Deutschland ist – wie alle seine europäischen Nachbarn – ein Land voller Geschichte. Auch deswegen kommen jedes Jahr Millionen Touristen. Und sie reisen vor allem dorthin, wo die Spuren der Geschichte besonders gut zu sehen sind. Das entscheidet auch darüber, was in Sachsen besonders beliebt ist. Aber was ist es wirklich, mal so aus der Perspektive eines Thüringer Historikers betrachtet?
Das Ergebnis ist natürlich so eine Art „Das musst du gesehen haben“. Auch wenn die 55 von Raßloff ausgewählten „Highlights“ nicht alles konkrete Orte und Bauwerke sind. Ein großer Teil von Landesgeschichte besteht ja auch aus Erzählungen, die irgendwie das Wesen der Selbstvergewisserung ausmachen. Am deutlichsten wird das bei August dem Starken, den Raßloff nicht nur in der Mitte des Buches platziert, sondern auch gleich zur wichtigsten Identifikationsfigur der Sachsen erklärt.
In der Mitte des Buches landet der starke August natürlich auch deshalb, weil Raßloff seine Auswahl in historischer Reihenfolge aufblättert. Beginnend mit der Vorgeschichte, die man im SMAC in Chemnitz besichtigen kann, über die ursprünglich hier siedelnden Sorben (an die die rekonstruierte slawische Burg von Raddusch bei Vetschau erinnert) bis zum eigentlichen Gründungsmythos der Mark Meißen mit dem Meißner Burgberg. Womit man im Jahr 929 landet und der Eroberung der Slawengebiete östlich der Saale. Und natürlich der Gründung der Burg Misini auf dem Berg über der Elbe.
Gerade die frühen Kapitel des Buches sind im Grunde eine Einladung, mit Raßloff einen Ausflug in die Geschichte der Entstehung der Mark Meißen, des Aufstiegs der Wettiner und ihrer emsigen Erwerbspolitik zu machen, die ihnen im 15. Jahrhundert den sächsischen Kurfürstentitel einbrachte. Und nicht ganz zu Unrecht merkt Raßloff dann just beim berühmten August an, dass der Bursche zwar das präsentable Exemplar eines echten barocken Fürsten seiner Zeit war – aber mit ihm endete auch der sächsische Aufstieg. Fortan hagelte es deprimierende Niederlagen – erst gegen die Schweden, später gegen die Preußen. Aus einem Kurfürstentum, das von Königswürden träumte, wurde eine europäische Mittelmacht, die sich überlegen musste, mit wem sie in dem Krieg zog.
Deswegen steckt im Mythos des starken August auch eine verkappte Sehnsucht – zurück in vergoldete Zeiten. Besonders gepflegt natürlich in Dresden, wo in den letzten Jahren fast alles wieder aufgebaut wurde, was im Zweiten Weltkrieg in Trümmer ging. Die alte Canaletto-Kulisse samt den neuen Bauwerken des 19. Jahrhunderts ist fast wieder perfekt. Die Fotos zeigen eine regelrechte Märchenkulisse – und bei Moritzburg wird es ja erst richtig märchenhaft. Dresden hat es ja vorgemacht (und Frankfurt hat es inzwischen nachgemacht), dass man Geschichte auch wieder als neue Kulisse aufbauen kann. Und den Reisenden aus aller Welt gefällt das. Eigentlich genauso wie Neuschwanstein, Heidelberg und die Walhalla.
Über die akribisch restaurierte Kulisse werden ein Land und seine Geschichte erkennbar. Und Instagram-tauglich. Das Bild bezeugt: Man war am authentischen Ort. Auch den Einheimischen. Die ganzen Schlösser, Burgen und Dome stehen nicht ganz umsonst im Land herum. Sie verankern die Bewohner im Fluss der Zeit. Sie geben der Gegend einen Sinn. Einen zuweilen sehr beeindruckenden. Nicht nur, wenn sich die Albrechtsburg in der Elbe spiegelt oder der Königstein groß und eindrucksvoll über das Elbtal wacht. Raßloff macht auch sichtbar, dass sächsische Geschichte nicht nur aus der Königslinie besteht, dass gerade das 19. und das 20. Jahrhundert dafür gesorgt haben, dass sie auch einen Hauch von Unbotmäßigkeit, Schalk und Abenteuerlust bekam.
