Albert Einstein hรคtte wahrscheinlich seinen Spaร gehabt mit diesem Buch, hรคtte mitgefiebert und den Helden bedauert in seiner Klemme, diesen Richard T. Weiร, der mit 36 Jahren noch immer keine feste Stelle hat, obwohl er vor sechs Jahren eine viel versprechende Doktorarbeit geschrieben hat. Doch nun will er einfach nur eine Dozentenstelle fรผr die Geschichte der Physik โ und weiร genau, dass er im Bewerbungsvortrag nicht sagen darf, was er fรผr richtig hรคlt. Ein Buch, das so wohl wirklich nur Grit Kalies hat schreiben kรถnnen. Sorry: Prof. Dr. habil. Grit Kalies.
Denn nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig habilitierte sich Grit Kalies im Fach Physikalische Chemie und lehrt heute an der Hochschule fรผr Technik und Wirtschaft Dresden (HTW Dresden). So nebenbei spielt sie auch noch auf hรถchstem Niveau Schach. Und sie schreibt auch wissenschaftliche Artikel und Bรผcher. Ihr Buch โVom Energieinhalt ruhender Kรถrper. Ein thermodynamisches Konzept von Materie und Zeitโ erscheint parallel im renommierten Wissenschaftsverlag De Gruyter. Und es dรผrfte fรผr einigen Gesprรคchsstoff in der Welt der Physiker sorgen. Denn in diesem Buch fรผhrt sie wissenschaftlich vor, was sie in โRaumzeitโ als literarischen Text darbietet.
Aus der Ankรผndigung von De Gruyter zitiert: โIm Buch werden zwei fundamentale physikalische Theorien miteinander verglichen: die Thermodynamik und die Spezielle Relativitรคtstheorie. Es wird gezeigt, dass mit der thermodynamischen Methode eine Materie-Energie-รquivalenz vereinbar ist, wรคhrend die Spezielle Relativitรคtstheorie eine Masse-Energie-รquivalenz postuliert. Die weitreichenden Konsequenzen der Materie-Energie-รquivalenz werden dargestellt.โ
Das klingt harmlos. Aber im Klartext bedeutet es, dass da zwei grundlegende physikalische Theorien nicht zusammenpassen, sich in einem wesentlichen Punkt widersprechen โ oder โ das wird dann das Drama in โRaumzeitโ โ unvereinbar sind. Das ist die Tragรถdie des Richard T. Weiร, dem wir zu Beginn des Buches in seinem heimischen Arbeitszimmer begegnen. Eigentlich ist er glรผcklich verheiratet mit Senta, รrztin von Beruf, die diesen ewigen Doktoranden doch irgendwie liebt, nicht nur, weil er sich kรถrperlich fit hรคlt, sondern auch, weil er so eigenwillig denkt.
Eigentlich schwer auszuhalten. Und seit sie weiร, dass sie schwanger ist, knistert es sowieso zwischen den beiden. Da steckt eine Geschichte in der Geschichte, eine Novelle in der Novelle. Denn Roman wรผrde ich das Ganze nicht nennen. Alles konzentriert sich im Grunde auf keine 24 Stunden (in denen Richard fast gar nicht schlรคft) und zwei Orte โ die Wohnung von Richard und Senta und den Vorlesungsraum, in dem Richard am Ende seine Probevorlesung halten wird, in der er mustergรผltig den Siegeszug der Allgemeinen und der Speziellen Relativitรคtstheorie und damit auch der Raumzeit darbieten wird. Darauf hoffend, dass er damit die ersehnte Stelle bekommt, die ihn wenigstens davor verschont, wieder als โNaturphil.โ im Arbeitsamt aufschlagen zu mรผssen.
