Es ist mutig, was Michael Faber mit dem Neustart des Verlags Faber & Faber unternommen hat. In einer Zeit, da immer mehr Menschen sich im Geschnatter der neuen Medien verlieren, bringt er wieder Bücher für Bücherfreunde heraus. Bücher für Menschen, die wissen, dass Zeit etwas sehr Variables ist. Ein Ort zum Aufblättern. Bei Haslinger sowieso.

Auch wenn es diesmal kein dicker Roman von Josef Haslinger ist wie seinerzeit „Opernball“ oder „Das Vaterspiel“, 1985 und 1999 erschienen und beides verblüffend dichte Parabeln auf genau die Themen, die selbst im Jahr 2019 noch kochen, nicht nur in Österreich oder Amerika. Als hätte der 1955 Geborene schon früh geahnt, woran unsere moderne Welt wirklich krankt.

Was kein Zufall ist. Es hat mit seiner Kindheit zu tun, von der er in diesem Buch in sieben Geschichten erzählt. Es sind ausgewählte Geschichten, wie Bausteine einer großen Biografie, die er aber (noch nicht) schreiben will, weil ihn erst einmal etwas anderes umtreibt, die Frage nach dem eigenen Gewordensein. Wo sind die Auslöser, die einen so werden ließen, wie man geworden ist? Wer hat einen aufmerksam gemacht auf die Doppelbödigkeit der Welt und die eigenen Talente?

Normalerweise tauchen da starke, ermutigende Menschen auf. Aber so einfach war es wohl nicht, denn eigentlich sollte der Knabe ja Priester werden. Er wuchs in einem augenscheinlich sehr katholisch geprägten Dorf in Niederösterreich auf, wurde Sängerknabe und Schüler in einem Zisterzienserkloster, in dem merkwürdige Dinge vor sich gehen. Dinge, die heute die ganze katholische Kirche beschäftigen. Aber wir landen mit dem sich erinnernden Autor in den 1960er Jahren, einer Zeit, in der die alten Krusten erst aufzubrechen begannen.

Der mitreißende Song „Child in Time“ von Deep Purple, der ihm erstmals bei einem Besuch bei einem rebellischen Zisterzienser-Bruder begegnet, wird zur Melodie seiner Jugend, auch zur Begleitmusik seines Ausbruchs.

Deep Purple – Child in Time (Official Video) [HQ]

Eines Ausbruchs nicht nur aus der ganz und gar nicht so heiligen Welt der Kirche, sondern auch aus der eigenen Familie. Der frühe Tod seiner Eltern wird zum Auslöser. Die Verwandtschaft hat die Kinder längst unter sich aufgeteilt, als er zur Beerdigung anreist. Aber er hat längst zu viel Fremdbestimmung über sich erlebt, etwas beginnt sich in ihm zu verschieben. Die Flucht von der Beerdigung sieht erst einmal noch gar nicht wie eine Rebellion aus. Aber am Ende landet er in Belgien, ist kurz davor, nach England überzusetzen, um an den Wohnort eines seiner Musikerhelden zu reisen.

Und auch wenn die Flucht nicht ganz glückt, merkt man, dass der junge Mann längst auf einem eigenen Weg ist. Wobei man sich Haslingers Kindheit wohl nicht so beklemmend vorstellen darf, wie österreichische Kindheit etwa in den Büchern Elfriede Jelineks erscheint. Denn zwei Frauen scheinen seine Kindheit besonders geprägt zu haben, an die er sich ganz und gar nicht mit Groll erinnert – seine „mährische Großmutter“, die seine Kindheit mit Geschichten auffüllte und gleichzeitig für das Fremdsein in der Dorfgemeinschaft steht, und seine Mutter, die selbst beim Beten lebenspraktisch war und sich einen Heiligen auserkor, der im Himmel nicht ganz so mit Bitten und Gebeten überhäuft war, den in China missionierenden Pater Josef Freinademetz.

