Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 70, seit 23. August im Handel6. April 1967. An der Wiener Universität hält der neu-marxistische Philosoph und Soziologe Theodor Wiesengrund Adorno einen im besten Sinne populär-wissenschaftlichen Vortrag zu den „Aspekte[n] des neuen Rechtsradikalismus“. Der Sozialistische Studentenbund der Uni hatte ihn eingeladen.
Hintergrund waren die Wahlerfolge westdeutscher Neofaschisten, die dann Ende der 60er Jahre mit der NPD und unter ihrem Vorsitzenden Adolf (!) von Thadden in den Bundestag einzuziehen drohten (was sie zur Bundestagswahl 1969 knapp verfehlten). Adorno versuchte in seinen Ausführungen, die Balance zwischen politischer Analyse und phänomenologischer Betrachtung der „neuen Rechten“, der Faschismusrenaissance 20 Jahre nach seiner verschuldeten Weltkriegskatastrophe zu finden. Grundlegend gedacht und beinahe zeitlos gesagt.
50 Jahre nach Adornos Tod ist diese Rede vom Suhrkamp-Verlag veröffentlicht worden, drei Wochen nach dem Erscheinen sollte bereits die vierte Auflage gedruckt werden; das Interesse an Werk und Autor muss wohl zeitlos sein. Deshalb scheint auch der anerkannte Rechtsextremismusforscher und Historiker Volker Weiß („Die autoritäre Revolte – Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes“, 2017) recht zu haben, welcher von einer „frappierenden Aktualität“ der Ausführungen Adornos spricht.
Weiß (geb. 1972) übernahm die Aufgabe, das Nachwort zur gedruckten Rede aus dem Nachlass des Psychoanalytikers und Mitglieds der „Frankfurter Schule“ zu formulieren, konkret und beispielhaft die gesellschaftspolitischen und sozialen Kontexte vor und nach 50 Jahren im Vergleich zu beschreiben.
„Eine schematische Übertragung verbietet sich dennoch, Adorno betont in seinem Vortrag selbst die Differenzen im Vergleich mit der Weimarer Zeit.“ Schreibt Weiß in seinen ausführlichen Nachwortgedanken. Dennoch stellt er gewisse Vergleichsaspekte unter Beachtung der spezifischen historischen Bedingtheit als parallel vor bzw. heraus: Das „Vorwegpreschen“ der USA in der postmodernen kapitalistischen Entwicklung, die Dominanz eines kulturellen Konformitätsdrucks bei gleichzeitiger Hyperindividualisierung, Nationalismus als Rückzugsreflex zur Globalisierung, der Aufstieg autoritärer Politiker mit Allmachtsanspruch – jeder weiß, wer damit gemeint ist – und noch einiges mehr.
Das allein schon konstituiert den aufklärerisch-zeitlosen Charakter des Adorno-Werkes, da kann man dem Herausgeber und „Laudator“ Weiß nur zustimmen.
Theodor Adorno hatte nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ins wiedergegründete „Institut für Sozialforschung“ 1948 schnell verstanden, dass die systematische Vergangenheitsbewältigung schnell ins Abseits geriet. Die neuen weltpolitischen Konstellationen – immer noch befand man sich im „Jahrhundert der Ideologien“ – zwischen Monopolkapitalismus und donatischem Stalinismus forderten und förderten in den westlichen Demokratien eher den Antikommunismus.
Damit ging man nicht nur eine gefährliche Zweckehe mit den überlebenden und immer offener auftretenden Chargen des Nationalsozialismus ein, man beließ sie teilweise sogar in höheren Staatsämtern (Globke, Lübke, Kiesinger u. a.), ja noch mehr: Man fing wieder an, die Singularität des „schlimmen Ereignisses“, Historizität desselben und/oder personalisierte Geschichtsbetrachtung zu betonen, anstatt nach den sozialen und ökonomischen Ursachen für die antidemokratische „Gleichschaltung“ und Kriegsvorbereitung der Nazis zu suchen (und in die Betrachtung zur dialektischen Wechselwirkung zwischen herrschendem Überbau und gesellschaftlicher Basis muss man an dieser Stelle nicht abschweifen).
Man muss es schon ein Stück weit als tragisch begreifen, dass nach 1945 die linken Bewegungen in der Welt ihre historische Chance verpassten, die Wurzeln des Faschismus nachhaltig zu beseitigen, sich stattdessen allzu oft ähnlicher Methoden bedienten, ihren Diskurs nicht unter einer humanistischen „Dachorganisation“ zu führen verstanden.
Nach ‘89 und dem nächsten Sinken einer „Ideologie-Titanic“ bekam die Linke eine viel kleinere Chance geboten. Nun hatte sie eher soziale „Schadenbegrenzung“ zu betreiben, was ihr nach den Wirren der wilden 90er Jahre und dem danach vehement einsetzenden „Thatcherismus“ oder Neoliberalismus teilweise auch gelang. Punktuell und unter großen Verlusten in den eigenen Reihen.