Sein Arbeitszimmer ist mit Regalen zugebaut. In der einen Hรคlfte stehen die Bรผcher, die die Erfolgsgeschichte der Relativitรคtstheorie in immer neuen phantastischen Geschichten erzรคhlen. Die Namen der Autoren sind berรผhmt und mit Nobelpreisen behรคngt. Aber hinter Richard stehen noch viel mehr Bรผcher โ die Bรผcher all jener Zweifler und Kritiker, die sich mit Einsteins Folgerungen nicht anfreunden konnten. Ihre Namen sind โ zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1905 und 1915, in denen Einstein seine grundlegenden Schriften verรถffentlichte โ berรผhmt und etliche sind mit Nobelpreisen behangen. Und sie haben gute Argumente. Argumente, die auch diesen Richard Weiร quรคlen, der etwas verkรถrpert, was im modernen Wissenschaftsbetrieb ein Problem ist.
Er zweifelt. Und er zweifelt, wie man es eigentlich von Wissenschaftlern erwarten sollte. Denn in der medial aufgeregten Welt geistert ja die irre Vorstellung herum, Wissenschaft wรคre รผber jeden Zweifel erhaben. Wenn wissenschaftliche Theorien erst einmal bewiesen seien, stehe das Konstrukt kluger Gedanken unverrรผckbar da wie ein Heiligtum. Und jeder Zweifel sei fortan verboten. So bekommt es auch Weiร von seinem Institutsleiter gesagt, der ihn selbst in der Hochschulkantine zusammenstaucht, weil Richard Zweifel an der Allgemeingรผltigkeit der von Einstein postulierten Raumzeit รผberhaupt zulรคsst. โIst doch alles mehrfach bewiesenโ, ist sein Hauptargument. Und die Leser, die in den Medien auch die Wissenschaftsmeldungen wahrnehmen, wissen, wie oft jubelnde Journalisten von immer neuen Beweisen fรผr Einsteins Theorie berichten.
Aber was wurde da wirklich bewiesen? Selbst Einstein war sich nicht wirklich sicher, tatsรคchlich eine fรผr immer gรผltige Interpretation fรผr die grundlegenden kosmischen Prozesse gefunden zu haben. Er hielt mit seinen Zweifeln auch nicht hinter dem Berg. Zweifel, die dann genauso in Richards verzweifeltes Grรผbeln einflieรen, wie er da in der Nacht vor seiner Probevorlesung vorm Computer sitzt und mit sich selbst hadert. Denn mit dem Wissen, das er sich so systematisch angelesen hat, dรผrfte er seinen Vortrag so gar nicht halten, wie er ihn vorbereitet hat. Aber wenn er ihn anders hรคlt, wird er damit seine wissenschaftliche Laufbahn abrupt beenden. Den Dozentenjob bekommt er nur, das weiร er schon, wenn er das erzรคhlt, was erwartet wird von ihm โ eine Jubelgeschichte vom Sieg der Raumzeit. Nichts anderes.
Man quรคlt sich mit ihm, weil man diese Welt kennt. Ein Hochschulsystem wie das unsere, in dem die klรผgsten Kรถpfe sich durch ein Gestrรผpp unsicherer, zeitlich befristeter Forschungs- und Praktikantenstellen quรคlen mรผssen, um dann vielleicht irgendwann Mitte 30 endlich das Mรถhrchen einer festen Anstellung zu erlangen, fรถrdert keine Querdenker und Zweifler, unangepasste Kรถpfe schon gar nicht. Mit diesem Richard erlebt man die Verzweiflung des Unangepassten quasi von innen. Ein Groรteil der Handlung findet praktisch in Richards Kopf statt, wo er endlose Streitgesprรคche, fiktive Alternativ-Vorlesungen und sogar einen Gerichtsprozess inszeniert, in dem Anklรคger und Verteidiger der Raumzeit aufeinanderprallen.
Wer schon immer so seine Probleme hatte, sich Einsteins Raumzeit irgendwie vorzustellen, der wird sich mit seiner Verunsicherung in diesem Getรผmmel wiedererkennen โ und auch merken, dass auch namhafte Wissenschaftler damit ihre Probleme hatten. Und das oft aus gewichtigen Grรผnden. Denn wer die Thermodynamik in die Einsteinschen Relativitรคtstheorien einbinden will, stรถรt auf Probleme. Und die Zeit und ihre Messung ist dabei eins der zentralen.
