München ist kein glücklicher Ort. Jedenfalls nicht für Lukas und seine Schwester Marie, die eigentlichen Helden in Désirée Opelas Roman, der jetzt bei Faber & Faber erschienen ist. Wird Faber & Faber jetzt zum Debütverlag für Absolvent/-innen des Literaturinstituts? Vielleicht. Was nicht heißt, dass die Debüts so leicht verdaulich sind. Denn natürlich schreiben die jungen Leute über ihr Weltgefühl. Und das ist kein besonders ermutigendes. Denn München ist wohl so etwas wie die Vorhölle.
Vielleicht auch nicht nur München, denn Opela beschreibt etwas, was auf diese Weise tausende junger Leute erleben. Bücher darüber findet man sonst eher im Verlag Voland & Quist. Bücher über jenen beklemmenden Raum zwischen Jugend und Erwachsensein, Beschultwerden, kreativem Aufbruch und dem zähen Scheitern in einer durchreglementierten Welt, die sich zwar überall jugendlich anmalt und Kreativität feiert, aber nichts von beidem ist.
Vielleicht muss man jung sein, um das noch mit allen Sinnen zu spüren, verloren in einem Raum zwischen dem Himmel der antrainierten Träume und der realen Wirklichkeit einer Arbeitswelt, die ihren Höllencharakter hinter genormten Abläufen und genormten Erwartungen verbirgt. Lukas kann zwar seine Träume als angehender Architekt ein wenig verwirklichen, während Marie versucht, sich über einen Aushilfsjob im Supermarkt so eine Art Existenz aufzubauen, damit sie sich endlich eine eigene Wohnung leisten kann.
Aber sie landen beide in einem Zwischenraum, in dem sich eigentlich nichts fĂĽgt. Was nicht nur an den Verhältnissen in MĂĽnchen liegt, wo man – wie zumindest Lukas’ Freund Krabbe weiĂź – Beziehungen braucht, um irgendwo den Einstieg zu finden, und sei es auch nur in ein ArchitekturbĂĽro. Wer keine Beziehungen hat, bleibt drauĂźen, irrt durch einen groĂźen, kaum greifbaren Raum, erfĂĽllt mit lauter hochtrabendem Geschwätz, der Selbstdarstellungskunst all der Leute, die beim Besuch der „angesagten“ VergnĂĽgungsorte versuchen, jene Genialität auszuleben, fĂĽr die in ihrem täglichen Angstelltenleben kein Platz ist.
Und auch Lukas hat nicht wirklich gelernt, über sich und seine Gefühle zu reden. Auch wenn er dabei Zoe kennenlernt, die ihn mit ihrer rigorosen Art, ihre Kunst zu machen, beeindruckt. Aber er ist so damit beschäftigt, seine Umgebung und sein eigenes (Nicht-)Tun zu reflektieren, mit Bedeutung und Überhöhung aufzuladen, dass er gar nicht merkt, wie sie ihm entgleitet. Bis sie eine Tages tatsächlich geht und ihn mit dem leer geräumten Zimmer allein lässt. Was ihm überhaupt nicht hilft, denn das stürzt ihn endgültig in eine Krise und ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit den Fragmenten seines Klinikaufenthalts. Vielleicht waren auch die Drogen schuld, die er sich aus lauter Gleichgültigkeit reingezogen hat. Am Ende ist es Marie, die dem Abgestürzten wieder Halt gibt und ein bisschen Ordnung in sein Leben bringt.
Da aber Désirée Opela das alles nicht linear erzählt, sondern versucht, die rastlosen Tage von Lukas und Marie über deren eigene Reflexion einzufangen, entsteht auch für den Leser ein nicht eindeutiger Raum – über den Lukas dann gerade während seines Klinikaufenthalts wieder intensiv reflektiert, so besessen davon, er könnte Stadt- und Lebensräume in ihrer Vieldimensionalität erfassen.
Das Problem aber spürt der Leser schon früher. Denn immer wieder ist er aufs Neue irritiert darüber, wessen abendliche Schleifen durchs Münchener Nachtleben er nun gerade erlebt. Keiner der Protagonisten ist in Wirklichkeit bei sich, traut sich „ich“ zu sagen und sein Handeln klar zu definieren. Begegnungen bleiben oberflächlich. Man versucht zwar, einander mit großen philosophischen Sprüchen zu beeindrucken, sich als cool und weltgewandt zu verkaufen.
Doch alle diese Ausflüge enden im Nichts. Werden zu ziellosen Rundflügen durch einen Raum, der außer Alkohol, Drogen und oberflächlichen Geplänkeln nichts zu bieten hat. Und damit wieder Teil von etwas ist, was Opela im Titel „in limbo“ nennt. Und damit der Leser wenigstens eine kleine Handreichung hat, wohin es geht, gibt es auf dem Vorblatt den Hinweis: „Im April 2007 schaffte der Vatikan den Limbus ab. Im April 2018 bestätigte er die Existenz der Hölle.“
Limbus aber war im Geist der mittelalterlichen Religion ein „spekulativer Aufenthaltsort der Seelen, die vom Himmel ausgeschlossen, aber nicht zu weiterer Bestrafung verdammt sind“, laut Wiktionary übersetzbar auch als Vorhölle, aber nicht als Fegefeuer. Denn die hier Verirrten müssen nicht mehr gereinigt werden. Sie werden nur nicht akzeptiert und müssen draußen bleiben. So, wie viele junge Leute ihr heutiges Leben tatsächlich erleben. Sie lernen, studieren, machen Praktika, jobben, tun alles, um irgendwann endlich einmal reinzukommen – in den Beruf, die gewünschte Familie, eine bezahlbare Wohnung. Und bekommen dennoch lauter Absagen, bekommen zu spüren, dass sie in der verriegelten Welt der Alten und Besitzenden nicht erwünscht sind. Höchstens als billige Aushilfskräfte.
Das kennt man auch in Leipzig.
Wikipedia kennt aber noch eine zweite Interpretation für Limbus: „ein Ort oder Zustand des Vergessens, der Nichtbeachtung oder der andauernden Unsicherheit; Schwebezustand, Abstellgleis, Vergessenheit“.
Damit dürften sich dann noch viel mehr junge Leute identifizieren können, die sich von Billigjob zu Billigjob hangeln, obwohl sie Diplome, Bachelors und Masters in der Tasche haben, ständig am Rotieren sind, weil Wohnung, Krankenkasse, Rentenversicherung zu bezahlen sind. Oh, da sind die Alten spitze, beim Handaufhalten. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Besitzständen bestimmt sind und deshalb Zukunft nicht mehr zu denken in der Lage ist. Stets steht einer vor der Tür, der kassieren will, der Druck macht, auf dass man rotiere und gar nicht erst zur Besinnung komme, was man denn wirklich will im Leben.
Ein wenig problematisch sind auch die Eltern von Lukas und Marie – der emotional eigentlich stets abwesende Vater genauso wie die Mutter, die ihrer Tochter ganz ohne Worte das Gefühl gibt, dass sie nicht genügt, dass sie den unausgesprochenen Erwartungen auch nie genügen kann.
Auch das ein Limbus, den viele junge Leute erleben, in unserer von falschen Versprechungen angefüllten Zeit erst recht. In aller Stille wird ihnen die Schuld aufgeladen, nicht zu passen, nicht gut genug zu sein für die Ansprüche da draußen. Auch dann, wenn sie sich aufreiben für das bisschen, das dann noch übrig bleibt vom Lebenstraum. Die Erwartungen der Alten, die eigentlich diejenigen sind, die es absolut nicht fertigbringen, über sich, ihre Träume und Gefühle zu reden, werden stillschweigend abgeladen auf den Kindern. Jeder Besuch bei diesen Eltern wird zu einem quälenden Ringen, wer dieses Nicht-Reden-Können am längsten aushält. Oder überhaupt aushält, ohne krank zu werden.
Vielleicht klingt das jetzt schon konkreter, als es von der Autorin gemeint ist, deren Augenmerk sichtlich auf dem auch sprachlichen Erkunden dieses Raums der „Nichtbeachtung und der andauernden Unsicherheit“ liegt, dieses Schwebezustands, der eigentlich nur in lauter fadenscheinigen Kompromissen enden kann. Wird man dann irgendwann so wie diese Eltern? Genauso verschlossen, falsche Erwartungen verbreitend und ungnädig, wenn die Kinder sich einfach nicht einfügen?
Oder wird man krank – so wie Lukas, der in Zoe durchaus mehr gesehen hat als eine schöne talentierte Freundin. Aber wie sollte sie ihn retten können, wenn er nie wirklich da ist, immerfort beschäftigt, sein Leben aus geschützter Distanz zu interpretieren?
Natürlich wird das keine wirklich berührende Geschichte. Es sei denn, man findet diesen Trost in der vertrauten Beziehung von Marie und Lukas, die am Ende gemeinsam hineingehen in die Stadt und alles (noch einmal) beginnen lassen. Oder es überhaupt erst beginnen lassen. Auch wenn wir nicht erfahren, was sie dann tun. Nur, dass sie jetzt wohl pfeifen auf all die Erwartungen, die den Limbus erst zu einem höllischen Ort machen. Einem, in dem die besitzstandswahrenden Alten sich die Jungen garkochen, bis sie reif werden, von ihnen mit all ihren Träumen und Erwartungen enttäuscht und verspeist zu werden.
Schon wieder übertrieben? Ich glaube nicht. Auch wenn sich Désirée Opela bemüht, nicht zu werten, nicht einzugreifen als wissende Autorin, sondern ihre Helden tatsächlich irren und schweben lässt in jenem Zustand der Suche nach einem auch nur einigermaßen vertrauenswürdigen Zugang in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben.
Désirée Opela In Limbo, Faber & Faber, Leipzig 2019, 20 Euro.
Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.
Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.
Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.
Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.
Keine Kommentare bisher