Denke man nur an den Umstand, dass eine neoliberale Wende vom CDU-Vorsitzenden Kohl angedacht und vom Sozialdemokraten Schröder maßgeblich durchgesetzt wurde. Quo vadis – SPD? fragten sich damals bereits einige, die SPD-Mitglieder kämpfen heute den verzweifelten Kampf ums parteipolitische Überleben und sozialpolitische Glaubwürdigkeit, vor allem im Osten. Aber für die Altvorderen der Bundesführung ist Oskar Lafontaine immer noch der „Verräter“. Alles unklar in der SPD.
Eine der wesentlichen Erkenntnisse nach der Lektüre des Adorno-Textes ist die, dass politische Gegner der herrschenden Kreise immer auf der falschen Seite verortet und dem „Volk“ zumindest verzerrt präsentiert werden. Bei Adorno heißt es: „Häufig verschieben die von Deklassierung Bedrohten die Schuld an der Misere nicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt, sondern auf diejenigen, die dem System, in dem sie einmal Status besessen haben […], kritisch gegenübergestanden haben.“
Gut vorstellbar und tragisch erlebbar, unter den Bedingungen einer immer ausdifferenzierteren Medienlandschaft und Kommunikationskultur. Da wird auf „schwänzende Schüler“ eingedroschen und in einer unglaublichen Infantilisierungsmasche biedermeierlich-pietistische Gesetzestreue vor die Wendung hin zu existenziellen Lebengrundlagen gestellt. Es wird diskreditiert anstatt wahrhaft vernünftig und reif darauf zu reagieren: „We have no Planet B!“ – „Elektroautos sind auch nicht die Lösung!“ Basta. Nichts verstanden.
Dabei beruft man sich auf der ganz Rechten immer „auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch.“ Wieder Adorno im Original, der bereits 1967 Grundstrukturen rechtsradikalen Denkens – wir nennen sie „rechtspopulistisch“ in der Hoffnung, „verlorene Seelen“ wiedergewinnen zu können – gedanklich nachvollziehbar und auch anwendbar auf unser Heute formulieren konnte.
In einem sprachlich anspruchsvollem, aber reizvollem Ton und Duktus. Dabei ist dieser Text gerade durch die wunderbare Sprachvarietät und erklärendem Ton des Understatements – Adorno selbst meint tiefstapelnd zu Beginn seiner Ausführungen, er wolle nur „ein bisschen ergänzen“ im Diskurs – so anregend und inspirierend für den praktisch-politischen Vergleich.
„Und die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinn als die Wundmale einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.“ Ja, wir müssten es doch eigentlich besser wissen: Jahrelang wurde in „Elefantenrunden“ an Wahlabenden die schwache Beteiligung beklagt und dass man „gründliche Ursachenforschung“ betreiben müsste, soziale Infrastrukturen wurden auf dem Lande konsequent zurück- oder abgebaut, der Gegensatz zwischen kulturell vitalen Städten und einer „Landflucht ins Wohlfühlheim“ wurde deutlicher.
Die „Deklassierung“, von der Adorno spricht, fand ja konsumistisch abgefedert statt, wenn Gemeinde XY eher mit dem vierten Supermarkt als mit einer Stelle für eine Gemeindeschwester „belohnt“ wurde.
Der Preis war ein gefährlicher „Schlummerzustand“ ideell Entmündigter, denen zwar die Freiheit geschenkt wurde, ihnen aber der Umgang mit derselben weitgehend fremd blieb. Der Neoliberalismus hat nicht wirklich ein Interesse an mündigen Bürgern, so schien es, zumindest führte er nicht zu einem staatlich verantwortungsvollen Programm für geistig-kulturellen Reichtum breiter Bevölkerungsschichten.
Da setzt man eher auf „Profis“ als aufgeklärten Breitensport. Hofft danach, dass alles irgendwie gutgeht. Hoffen alleine hilft da wohl nicht. Mit den „neuen Rechten“ muss sich auseinandergesetzt werden, „nicht mit den Kadern“ (Adorno), sondern den Trägern der Ideologie. Adorno hat in diesem Zusammenhang ganz praktische Ratschläge.
„Man soll nicht in erster Linie mit ethischen Appellen an die Humanität operieren. Denn das Wort ‚Humanität‘ selber und alles, was damit zusammenhängt, bringt die Menschen, um die es sich handelt, zum Weißglühen – wirkt wie Angst und Schwäche. Das einzige, was mir etwas zu versprechen scheint, ist, dass man die potentiellen Anhänger des Rechtsradikalismus warnt vor dessen eigenen Konsequenzen, dass man ihnen klarmacht, dass diese Politik auch seine eigenen Anhänger unweigerlich ins Unheil führt.“
Fazit: absolut lesenswert.
Theodor W. Adorno: „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“, kommentiert von Volker Weiß, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 86 S.
Überm Schreibtisch links: Bismarck – Kairos mit „Eisen und Blut“
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