Veröffentlichungen auf. In seinen 2009 gesammelten Leipzig-Gedichten („Bewohnbare Stadt“) genauso wie in seinen Weimar-Gedichten („Poeten-Museum“, 2016) und in seinen herrlich gemeinen Dresden-Gedichten („Grüner Winter“, 2015). Von seinen Liebesgedichten („Will an deinen Leib mich fügen“) oder dem „Sonettarium“ selbst ganz zu schweigen.
Wenn all diese Sonette aus einer mittlerweile 55 Jahre währenden Dichterlaufbahn nun im Band 5 der Werkausgabe versammelt werden, wird noch viel deutlicher, wie sehr das Sonett in Reimanns Werkstatt die Rolle des Verdichters spielt, des Zuspitzers und Auf-den-Punkt-Bringers. Hier nimmt sich der Dichter heraus aus der Eile des Alltags, zwingt sich zum Feinschliff am sauberen Vers und wird damit auch zum Finder und Entdecker. Denn wer Sprache so in den Schraubstock zwingt und ihr abfordert, konkret zu werden, deutlich und eindeutig, der kommt auch Worten und Wendungen auf die Schliche, bei denen der gedankenlose Alltagsmensch nicht einmal stutzt. Denn, seien wir ehrlich: Wir achten selten auf unsere Worte. Meist benutzen wir immer dieselben, nicht ahnend, welche Vielfalt und frappierende Wucht in unserer Sprache auf Vorrat liegt und nur darauf wartet, endlich benutzt zu werden.
Den über 150 Sonetten sind keine Jahreszahlen beigegeben. Die hat uns Andreas Reimann nur selbst verraten. Was natürlich viele dieser Sonette zu Überraschungen macht, weil sie unversehens ein Zeitfenster auftun. So wie „Beethovenstraße zwei a“, eine Adresse, mit der nur Leipziger etwas anfangen können, die wenigstens ein bisschen wissen über ihre jüngere Stadtgeschichte und die Verortung der Stasi-Untersuchunganstalt, in der auch Andreas Reiman einsaß. Dieser Aufenthalt gerinnt hier zu einem grimmigen Sonett, das in 14 Zeilen komprimiert, was andere in dicken Romanen versuchten zu fassen. Bis hin zur Ruppigkeit der ungebildeten Wächter: „,Kein wort / wirst du hier notieren, du schreib-verbrecher!‘ / Und neben dem spion stinkt der abort.“
Man sollte sich Zeit nehmen beim Lesen. Denn bei Reimann lernt man, wie viele Worte in unserer Sprache schillern vor Mehrdeutigkeit. So tun sich Abgründe auf, Hintersinnigkeiten und unbarmherzig-freundliche Kritik. Das Sonett hat er dann freilich auch nicht in seiner Haftzeit 1969/1970 geschrieben, sondern erst 1975, jener Zeit, in der er die Sonettform erst so richtig als geschliffenes Instrument für sich entdeckte. Es zwang zum Entdecken. Und wer so immer wieder feilt und schleift, der staunt irgendwann selbst, wie sehr das so genaue Sprechen zum Entdecken zwingt. (Und beiseite gesagt: Wie sehr das oberflächliche Blabla in unserer Alltagswelt uns die Augen verkleistert und blind macht für so manche erhellende Wahrheit. Denn Blabla – auch das politische – hat ja nun einmal den Zweck zu trügen, zu verstecken, unsichtbar zu machen, was wirklich und wichtig ist.)
Da kann man freudig eintauchen in ein Sonett namens „Neuzeit“ von 1991, das sehr genau jenen Moment erfasste, als der Jubel des Vorjahres unverhofft in Jammer und Lamento kippte: „Der traum ward wahr! – Um die verlorne schlacht / nun grämt euch nicht …“
Die „Bienchen“ grämten sich doch und grämen sich bis heute, weil sie einfach nicht drüber wegkommen. Während Reimann sein Sonett schon damals so ausgehen ließ: „Doch glück ist ohne trauer nicht zu haben: / Der traum ward wahr! / Und somit auch begraben.“
Vielleicht ist es gerade diese trockene Weisheit, die diesen Andreas Reimann auch in dieser neueren Neuzeit so unpräsentabel macht, sodass selbst hochkarätige Literaturkritiker immer wieder betonen müssen: Dieser Dichter ist eine Ausnahme und eigentlich schon ein Klassiker. Doch das heutige Literaturtheater feiert die Clowns und Comedians, nicht die Dichter. Vielleicht auch, weil Comedians es den Schwerhörigen mit dem Klammerbeutel servieren und die Fähigkeit zum aufmerksamen Lesen und Verstehen abhanden kam. Auch in den Schulen.
Schon dieses Jubeljahr 1990 steht ja fürs Ungenaue, Aufgeschäumte und Vor-Eilige, die blühenden Phrasen im Land. Reimann schieb da seine „Markkleeberger Elegie“, die mit den Versen endet: „Und ich?: Such ich die freuden, die verlorenen? / Nur wo man nicht ist, ist das vaterland.“
Wer das laut liest, merkt, wie punktgenau die Betonung auf dem „nicht“ landet. Mehr muss man zu all den Vaterlands-Verehrern nicht mehr sagen. Aber: Sie setzen sich ja auch nie hin und fragen diese kleine simple Frage: „Und ich?“ sonst würden sie es ja bemerken. Und merken, wie sehr sie nicht sind, schon gar nicht bei sich.
Zu „Mittendrin draußen“ hab ich keine Jahreszahl, aber dieses Sonett greift das Thema noch von einer anderen Seite auf, genau jener, die unseren Vaterländischen so einen Kummer macht, auch wenn sie nie zugeben würden, dass es genau dieses ist: „Wie oft schon wollte ich dazugehören / Und war doch allzu häufig nur dabei!“
Zwar geht es hier nur um einen so völlig unzeitgemäßen Dichter, der deshalb nie passte, weil er die Wahrheit immer zu Unzeiten schreiben musste, als sie nicht gewollt war von den Wahrheitswächtern. Aber Dichter sind keine anderen Menschen. Sie unterscheiden sich nur ein bisschen und weil sie nicht anders können. Es ist eine Gabe und eine Last, die einer oder eine tragen müssen, wenn sie erst einmal entdeckt haben, was Sprache tut und kann. „Hier sitze ich und kann nicht anders“, klingt das bei Reimann.
Doppeldeutig natürlich. Dreifach deutig eigentlich, denn der Knast, in dem er sitzen musste, stand ja in einem Land, aus dem er nicht herausdurfte – jedenfalls nicht, um Rom zu sehen. Und dann noch dieser Luthersche Ton. So setzt sich einer nicht nur in Opposition, sondern hält auch den später Triumphierenden seine Wahrheit vor. Die sich eben nicht nur wie in „Mittendrin draußen“ an die ihn einmal gnädig wahrnehmenden Literaturpreise richtet. Auch das schon klingt wieder mehrdeutig: „Ich, froh und stolz, – bin etwas traurig doch: / Wie nie zuvor hab ich dazugehört! / Nur bin ich leider nicht dabeigewesen.“
Denn die gnädigen Preisvergeber sind ja auch nur die oberflächlichen Vertreter des üblichen Zeitgeistes, der oft genug ein alter und bekannter ist, wie Reimann nach einem Besuch in der Anna-Amalia-Bibliothek im „Album für anna amalia“ feststellt: „Ich wittre dennoch einen hauch des brands … // Nur ahnung noch. Und doch noch ein erbleichen: / Es ist nun einmal der geruch, der haftet / an der geschichte meines vaterlands.“
„Das große Sonettarium“ ist nun – nach „Kontradiktionen“ (Band 1, der 1966 nicht gedruckte erste Gedichtband von Andreas Reimann) und „Die Weisheit des Fleisches“ (Band 2) der dritte fertige Band in der auf elf Bände konzipierten Werkausgabe. Die Werkausgabe eines Dichters, der im deutschen Literaturkanon immer noch ein Geheimtipp ist. So, wie auch das aufmerksame Lesen ein Geheimtipp ist. Nur wer nicht immer mitschwimmt im Strom und sich herausnimmt, um in Ruhe Vers für Vers zu lesen, merkt, was zu sagen wäre, wenn Zuhören und Verstehen noch deutsche Tugenden wären. Aber waren sie das je?
Selbst diese eingeübte Angst vorm Wissenwollen thematisiert er auf unverwechselbare Art und ausgerechnet beim Betrachten eines Nashorns. Und das im Jahre 1987. Da muss man zwei Mal auf die Jahreszahl schauen, um zu begreifen, wie gut er uns kennt allesamt, uns, die wir uns vor dem Fremden und Unbekannten so fürchten wie die Eichhörnchen: „Doch grade das ist eine deiner tücken:/ Du läßt uns nicht in deine seele blicken. / Und was uns fremd bleibt, nennen wir gefahr.“
Das klingt so frisch, als hätte er es gerade eben erst aufgeschrieben. So ernüchternd genau.
Die Buchpremiere findet am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr im Leipziger Café Maitre (Karl-Liebknecht-Str. 62) statt. Musikalische Begleitung: Martin Hoepfner (Gitarre).
Andreas Reimann Das große Sonettarium, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, 22 Euro.
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