Tanja Székessy mag Kinder. Egal, wie anarchistisch sich die kleinen Menschlein benehmen. Denn sie weiß, dass dieser Anarchismus dazugehört zum Leben. In ihm steckt unsere ganze Lebensfreude, auch wenn Eltern sich beim Hüten dieser Flöhe die Haare raufen. Und auch mit dem Plüschpinguin Mio tauchen wir in die Welt der Kinder ein. Denn er darf sie alle besuchen, alle Kinder der Klasse 1d.

Auf Seite 7 schauen sie uns alle an. Eine fröhliche, aufgeweckte Klasse – samt Frau Kippel, die sie unterrichtet, und Herrn Macke, der sie dabei unterstützt. Und natürlich mit Mio, dem Klassenplüschi, der auf den folgenden 30 Seiten die Elternhäuser von Helene, Mayla, Feline, Orkan und Bernd usw. kennenlernt. Also all das, was Lehrer/-innen heute gar nicht mehr zu sehen bekommen. Oder gibt es noch die Elternbesuche, wie sie früher üblich waren, die es den Lehrern ermöglichen, sich wirklich ein Bild von der Familie und den Lebensumständen der Kinder zu machen?

Mio kann ja nichts ausplaudern. Außer den Lesern dieses liebevoll gezeichneten Kinderbuches. Und Mio hat selbst ein kindliches Gemüt. Für ihn ist das ein Abenteuer. Überall ist es anders. Und nicht überall ist es gut. Wer nur Mios Erzählungen lauscht, hat ganz bestimmt den Eindruck, dass der kleine Plüschpinguin nur lauter tolle Sachen erlebt hat. Er ist sogar dann glücklich, wenn er einfach nur den ganzen Tag fest im Arm geknuddelt wird wie von Bernd, der mit ihm im Kaufhaus und auf dem Spielplatz war, aber lieber so lange unterwegs ist, bis es dunkel wird. Da sehen wir ihn dann neben seiner Mama vorm Fernseher hocken und erst der Blick rechts und links zeigt, warum es der Junge vermieden hat, zuhause seinen Vater anzutreffen.

Den größten Teil von Mios Geschichten erzählen tatsächlich die Bilder, in denen die Grafikerin zeigt, was Mio nur mit fröhlicher Gelassenheit umschreibt. Schon beim Besuch bei Hugo zerbricht die Erwartung, dass wir jetzt lauter fröhliche Kinder-haben-Spaß-Geschichten zu sehen bekommen werden, auch wenn der erste Tag bei Helene viel davon hat. Man merkt hier schon, dass wirklich alles am Verständnis der Eltern für die Bedürfnisse ihre Kinder hängt, ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, die kleinen Chaosmacher so zu akzeptieren, wie sie sind, und das bunte Chaos auch in ihren Alltag zu integrieren.

Und – das wird beim Hugo-Besuch deutlich – miteinander offen und verständnisvoll umzugehen. Man wundert sich gar nicht, dass Hugo da doch lieber Kopfhörer aufsetzt und Darth Vader an die Wand gepinnt hat. Bei Juli streiten sich die Eltern zwar nicht, aber auch sie sind ganz mit sich beschäftigt und dabei so von ihrem eigenen Reden erfüllt, dass für Julis Worte kein Platz mehr ist. Und wo sind Marlons Eltern?

Der kleine Pinguin wundert sich. Aber natürlich ist er kein allwissender Gast. Er interpretiert, was er erlebt, aus einer herrlich naiven Sicht, die einen doch irgendwie daran erinnert, wie wir selbst als Kinder einmal in die Welt schauten. Damals, als wir noch nicht so viel wussten und auch nicht ahnten, dass vieles von dem, was freundlich aussah, gar nicht freundlich war, auch nicht schön oder friedlich. Bei manchen Schulfreunden hat man es vielleicht geahnt, vielleicht auch kennengelernt, wenn man mal zu ihnen eingeladen wurde. Und da und dort fühlte man sich ganz zu Recht sehr seltsam und auch unwohl.

Oder so im Schulranzen vergessen wie Mio beim Besuch in Maylas Familie. Da geht es zwar laut und fröhlich zu – aber Mio wurde ganz vergessen. Bei Amira wird er vom Hund besabbert, lernt aber auch ihre Eltern nicht kennen. Bei Oskar darf er mit der ganzen Familie Zirkus spielen, bei Orkan fühlt er sich zwar toll, aber wie mit Orkans Schwestern umgegangen wird, das findet er doch eher komisch. Bei Ella wird er auch umsorgt, obwohl nur Ellas fleißiger Vater zu sehen ist. Bei Nicki wird er den ganzen Tag verwöhnt, während Nicki selbst die ganze Zeit verwöhnt wird.

Es tun sich lauter völlig verschiedene Lebenswelten auf. Man sieht eine Menge viel beschäftigter Eltern, lernt die experimentierfreudige Alina kennen, aber auch die hypergereinigte Wohnung von Feline und ihrer Mutter. Und während man hier den Vater vermisst, tauchen bei Otto überhaupt keine Eltern auf. Er lebt bei seiner Oma. Aber die beiden verstehen sich sichtlich prima.

Was flöten geht bei all diesen Besuchen, ist das heile Klassenbild von Seite 7, die schöne Oberfläche, an der Kinder nur einfach Kinder sind und scheinbar alle glücklich. Das Oberflächenbild unserer Gesellschaft.

Oder sehe ich das zu sehr mit erwachsenen Augen? Ist nicht Mios Perspektive die schönere, der die Dinge gelassen über sich ergehen lässt und dabei sein Verständnis für die Kinder nie verliert? Und auch seine schöne Interpretation dessen, was er erlebt: Er macht aus allem das Beste. Überall passiert etwas anderes – manchmal auch mit ihm. Nur die ganzseitigen Bilder, die Tanja Székessy detailreich gezeichnet hat, verraten, wie ihr Daheim die Kinder prägt, was sie wirklich mitnehmen werden ins Leben und was möglicherweise schiefgehen wird. Und gerade hier sieht man, wie fatal der Streit um autoritäre und antiautoritäre Erziehung ist, wie er zwei Schimären aufrichtet, die mit dem erlebten Alltag der Kinder in Deutschland so gut wie nichts zu tun haben.

Wieder zwei so völlig falsche Bilder, mit denen alte weiße Männer ihre Interpretationsmacht durchzudrücken versuchen, während die meisten jungen Eltern völlig andere Sorgen und Probleme haben. Und offen für die Kinder sind sichtlich nur die Eltern, die mit sich selbst im Einklang sind, die in den kleinen Mitmenschen keine Gefahr sehen für ihr eigenes Seelenleben.

Es sind Bilder, die man mit den Kindern, die gerade das Lesen lernen, gemeinsam entdecken und entschlüsseln kann. Auch wenn die Kinder da und dort bestimmt erschrocken sein werden, weil sie von solchen Lebenswelten ihrer Altersgefährten noch nichts wussten. Nun können sie entdecken, was Mio zwar gesehen hat, aber in seiner fröhlichen Plüschtierart ganz anders erzählt hat. Die im Bild versteckten Geschichten machen aufmerksamer, vielleicht auch ein bisschen verständnisvoller für die Freunde und Freundinnen, von denen man ahnt, dass es ihnen so gehen könnte. Es regt zum Aufmerksamsein an. Eine goldene, aber selten gewordene Tugend in unserer ziemlich oberflächlich gewordenen Welt.

Tanja Székessy Mio war da!, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2019, 14 Euro.

Tanja Székessys Reise in die unausgesprochene Welt der guten und der nicht so schönen Gefühle

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Manchmal beneide ich Buchautoren ja für ihre Phantasie. Was für eine schöne Geschichte, auf so eine Idee muss man erst mal kommen.

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