Diese Geschichte um eine praktisch und zielstrebig betende Mutter wird nicht nur zu einem wohl doch liebevollen Porträt der ganz und gar nicht frömmelnden Frau, sie wird auch zu einer humoristischen kleinen Diskussion darüber, ob die Entscheidungen im Himmel nicht vielleicht doch Auswirkungen auf die Entscheidungen auf Erden haben, sodass die erfüllten Bitten für den Einen eben auch einen Verzicht an anderer Stelle bedeuten – zum Beispiel, dass ein heranwachsender Sängerknabe eben nicht Priester wird, sondern am Ende Schriftsteller.

Wobei man nicht so recht weiß: Bedrückt den nun schon längst Erwachsenen noch, dass er sich von seinen Eltern so gefühllos verabschiedet hat? Immerhin war der Konflikt über seine langen Haare gerade erst aufgebrochen – das übliche Drama der Jugend. Angefeuert von der neuen Musik, die den Knaben auch ein bisschen bissig machte. Aber wer ahnt schon bei so einem verunglückten Abschied, dass man sich nie wiedersehen wird?

Manchmal sind es solche banalen Dinge, die einem Leben eine ganz unerwartete Wendung geben, auch wenn es Haslinger bei den sieben Skizzen belässt. Die letzte zeigt ihn beim Kellnern in einem völlig überlaufenen Freisitz, wo er am Ende nur noch flüchten kann. Eine Situation, die selbst wieder so einen Kern an Rebellion in sich trägt: Auf die übliche Erwartungen einer Erwerbswelt, in der man sich zähneknirschend in Überforderungen üben soll, reagiert er ebenso plötzlich und rigoros.

Ja, da kann man nicht nur Schriftsteller werden. Da muss man. Denn wer sonst sollte mit so viel herzlicher Unerbittlichkeit über die Zumutungen einer Welt schreiben, in der die meisten Menschen blindlings agieren, sich von anderen Leuten herumdirigieren lassen und am Ende genau so funktionieren, dass die hässlichen alten Männer mit ihnen genau die vertrottelten Kriege beginnen können, die manche Leute tatsächlich noch für Geschichte halten.

Dafür steht eben „Child in Time“. Die Rebellion der 1960er und frühen 1970er hat diesen Josef Haslinger im Innersten erwischt, da, wo der Mensch entsetzt und zornig ist über die Zumutungen der alten Männer, die nie loslassen können und die über Leichen gehen, bloß damit sie nicht von Ruhm, Macht und Geld lassen müssen.

Na gut, da kommt jetzt mein eigener Zorn durch. Aber die sieben Geschichten, so frei sie auch im Raum der Zeit zu schweben scheinen, lassen sehr genau spüren, woher diese Kraft rührt, die Josef Haslinger zu einem der genauesten, sensibelsten, aber auch beherztesten Autoren der Gegenwart gemacht hat. Mit „Child in Time“ im Herzen kann man nur noch aufbegehren gegen die Dummheit der Nimmerbelehrbaren, Verführten und Ruhmsüchtigen. Wenn auch mit einer sehr genauen, pointierten und farbreichen Sprache, die in diesem Buch zumindest ein paar Bruchstücke aus dem Leben des Autors zum Leuchten bringt.

Dazwischen findet man ganze Bilderstrecken mit Arbeiten von Maix Maier, der die niederösterreichische Jugend Haslingers nicht illustriert, sondern die Gefühlsräume in Bilder übersetzt, die auf ihre Weise zeigen, wie der Mensch in Muster gerät, auf Abwege, in dunkle Gänge. Und während er dahin gerät, entsteht sein Leben als ein Muster aus Räumen und Gefühlen. In die dann der Schriftsteller eintauchen kann, wenn er sich bemüht, sich genau und ehrlich zu erinnern.

Josef Haslinger Child in Time, Faber & Faber, Leipzig 2019, 20 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion „Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar