Äußerlich gibt sich das Buch unscheinbar: In Mintgrün gefärbt, mit Buchstaben, die an Samisdat erinnern und einem Schwarz-Weiß-Foto der Wurzener Teppichfabrik aus dem November 1990. Da war die Soziologin Cordia Schlegelmilch in Wurzen mit Fotoapparat und Aufnahmegerät unterwegs, um wissenschaftlich festzuhalten, wie die Menschen einer Kleinstadt in der DDR die Transformation erlebten, die heute meist lax als „Wende“ bezeichnet wird.

Das Forschungsprojekt ist in dieser Art einzigartig. Von 1990 bis 1996 sprach die Berliner Soziologin mit über 150 Menschen aus Wurzen, mit Pfarrern, Vopos, Arbeitern und Ingenieuren, Mitarbeitern der Stadtverwaltung, Vertretern einer LPG und des obligatorischen Gewerkschaftsbundes FDGB, mit SED-Funktionären, Kaufhallenleiterinnen und Vertretern der Blockparteien. Lauter Menschen, mit denen sie auch deshalb vertrauensvoll sprechen konnte, weil einer den anderen empfahl und weil die Gespräche anonym blieben. Auch im Buch sind die Aussagen der Befragten anonymisiert, auch wenn man über die Kürzel darunter erfährt, aus welchem Umfeld die Befragten stammten und wie alt sie waren.

Das Buch kommt nicht ganz zufällig jetzt kurz vorm 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Von Oktober bis Dezember soll es in der Wurzener Rathausgalerie eine Ausstellung mit den Fotos geben, die Schlegelmilch 1990 anfertigte, einer Zeit, als die kleine Industriestadt nahe Leipzig noch alle Spuren der Vergangenheit zeigte. Die Fotos im Buch sind fast alle farbig und man sieht eben keine triste graue Stadt. Eher dominieren jene Fassadentöne, die entstehen, wenn über 40 Jahre lang die Schlote ohne Filter qualmen – von braunkohlebraun über rußblau bis schwefelgelb.

Und trotzdem wirken die Fotos nicht trist. Sie zeigen eine schöne Stadt unter der Patina einer Epoche, die sich ihrer selbst 40 Jahre lang nicht bewusst werden durfte. Und Menschen und Geschäfte setzen knallbunte Akzente, denn in die abgebildete Zeit der Interviews fallen auch die Volkskammerwahlen von März 1990, die Währungsunion und der Tag der deutschen Wiedervereinigung. Es war die Zeit, als sich die Läden über Nacht umfirmierten und auf einmal ein Warenangebot wie im Westen präsentierten, als fliegende Händler auftauchten und viele Wurzener den Schritt in eine neue Selbstständigkeit wagten. Eine Zeit mit Höhen und Tiefen. Die bis heute nachwirkt.

Schlegelmilch hat die Interviews nicht 1:1 ins Buch übernommen, sondern markante Zitate aus den Interviews mit rund 130 Menschen ausgewählt und thematisch zeitlich sortiert. Sodass die Leser sich richtig einfühlen können in das, was da in knappen zwei Jahren mit den Wurzenern geschah.

Obwohl Schlegelmilch ganz bewusst nach einer Kleinstadt mit markanter Industrie im Osten suchte und Wurzen als idealtypisch auswählte, erinnert praktisch alles, was die Wurzener erlebten, an das, was auch die anderen DDR-Bewohner erlebten. Und es ist ein 300 Seiten dickes Argument gegen all die Schwätzer, die heute die DDR wieder verklären. Entweder waren sie nicht dabei und haben es nicht am eigenen Leibe erlebt, oder sie lügen den Wählern die Hucke voll.

Weil eben nicht nur Hausfrauen, Kirchenangehörige oder kleine Handwerker befragt wurden, wird selbst das Vor-Wende-Bild sehr dicht und aussagekräftig. Das Bild einer Stadt, deren Häuser und Betriebe substanziell verschlissen sind, wo die Arbeiter in der Mittagspause die Betriebe verlassen, um wenigstens noch Brot zu bekommen. Das Warenangebot in den Geschäften verschlechterte sich immer mehr.

Und trotzdem übererfüllen die Betriebe offiziell ihre Pläne, werden Orden verteilt und Schwarzbauten errichtet, weil niemand mehr darauf vertraut, dass irgendetwas planmäßig gebaut werden kann. Und da auch Wirtschafts-und SED-Funktionäre zu Wort kommen, lernt man auch ihre Sicht kennen. Die Versuche, den Topos „Es war doch nicht alles schlecht“ unterzubringen, beginnen erst nach der Wende, als die meisten gezwungenermaßen ihre Ämter niederlegen mussten. Zur Zeit vor 1988 wird das Bild erstaunlich eindeutig, werden auch interne Analysen sichtbar, die den Niedergang der DDR-Wirtschaft beschreiben.

Nur mit dem Beginn dieses Niedergangs variieren die Einschätzungen, obwohl die meisten das Jahr 1972 nennen, jenes Jahr, in dem der frisch inthronisierte Parteichef Erich Honecker die letzten mittelständischen Betriebe enteignen ließ und damit etwas lostrat, was die DDR-Bürger seit 15 Jahren nicht mehr gekannt hatten: eine manifeste Versorgungskrise mit Konsumgütern und Dingen des täglichen Bedarfs, die Mitte der 1970er Jahre spürbar wurde und sich in den 1980er Jahren immer weiter verschärfte.

Gleichzeitig erlebten die Arbeiter, dass kaum noch etwas in ihre Betriebe investiert wurde. Mit über 30 Jahre alten Maschinen versuchten sie teilweise sogar noch für den Weltmarkt zu produzieren. Und die zitierten Ökonomen nannten augenscheinlich sogar ein konkretes Jahr, an dem der DDR-Wirtschaft endgültig die Puste ausgehen würde – das Jahr 1992.

Und es wird noch besser, weil sich natürlich viele der Interviewten dann im rasenden Wechsel von 1989 zu 1990 fragten, ob das nicht eigentlich sogar so geplant war. Selbst die hohen SED-Funktionäre sprechen solche Vermutungen aus, dass die Honecker-Regierung schon Mitte der 1980er Jahre Ideen entwickelte, bei einem Volksaufstand ohne viel Federlesens die Grenzen zu öffnen.

Die andere Variante, dass der Mauerfall am 9. November nur ein unüberlegter Versprecher war, verwirrt ja selbst die Historiker bis heute. War die SED-Führung tatsächlich so inkompetent und überfordert, dass sie überhaupt nicht mehr in der Lage war, irgendeine sinnvolle Entscheidung zu treffen?

Auch das bietet sich als Interpretation an. Auch das unterfüttert mit sehr drastischen Aussagen damaliger SED-Funktionäre, die teilweise selbst verzweifelten in einem hierarchischen Gefüge, in dem auf Stadt- oder Kreisebene so gut wie gar nichts mehr entschieden wurde. Spätestens nach Bildung der riesigen Kombinate Anfang der 1980er Jahre, mit denen auch jede eigenständige Entscheidung in den Betrieben beendet wurde. Ab da wurden sämtliche Entscheidungen nur noch zentral in Berlin getroffen.

Doch genau das führte dazu, dass keine Vorgabe mehr zur anderen passte. Fast alle Befragten wundern sich zu Recht, warum schon Mitte der 1980er Jahre an allen Ecken ein eklatanter Mangel herrschte, selbst die simpelsten Dinge zur Bückware wurden oder nur noch über persönliche Beziehung zu bekommen waren. Auch wenn niemand sagen konnte, wo alle diese Waren abblieben.

Für eins sorgten die beiden Wirtschaftsreformen, die Honecker verantwortete, auf jeden Fall: Für die Eliminierung von Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Alle Entscheidungsgewalt war nur noch zentral, ganz oben im Kopf der Machtpyramide konzentriert und damit quasi im greisen Politbüro. Mitte der 1980er Jahre hatten die alten Männer um Honecker auf jeden Fall in Wurzen jegliches Ansehen verloren.

Die Konzentration der gesamten Macht in einem Kabinett, in dem ein eigentlich längst schon selbst gealterter Egon Krenz als „Hoffnungsträger“ galt, hatte dem, was den DDR-Bürgern als neue, humanere Gesellschaft zugemutet wurde, völlig den Boden entzogen. Und selbst in der Wurzener SED-Spitze sah man, wie das ganze Konstrukt zu bröckeln begann, als die Honecker-Riege zum Reformkurs Gorbatschows auf Distanz ging.

Aber auch dieser Zerfall der Autorität begann schon in den 1970er Jahren, mit Honeckers Unterschrift unter die Schlussakte von Helsinki. Fortan erwarteten die DDR-Bürger natürlich, dass auch die versprochene Reisefreiheit endlich umgesetzt würde. Und als das nicht geschah (oder eben nur in winzigen Schritten, die für die meisten gar nichts änderten), begann die Zahl der Ausreiseanträge zu steigen. Man bekommt ein sehr dichtes Bild einer zunehmend als unzumutbar empfundenen Situation – freilich aus der Sicht der Dagebliebenen, die oft genug schwankten: Auch gehen oder aushalten? Wer da blieb, blieb vor allem da, weil er sich in Wurzen fest verwurzelt fühlte.

Man möchte schon gern glauben, dass einige der interviewten Funktionäre tatsächlich taten, was sie konnten, um die Lebensbedingungen in Wurzen zu verbessern, und dass sie selbst an einer Hierarchie scheiterten, in der die Meldungen von ganz unten auf ihrem Weg hoch nach Berlin immer mehr retuschiert und aufgehübscht wurden. Was dann ja all die Jubelmeldungen in den Zeitungen ergab, die kein Mensch mehr glaubte. Die erfolgreiche Wirtschaftsnation DDR war zur Schimäre geworden. Und gleichzeitig erlebten auch diese SED-Funktionäre, Gewerkschafts- und Verwaltungsmitarbeiter, dass sie das offene Sprechen völlig verlernt hatten.

Als 1989 auch in Wurzen der Unmut hochkochte – spätestens nach der gefälschten Kommunalwahl im Frühjahr – scheiterten die Funktionsträger reihenweise bei dem Versuch, auf Versammlungen Rede und Antwort zu stehen. Sie hatten sich die Floskeln, mit denen die herrschende Partei die Wirklichkeit zukleisterte, so eingeübt, dass sie keine Gesprächsebene mehr herstellen konnten. Ihr Parteisprech machte nur allzu deutlich, dass diese Partei dem Volke nichts mehr zu sagen hatte. Man hatte sich nicht nur auseinandergelebt, man hatte sich völlig entfremdet.

Und diese Entfremdung herrschte auch im Parteiapparat selbst, was freilich erst nach den Demonstrationen und den Umstrukturierungen in Kreis und Stadt richtig deutlich wurde. Auf einmal zeigte sich, dass es in dieser SED durchaus realistische Leute gab, die auch verstanden, dass nun sämtliche Verwaltungen erst einmal aufgeräumt wurden, und gleichzeitig verbissene Funktionäre, die nicht verstehen wollten, was da geschah. Auch nicht, warum dieses Volk, dem sie nun 40 Jahre lang die Zukunft gepredigt hatten, einfach davonlief, nicht nur zu den Demonstrationen in Leipzig, sondern ab November endgültig in eine schnelle deutsche Einheit und den so fürchterlichen Kapitalismus, den man doch in den nächsten zwei Jahren niederkonkurriert hätte.

Gerade der schnelle Wandel der Montagsdemonstrationen (die auch in Wurzen im Kleinformat stattfanden) von Demonstrationen zum radikalen Wandel der DDR hin zu Demonstrationen für eine schnelle Deutsche Einheit zeigt, wie mächtig ganz simple materielle Gründe sind in solchen politischen „Wenden“. Was ja auch die Bürgerrechtler erlebten, die die Friedliche Revolution auch in Wurzen vorantrieben, denen aber Anfang 1990 schlicht die materielle und personelle Basis fehlte, um mit den einstigen Blockparteien – allen voran die CDU – konkurrieren zu können.

Manch ein Interviewter versucht zwar, die Möglichkeiten eines „Dritten Weges“ noch einmal nachträglich zu erörtern. Aber spätestens mit der Maueröffnung hatte sich das erledigt. Und wenn man die Berichte über den Zustand der Wirtschaft vor 1989 betrachtet, war die Zeit einfach reif. Mit so einer Wirtschaft wäre die DDR nicht in der Lage gewesen, auch nur noch ein Jahr länger weiterzumachen. Was ja bekanntlich den enormen Druck erzeugte, die Volkskammerwahlen vorzuziehen, im Sommer schon die D-Mark zu übernehmen und den Einigungsvertrag zusammenzuzimmern, so schnell, dass man wirklich einige Fehler darin platzierte, die dem Osten bis heute zu schaffen machen.

Aber gerade die Vertreter der bürgerlichen Parteien, die jetzt, nachdem sie 40 Jahre lang das Feigenblättchen der Demokratie abgaben, tatsächlich in Verantwortung kamen, schätzen ziemlich einheitlich ein, dass es zu diesem Höllenritt praktisch keine Alternative gab. Auch wenn auch viele Wurzener dann am eigenen Leib erlebten, wie ernüchternd eine Marktwirtschaft ist, wenn sie Menschen in Arbeitslosigkeit schickt und für sicher geglaubte Berufskarrieren gründlich beendet. Deswegen steckt dann in den Aussagen für die Zeit nach Währungsunion und Einheit einiger Frust, ein gerüttelt Maß an Enttäuschung und ein gut Teil Ernüchterung. So ein bisschen auch nach dem Motto: „Hätten wir das gewusst …“.

Aber dazu hätten die Wirtschaftsfunktionäre in der DDR eben regelmäßig wirklich belastbar über den Zustand der DDR-Wirtschaft berichten müssen. Nicht nur der Westen machte sich bis 1990 riesige Illusionen über den Stand der DDR-Wirtschaft – die Arbeiter und Angestellten sichtlich auch. Obwohl sie jeden Tag den Zustand ihrer Betriebe und das schwindende Warenangebot sahen. Irgendwie ist die Psyche des Menschen doch etwas sehr Seltsames. Sie hegt noch dann übersprudelnde Zuversicht, wenn der reale Augenschein etwas völlig anderes erzählt.

Wobei die Nach-Wende-Aussagen nicht nur Tristesse spiegeln, denn auch viele Wurzener erlebten nicht nur die tiefe seelische Befreiung durch die Selbstermächtigung zum Sprechen und Demonstrieren, sie waren nun – in Parteien, am Runden Tisch, im Bürgerkomitee – auch selbst gefragt und erlebten, dass die Entwicklung nun eben doch in großen Teilen in ihrer eigenen Hand lag. Erst recht nach den Kommunalwahlen im Mai, als auch die unterste Ebene, die Stadt wieder richtige Entscheidungskompetenzen zurückerhielt.

Das Buch endet thematisch kurz nach der Deutschen Einheit, fragt am Ende auch noch persönliche Bilanzen, Identitäten und Mentalitäten ab. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus. Einige haben ihr Leben selbstbewusst in die eigene Hand genommen, andere fühlen sich abserviert und in die Ecke gedrängt. Und es kommen auch erste Facetten dessen zum Vorschein, was derzeit wieder das Bild des Ostens bestimmt – eine unverstellte Wut auf alle „Linken“, ein spürbarer Rechtsruck und ein gewisses Machtphlegma, das sich nicht mehr erklärt, sondern die politische Konkurrenz mit der Überheblichkeit des „Siegers“ betrachtet. Was eben auch in eine neue Unfähigkeit des Dialogs führt.

Am Ende doch überraschend ist, dass das Wesentliche, was die damals Befragten äußern, noch heute zum Erinnerungsgut der Ostdeutschen gehört. Da ist nichts wirklich verloren gegangen. Die Ereignisse dieser zwei turbulenten Jahre sind noch gegenwärtig – mitsamt der durchaus geäußerten Frage: Hätte man es besser machen können?

Vielleicht ist das die Frage, mit der man sich nach 30 Jahren einmal beschäftigen sollte. Denn die Verklärung der Geschichte geht immer in die Hose. Das ist ja eine der wichtigsten Lehren aus 1989.

Cordia Schlegelmilch Eine Stadt erzählt die Wende, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2019, 19,80 Euro.

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