Denn in der Thermodynamik gibt es keine reversiblen Prozesse. Wenn sich physikalische Prozesse erst einmal entwickelt haben, kann man sie nicht wieder umdrehen und damit wieder in den Ausgangszustand zurรผckkehren. Man versteht schon, warum dieser Richard so verzweifelt und auch weit nach Mitternacht nicht zur Ruhe kommen kann, obwohl man doch als vernรผnftiger Mensch irgendwann einfach den Computer ausschaltet, sich die Zรคhne putzt und sich ins Bett legt. Wenn man immer vorm Bildschirm sitzt, kรถnnen die Gedanken ja gar nicht zur Ruhe kommen.
Aber es ist ja nicht nur dieser tiefsitzende Zweifel des Wissenschaftlers, der Richard grรผbeln lรคsst. Gleichzeitig weiร er auch, dass er an einem Wendepunkt steht. Denn wenn er die erwartete Jubel-Geschichte vortrรคgt, verrรคt er sich selbst. So wird man zum Opportunisten, der fortan alle Zweifel beiseite fegt und den Chor der Jasager verstรคrkt. Dagegen strรคubt sich alles in ihm. Und er ist auch nicht so allein, wie es einem auf den ersten Seiten mit diesem Gedankenwรคlzer vorkommt, denn auch Senta unterstรผtzt ihn in seinem Zweifeln. Und seine Mutter schickt ihm in Briefen nicht nur lauter wissenschaftliche Zeitungsartikel โ auch sie ermutigt ihn, dranzubleiben und sich nicht entmutigen zu lassen. Und dann ist da auch noch sein alter Doktorvater, der ihn gerade deshalb ebenfalls schรคtzt.
Der ihn aber auch daran erinnert, dass er genau diejenige auf seiner Seite hat, die Einstein mit seiner Raumzeit scheinbar aus der Physik gefegt hat: die Zeit.
Denn wenn erst einmal der berechtigte Zweifel da ist, der sich auch mit den teuersten Experimenten nicht beseitigen lรคsst, dann beginnt eine Zeit, in der auch eine gefeierte Theorie zunehmend hinterfragt wird, in der sich auch namhafte Forscher wieder daran erinnern, dass jede Theorie immer nur eine Annรคherung ist, ein bestmรถglicher Versuch, die Wirklichkeit richtig zu beschreiben. Und sie hat nur so lange Bestand, bis eine neue Theorie die Dinge besser beschreibt und die Zahl der nicht wegzudenkenden Widersprรผche deutlich reduziert. Davon lebt Wissenschaft.
Grit Kalies beschreibt mit ihrem Richard Weiร freilich etwas Typisches โ die Not der jungen Wissenschaftler, die an den vermittelten Theorien zweifeln und damit auch den herrschenden Lehrbetrieb infrage stellen, der ja mit dem Bologna-Prozess noch mehr auf reine Baustein-Vermittlung normierten Wissenstoffes getrimmt ist. Wo bleibt da noch Raum fรผr jene Freirรคume, die Forschung eigentlich braucht, wenn sie Neues รผberhaupt erst einmal zu denken wagen will? Bekommen wir dann nur noch lauter Nachplapperer des Altbekannten, die glauben, man mรผsse es nur immer wieder mit mรถglichst teuren Experimenten bestรคtigen?
Genau diese Frage schwingt mit. Auch dann noch, als Richard mit seinem Fahrrad zum Institut rast und dabei โ rasend โ รผber die reale Zeit, Beschleunigung und Dilatation nachdenkt, genauer: die Zeitdilatation aus der Relativitรคtstheorie, die in den vergangenen 100 Jahren ganze Berge von kosmischen Zeitreise-Romanen hervorgebracht hat, bei denen man selbst als begeisterter SF-Leser immer das dumme Gefรผhl hatte: Wissenschaftlich ist an diesen โZeitreisenโ gar nichts.
Wahrscheinlich hรคtte Einstein รผber diese Kopfgeburten nur gelรคchelt und diesen Richard ermuntert, dranzubleiben und sich nicht einschรผchtern zu lassen. Was nicht ganz so einfach ist, wenn Anpassungsfรคhigkeit das Hauptkriterium bei der Verteilung fester Stellen im Universitรคtsbetrieb ist.
Grit Kalies Raumzeit, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 14 Euro.
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