Jรผngst lieรŸ ich hier ein wenig meinen Unmut aus an den Expeditionskorps diverser groรŸer deutscher Zeitungen, die meinten, den Osten mit solchen ausgesandten Forschungskollektiven noch schnell mal vor den Landtagswahlen ergrรผnden zu kรถnnen. Es gibt auch Magazine und Journalisten, die es anders gemacht haben. So wie Peter Maxwill, 1987 geboren und als Redakteur beim โ€žSpiegelโ€œ beschรคftigt. Er ist schon seit 2015 unterwegs.

Er war zwar irritiert durch die in allen Medien im Sommer 2015 verbreiteten Ereignisse im sรคchsischen Freital. Er reiste auch hin โ€“ sogar mehrmals. Doch er gehรถrt zu jenen Journalisten, denen das Dramatisieren eines seltsamen Ereignisses zu wenig ist, die auch noch wissen wollen, was danach passiert, wie die Geschichte weitergeht und was sie mit den Betroffenen anrichtet. Und er hat โ€“ vielleicht weil er so jung ist โ€“ keine Mauer im Kopf.

Er sortierte die Nachrichten nicht einfach nach Ost und West, auch weil die Ereignisse in Freital etwas deutlich machten, was auch in westdeutschen Provinzen lรคngst zu sehen ist: Unsere Gesellschaft polarisiert sich immer mehr, zerreiรŸt regelrecht. So wie die Diskussionen in den sogenannten โ€žsozialen Medienโ€œ, wo รผbereinander hergefallen wird, als gelte es, dem anderen รผber kurz oder lang den Schรคdel einzuschlagen oder ihm jegliche Zurechnungsfรคhigkeit abzusprechen.

Was verloren geht, ist die Gesprรคchsfรคhigkeit unserer Gesellschaft, die Akzeptanz dafรผr, dass andere รผber die verschiedensten Dinge anderer Meinung sind. Und dass man selbst nach einem zรผndenden Streitgesprรคch nicht auseinander gehen muss mit dem Gefรผhl, dass man mit einem โ€žFeindโ€œ gesprochen hat. Es kommt im Buch auch zu einigen solcher Gesprรคche, auch einem aus der von den groรŸen Medien initiierten Reihe โ€žDeutschland sprichtโ€œ, wo ganz bewusst Menschen zusammengebracht wurden, die kontrรคre Ansichten zur Welt und zum Zeitgeschehen haben. Und auch wenn sich das in den Gesprรคchen bestรคtigte, gingen die meisten doch mit dem Gefรผhl auseinander, dass dieses Miteinandersprechen sie bereichert hat. Auch bestรคrkt.

Und trotzdem scheint das ganze Land auseinanderzudriften, werden selbst Menschen, die sonst eher zurรผckhaltend sind, radikaler in ihren Wortmeldungen, bekommen radikale Demonstrationen Zulauf und eigentlich sonst friedfertige Bรผrger reagieren mit รถffentlicher Wut. Aber das begann nicht erst mit der โ€žFlรผchtlingskriseโ€œ von 2015, die keine Krise war und auch keine unrechtmรครŸige โ€žGrenzรถffnungโ€œ. Auch Maxwill merkt an, wie auf einmal ein seltsamer Wortgebrauch in den รถffentliche Diskurs schwappt, lauter Begriffe, die direkt dem Vokabular der NS-Zeit entstammen und natรผrlich ihre Quellen haben. Verblรผffend ist eher, welche Renaissance sie erfahren und wie viele Menschen sich dazu verleiten lassen, dieses von Verachtung und Hass besetzte Wortwerk zu benutzen.

Das hat Ursachen. Und einigen kommt Maxwill in seinen vielen kleinen Reportagen auf die Spur, die ihn seit 2015 in fast jede Ecke der Republik gefรผhrt haben โ€“ und in einem Fall auch darรผber hinaus ins belgische Mechelen, einer Stadt, die jahrzehntelang fรผr all ihre sich immer mehr aufschaukelnden Probleme bekannt war, die irgendwie mit dem wachsenden Anteil an Migranten in der Stadt zu tun hatten.

Aber Maxwill spricht in diesem Fall mit dem Bรผrgermeister von Mechelen, Bart Somers, dem es durch eine Doppelstrategie gelungen ist, das Klima in der Stadt vรถllig zu drehen โ€“ er hat eine harte Law-and-Order-Politik mit einer bewussten und finanzstarken Integrationspolitik verbunden mit dem Ziel, den Bรผrgern der Stadt das Gefรผhl zu geben, dass sie alle Bรผrger sind und dass sie alle dazu beitragen kรถnnen (und mรผssen) ihre Stadt voranzubringen. Es geht nun einmal immer um das Thema Teilhabe. Und um Engagement. Und zwar nicht nur das von Freiwilligen (zu denen Maxwill aus ganz Deutschland ebenfalls Beispiele bringt), sondern auch der Stadt.

Spรคtestens beim Thema Mechelen ahnt man, welchen Anteil amtierende Politiker und Stadtverwaltungen tatsรคchlich haben, wenn eine Stadt in Streit und Aggression abkippt. So betrachtet โ€“ ein sรคchsisches Problem, dem Maxwill mit der Freitaler Stadtverwaltung und einer resoluten Sprechverweigerung der bรผrgerlichen Parteien exemplarisch begegnet.

Genau in solche Rรคume des Nicht-Stellung-Nehmens, der regierenden Sprachlosigkeit und der Feigheit, sich gegen die Aggression einer in der Regel winzigen rechtsradikalen Szene entgegenzustellen, dringen die Rechtsradikalen vor, die gern verharmlosend Rechtspopulisten genannt werden. Aber eine in Aggressionen zerfetzte Gesellschaft ist ihr Ziel. Sie sรคen Hass und Misstrauen. Und sie agieren mit offener Aggression, deren Zweck nun einmal die Einschรผchterung ist. Auch Maxwill kennt die E-Mails dieser Leute, die vor der Androhung von Mord nicht zurรผckschrecken.

Und die auch deshalb immer wieder auftrumpfen, weil die Regierenden immer wieder zurรผckgewichen sind. Auf Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen hat die Bundespolitik genauso feige reagiert wie auf die Vorfรคlle ab 2015. Statt den Rechtsradikalen ihre Grenzen zu zeigen, hat man die Asylgesetzgebung verschรคrft โ€“ und damit den Eindruck verstรคrkt, dass Zuwanderung unerwรผnscht ist und gewalttรคtige รœbergriffe auf Menschen, die anders aussehen, tolerierbar. Deswegen kommt auf Maxwills Deutschlandkarte auch Solingen vor, nebst etlichen anderen westdeutschen Stรคdten, die er besucht, weil er wirklich wissen will, warum die Gemรผter so รผberkochen.

Liegt es an der falschen bzw. fehlenden Integration? Warum werden Asylsuchende zu Mรถrdern oder radikalisieren sich gar binnen kรผrzester Zeit? Hat das vielleicht genau mit der nicht ausgesprochenen Unwilligkeit deutscher Behรถrden zu tun, Menschen aus (Bรผrger-)Kriegslรคndern wirklich eine Chance zu geben? Selbst dann, wenn sie hochmotiviert sind? Und was geht dann in diesen jungen Menschen vor, wenn ihnen immer wieder auf die schรถne amtliche Art der Stinkefinger gezeigt wird? Eine Art, hinter der sich die eigentlichen Rassisten ja so gern verstecken, wenn sie dann auf einmal anfangen, von Werten, Kultur und Identitรคt zu reden.

Wobei Maxwill auch zeigen kann, dass bei all den Geschichten, die er erzรคhlt, immer auch das Thema Heimat mitschwingt. Die einen glauben ihre Heimat, so wie sie sie kennen, bedroht, die anderen suchen einen neuen Ort, an dem sie zuhause sein kรถnnen und akzeptiert werden. Aber dahinter schwingt noch etwas anderes mit, das Maxwill auch bei den Entwicklungen in den USA, GroรŸbritannien oder Italien am Werk sieht.

Der Rechtsruck ist nicht nur ein deutsches Thema. Maxwill fรผgt jedem Kapitel in seinem Buch auch noch eine eigene Erรถrterung bei, in der er Erklรคrungsansรคtze sucht fรผr das, was er gefunden hat. โ€žEs gibt ein grundsรคtzliches Problem: eines, das vermutlich viel mit รถkonomischen Krisen im Kapitalismus und den gebrochenen Versprechungen von Politikern und Wirtschaftsexperten zu tun hatโ€œ, schreibt er in seiner Analyse zum Abschluss des Buches.

Gerade die unterschiedlichen Sichtweisen, die in seinem Buch lebendig werden, zeigen im Grunde, dass das Problem jede Menge mit Sprachlosigkeit zu tun hat, auch und gerade in Sachsen, wo die Rechtsradikalen zwar immer wieder mit schlagzeilentrรคchtigen รœbergriffen auffallen โ€“ aber selbst in Freital konnten immer nur 300 Aktive beobachtet werden. Aber wo blieben die anderen Freitaler? โ€žDie vielleicht gar keine Meinung zu einem Thema haben, in Ruhe gelassen werden wollen oder sich in politischen Debatten nach etwas sehnen, das verloren gegangen ist: Gelassenheit und Pragmatismus statt hasserfรผlltes Lagerdenken.โ€œ

Dabei beobachtet Maxwill so wohl, dass die wachsenden liberalen Milieus in den GroรŸstรคdten eine Herausforderung sind. Die Menschen in diesen Milieus wachsen ganz selbstverstรคndlich mit Vielfalt, Toleranz und Weltoffenheit auf. Es ist fรผr sie selbstverstรคndlich, wรคhrend Menschen in lรคndlichen Rรคumen einem enormen Kontrolldruck unterliegen: โ€žIn Kleinstรคdten und Dรถrfern ist es schwieriger, sich den Entscheidungen einer Mehrheit zu widersetzen und einen eigenen Weg zu gehen: weil sich kaum jemand in die Anonymitรคt der โ€“ nicht vorhandenen โ€“ Massen zurรผckziehen kann. Dieser Gruppenzwang kann positive Auswirkungen haben, so wie in Werpeloh, aber eben auch negative, so wie in Freital.โ€œ