Für manchen Dresden-Reisenden wird es auf jeden Fall eine Entdeckung sein, zu erfahren, dass selbst der Hofkapellmeister und der Hofarchitekt mitmachten beim Aufstand 1849, als sich die Mutigsten unter den Sachsen noch einmal wehrten gegen die absehbare Niederlage der Revolution. Die Abenteuerlust ist hingegen in Radebeul zu finden – oder sommers auf der Felsenbühne Rathen. Karl-May-Verehrer wissen das. Und sie wissen auch, dass so ein Aufschneider und Abenteuererfinder nur aus Sachsen kommen konnte. Aus einem sehr armen Eckchen Sachsens mit besten Erfahrungen mit einer Knastbibliothek.
Das Verblüffende: Wenn der König erst mal weg ist („Macht euern Dregg aleene“) wird sächsische Geschichte etwas zerstreut. Als hätte auch Raßloff so ein paar Probleme, den Kern dieses Landes nach 1918 zu fassen zu kriegen. Steckt er in der Romantischen Sächsischen Schweiz, in den Deutschen Werkstätten Hellerau, im Dresdner Hygienemuseum oder im Fußball? Am schwersten fällt ihm, ausgerechnet Leipzig auf einen Punkt zu kriegen. Da geht es ihm wie den Leipzigern. Wo ist der Kern dieser Stadt, das, was sie sichtbar in der sächsischen Geschichte verankert? Ist es der Hauptbahnhof? Die Messe? Der Schatten der einstigen Buchstadt?
Na gut, man ist dem Kaffeesachsen im „Coffebaum“ begegnet und Goethe in Auerbachs Keller. Und Bach natürlich, mit dem sich die Leipziger Honorationen vor 300 Jahren was leisteten. Carl Goerdeler wird besonders gewürdigt und die Gründung der SPD, die sich seit 1990 vergeblich bemüht, an alte Größe anzuknüpfen. Und natürlich rückt jener unvergessliche 9. Oktober ins Bild mitsamt der Nikolaikirche. Vielleicht ist es genau das: Dass sächsische Geschichte seit 1918 nicht mehr linear erzählt werden kann, dass die Sehnsucht nach einer eindeutigen (Fürsten-)Geschichte ein Trugschluss ist. Ein Märchen aus einer vergangenen Epoche der Historienmalerei, in der sich alles auf den jeweiligen Moritz, August oder Heinrich fokussierte und ein Markgrafengeschlecht sich ein Land baute, mit dem man reüssieren konnte.
Und heute? Heute kommt man auch wegen eines besonderen Stücks Eisenbahngeschichte und der besonderen Autogeschichte (Horch, DKW, Trabant) nach Sachsen, besucht zum Beispiel das August-Horch-Museum in Zwickau. Vielleicht nach einem Abstecher zur Burg Kriebstein oder ins Verkehrsmuseum in Dresden, wo das in Sachsen konstruierte Passagierdüsenflugzeug 152 gefunden werden kann. Die Höhepunkte, die Raßloff gesammelt hat, ballen sich ein bisschen um Dresden und Leipzig. Und mancher Ort, der die Reise lohnt, ist gar nicht vertreten. Aber warum das so ist, merkt man schnell. Das hier ist eine erste große Tour. Sie muss auswählen und sich beschränken. Auf das, was vielleicht in den nächsten Urlauben zu schaffen ist.
Da ist dann noch Torgau drin und das Kloster Marienthron in Nimbschen bei Grimma. Eh schon weit genug, wenn man auch noch nach Bad Muskau in Pücklers Park will oder auf die Burg Stolpen zur heißgeliebten Reichsgräfin von Cosel. Gerade die Auswahl zeigt, das Sachsen reicher ist, als man bei den üblichen Werbetrailern vermutet.
Die Station 55 erspart der reisende Historiker den Lesern dann lieber, sondern empfiehlt, unterwegs auch ein bisschen auf die sächsischen Spezialitäten zu achten – den Dresdener Stollen, das sächsische Bier, das Leipziger Allerlei und – fast das Wichtigste – die Eierschecke, von der es an jedem Ort im Land ein anders Geheimrezept gibt. Uniform und überall gleich ist in Sachsen gar nichts. Eigentlich macht’s die Mischung. Aber das ist die ganz große Kunst beim Weiterschreiben von Geschichte: Ist alles Wichtige drin? Oder reist man mit dem Gefühl wieder ab: Da fehlt doch noch was?
Kann passieren.
Auf jeden Fall ist Raßloffs Auswahl ein sehr geschichtsträchtiger Vorschlag, wie man sich das kleine Ländchen für den Beginn erschließen kann.
Steffen Raßloff Sachsen. 55 Highlights aus der Geschichte, Sutton Verlag, Erfurt 2019, 19,99 Euro.
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