Maxwill versucht zu vermeiden, mitgebrachte Wertungsmuster รผber das zu legen, was er vorfindet. So wird sichtbarer, dass die Gemengelage durchaus komplexer ist, als รผblicherweise in Medien und politischem Showdown wahrzunehmen. Dort dringen fast immer nur die Vereinfacher durch, die Zuspitzer, die Politik letztlich zu einem groรŸen Zirkus machen, in dem es persรถnlich und aggressiv zugeht. Da besetzen Populisten ziemlich erfolgreich einen Raum, in dem Politik sichtlich nicht mehr stattfindet. Denn wo Politik nicht mehr erklรคrt wird und Politiker sich hinter โ€žder Wirtschaftโ€œ verstecken, wird eine Gesellschaft sprachlos, ratlos und offen fรผr Vermutungen, Verschwรถrungstheorien und Angst. Auch das wird deutlich. Denn die Angst verschwindet nur dort, wo Menschen wirklich beteiligt sind und handeln. Wo der Ort, an dem sie leben, ein Ort ist, den sie selbst gestalten und beeinflussen kรถnnen.

Die Herausforderungen sind groรŸ, wie Maxwill im sich zunehmend entleerenden Tangerhรผtte erfรคhrt. Aber er findet auch Beispiele unvermuteter Solidaritรคt, von gelingender Integration in Hamburg oder von Richtern, die den Rechtsradikalen von Freital die Leviten lesen. Freilich begegnet er auch Menschen, die den geschรผrten ร„ngsten in ihrem Leben Raum geben โ€“ einem Prepper, der sich wirklich auf die GroรŸe Katastrophe vorbereitet, und โ€žReichsbรผrgernโ€œ, die die Republik und die Demokratie zutiefst verachten. Er findet aber auch Heimatliebe und Pragmatismus.

Aber der Bundesrepublik bescheinigt er eben doch eine gewaltige Identitรคtskrise, eben weil รผber die Themen, die alle beunruhigen, nicht gesprochen wird. Schon gar nicht respektvoll. Selbst in einigen der โ€žalten Parteienโ€œ greift ja das โ€žDiskutieren mit Schaum vor dem Mundโ€œ zusehends um sich, auch wenn er dieser Frage im Speziellen nicht nachgeht. Aber augenscheinlich herrscht in einigen Parteiverbรคnden auch schon so eine Dorfatmosphรคre und die offene, respektvolle Diskussion ist nicht mehr mรถglich.

Aber das ist jetzt meine Vermutung. Maxwill รผberfrachtet sein Buch nicht mit Erklรคrungen, auch wenn er, was er sah, ausgiebig analysiert und einordnet, wie man das als Journalist immer machen sollte. Man weiรŸ nicht alles, aber wenn man so aufmerksam durch die ganze Republik reist, werden Zusammenhรคnge sichtbar, sieht man Verwandtschaften und Ursachen besser und kann auch den Lesern (einige der Geschichten kennt man ja schon aus dem โ€žSpiegelโ€œ) einen Faden in die Hand geben, mit dem Dinge verstรคndlicher werden.

Denn wo Politik im Erklรคren versagt, mรผssen Journalisten noch mehr erklรคren und erkunden. Und wenn sie gut sind, kommt am Ende so ein Buch dabei heraus, das zwar von tiefen Spaltungen erzรคhlt, aber auch Denkansรคtze bietet, woher diese Spaltungen rรผhren. Und auch, was das mit den in etlichen Medien gepflegten arroganten Gruppenzuweisungen zu tun hat. Werโ€™s schnell und billig macht, richtet auch in der Medienwelt riesigen Flurschaden an. Mit dramatischen Folgen bis in die politische Landschaft hinein.

Da geht die Frage, was wir mit diesem Deutschland eigentlich sein und werden wollen, vรถllig unter. Dabei ist das die entscheidende Frage, die man aber nicht mit Wut und Zorn oder gar Ausgrenzung lรถst, sondern mit Pragmatismus, Geduld und Zuversicht. Deswegen sieht man im Buch nicht nur den Riss, sondern auch einige von jenen, die sich beim Reparieren nicht entmutigen lassen.

Peter Maxwill Die Reise zum Riss, Ullstein, Berlin 2019, 11 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr fรผr alle Leser frei verfรผgbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label โ€žFreikรคuferโ€œ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem โ€žLeserclubโ€œ (also durch eine Paywall geschรผtzt) kรถnnen wir diese leider nicht allen online zugรคnglich machen.

Trotz aller Bemรผhungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstรคrkt haben sich im Rahmen der โ€žFreikรคuferโ€œ-Kampagne der L-IZ.de nicht genรผgend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehรถrigen, Vereinen, Behรถrden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstรผtzen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekรคren Situation unserer Arbeit zu unterstรผtzen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine โ€žPaywallโ€œ, bemรผhen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch fรผr diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten kรถnnen und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood รผber Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafรผr und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jรคhrlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfรผgbare Texte zu prรคsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklรคrungen zur Aktion โ€žFreikรคuferโ€œ

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar