Es ist so ein Ding, รผber das wir fast nie nachdenken. Nur manchmal, zum Beispiel an einem frรผhen Sonntagmorgen, wenn man auf einmal erstaunt feststellt, wie still eine Stadt wie Leipzig sein kann, wenn die รผblichen Motorbenutzer alle noch schlafen. Kein Laubblรคser, kein Rasentrimmer. Und das erste Auto hรถrt man schon kilometerweit, auch wenn es sich anhรถrt, als rase es gleich an einem vorbei. Lรคrmmachen hat in unserer Welt auch viel mit der rasenden Angst vor Stille zu tun.
Deswegen gehรถrt das Buch auch nicht nur zur Meditation in den Gottesdienst, auch wenn es der Verlag so draufgeschrieben hat. Es erzรคhlt von einem Phรคnomen, das alle Bewohner unserer lauten Welt betrifft. Auch all jene, die in Scharen losziehen, um auch noch die letzten ruhigen Orte mit ihrem Lรคrm zu erfรผllen, obwohl sie meinen, die Ruhe zu suchen oder gar โdie Seele baumeln zu lassenโ. Selbst das Relaxen wird zu einem Akt der Selbstperfektionierung, zu komplett durchgeplanten Programmen, in denen fรผr eines auf keinen Fall Zeit รผbrig bleibt: den Moment, in dem man einfach mal aufhรถrt, geschรคftig zu sein.
Man bringt den Begriff Stille ja gern mit Kirchen, Domen und Klรถstern in Verbindung, gar mit Reisen in asiatische Klรถster. Doch so mancher findet die Stille dort gar nicht. Denn sie ist nicht einfach nur das Verstummen des Lรคrms ringsum. Deswegen war die Anfrage des Theologen und Schriftstellers Georg Magirius an sechs fรผrs Nachdenkliche bekannte Autor/-innen auch eine Herausforderung. Eine Herausforderung, die insbesondere der Autor Arnold Stadler sehr ausgiebig diskutiert, wohl wissend, dass ein Begriff wie Stille sich nicht einfach in einen bekannten kirchlichen Kontext einordnen lรคsst.
Und dass man auch nicht so damit umgehen kann wie mit Begriffen wie Glรผck oder Hoffnung. Auch wenn man Motive der Stille natรผrlich in der Bibel findet. Was Manuela Fuelle regelrecht zur Metapher macht, wenn sie ihre รbungen in Stille unter Kapitelzeilen setzt, die diese Suche mit Jonas Aufenthalt im Bauch des Wals in Verbindung bringen. Einem Ort, der das Nichthรถrenkรถnnen genauso assoziiert wie das Nichthรถrenwollen und das Herausgefallensein aus dem รผblichen Lรคrm รผber Wasser.
Was nicht zufรคllig mit Georg Magiriusโ eigenem Beitrag korrespondiert, in dem er erzรคhlt, wie er die Stille ausgerechnet in einem Freibad in Frankfurt fand. In jenen Tagesrandzeiten und Tagen, zu denen das Bad fast leer war, der Himmel bewรถlkt, vielleicht ein Regen das Wasser weich machte und der Schwimmer in Rรผckenlage den ganzen stillen Kosmos fรผr sich hatte.
Wobei es auch hier nicht um dieses Stillsein und Nichthรถren geht. Was die jรผngste Autorin im Buch, Ann-Kristin Rink, anhand einer Eisenbahnfahrt durch Frankreich, Spanien und Paris erzรคhlt. Einer Reise, die sie zwar bewusst antritt mit dem Wunsch, die Stille zu finden, dann aber unterwegs lernt, dass man Stille nicht erzwingen kann. Sie ist kein kรผnstlicher Zustand, sondern einer, der uns geschieht, wenn wir es schaffen loszulassen, uns ganz auf den Moment einzulassen โ so geschieht es ihr am Ende ausgerechnet in einer lauten Nacht in Lissabon โ, und dann spรผren, dass wir jetzt in diesem Augenblick genau am richtigen Ort sind. Es ist ein Gefรผhl der Befreiung und der Ent-Spannung. Vielleicht gerade auf Reisen leichter zu finden als im durchgetakteten Alltag, verbunden mit dem Gefรผhl, dass wir jetzt gar nichts machen mรผssen, dass wir keinem Plan gehorchen mรผssen und uns nicht einmal bewegen mรผssen, um uns aufgehoben zu fรผhlen in einem ganzen Moment.
Natรผrlich kommen auch ein paar Wรผstenprediger, Ordensgrรผnder und Ordensschwestern vor. Die christliche Literatur bietet ja eine Menge solcher Suchen und Begegnungen mit der Stille, in der Tiefglรคubige oft versuchten, die Stimme Gottes zu hรถren. Und nicht nur Flauberts โDie Versuchung des heiligen Antoniusโ erzรคhlt ja regelrecht aufgewรผhlt davon, dass diese Suchenden dann meist dem reinsten Tohuwabohu (im doppelten Wortsinn) begegneten, denn die โVersuchungenโ, die sie erlebten, waren immer auch Begegnungen mit den Stimmen im eigenen Kopf.
Das ist ja nicht die Bohne mittelalterlich. Das erfahren auch die heutigen Suchenden, wenn sie aufbrechen und hoffen, in Wald oder Bergeinsamkeit endlich die Stille zu finden, die es in ihrem Leben nicht mehr gibt. Und dann merken sie entsetzt, dass der Lรคrm in ihrem eigenen Kopf sitzt, dass sie dort permanent im Gesprรคch sind und jetzt erst recht all das auftaucht, was sich im verlรคrmten Alltag kein Gehรถr verschaffen konnte. Und das sind selten beruhigende Fragen, Einsichten und Sorgen.
Mancher kennt das auch aus Nรคchten, in denen er hochschreckt, nicht wissend, was ihn aus dem Schlaf gerissen hat. War es die unglaubliche Stille, die es auch in Groรstรคdten manchmal gibt frรผh um Zwei? Und dann? Dann melden sie sich meistens alle gleichzeitig zu Wort, all die Sorgen, vor denen man eigentlich ein paar Stunden vorher glรผcklich in den Schlaf geflohen war. Wenn manโs denn รผberhaupt geschafft hat. Im Grunde stellt keine/-r der sieben Autor/-innen fest, dass man diesem Lรคrm entkommen kann, egal, wohin man sich flรผchtet.
Deswegen steigt Manuela Fuelle in ihre Geschichte ja mit so einer Schlaflosigkeit ein. Sie ist auch Diakonin und Religionslehrerin. Und sie lรคsst ihre Suche nach Stille in kleine รbungen mรผnden, die auch kleine Suchen nach Gelassenheit sind. In denen sie den modernen Groรstรคdter mit nichts verschont, nicht mit dem Geplรคrr von Kindern, dem Schubsen einer Betrunkenen, dem Streit zweier einst Liebender, in dem es um Macht geht โฆ Der ganz normale verrรผckte Alltag erinnert uns daran, dass wir โwie Silber gelรคutert, wie Gold geprรผft werdenโ. Ohne dass es ein einziges verlรคssliches Zeichen gibt, dass wir die Prรผfung jemals bestehen. Schon gar nicht fรผr jene, die fest darauf hoffen, dass ihnen jemand sagt, sie hรคtten bestanden.
Sie werden die Ersten sein, die von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zerfressen werden. Denn die Prรผfungen bleiben. Aber wir verรคndern uns, wenn wir lernen, uns der Welt gewiss zu sein, uns versรถhnen mit dem, was wir finden. Die Last der Wรผnsche also abwerfen und begreifen, was uns alles ganz selbstlos gegeben wird. Und sei es das Rascheln des Laubes, die Freude auf den Beginn des Bergweges, selbst der Festlรคrm unten aus dem Dorf. Manchmal muss man sich einfach drauf einlassen und hinuntersteigen wie der Abt mit seinen verzweifelten Mรถnchen und sehen, wer da so laut und frรถhlich ist. Und warum.
Es ist das Nichtgesehene und Nichtverstandene, das uns verwirrt, aufregt und erbost. Es sind lauter Geschichten vom Sicheinlassen auf die Welt. Und auf uns selbst. Das ist der kleine, letzte Schritt, der schwerste. Das klingt selbst bei Rilke an und bei Hรถlderlin, die natรผrlich auch zitiert werden. Stadler landet bei Walser. Hรถlderlin ist das Vorbild, das der heute in Dresden lebende Dichter Uwe Kolbe besucht, der in einem Hรถlderlin-Gedicht eine Stille findet, die er so nicht erwartet hรคtte.
Und die nur nach der ersten Textanalyse als eine beรคngstigende Stille erscheint: Wie kann ein so begnadeter Dichter Trost darin finden, dass seine Gedichte von den Zeitgenossen nicht mehr gehรถrt werden, weil er sie (zu Lebzeiten) niemals wird verรถffentlichen kรถnnen? Welche Verzweiflung steckt dahinter? Auch das klingt an. Aber auch: welcher Trost, wenn einer sich nicht mehr so wichtig nimmt, dass er laut sein muss, dass er sich mit Lรคrm die Aufmerksamkeit der Menschen besorgen muss. Als wรคre er sonst gar nicht da.
Es ist eine glรผckliche Wahl, die Magirius getroffen hat, als er im Sommer 2018 seine Bitte um Beitrรคge an die hier Versammelten verschickte, angereichert mit einem kleinen Exposรฉ, indem er erklรคrt, was er unter der Stille eigentlich begreifen mรถchte. Arnold Stadler vergleicht die Stille am Ende mit der Liebe. Beides findet man nur, wenn man es nicht sucht. Und geschenkt bekommt man es nur, wenn man es nicht begehrt. Wenn man loslรคsst und aufhรถrt, sich selbst fรผr einzig und wichtig zu nehmen.
Das ist paradox. So paradox, wie unser Leben wirklich ist. รbrigens kommt auch Manuela Fuelle am Ende auf die Liebe. Denn wirklich Stille erfรคhrt man erst, wenn man aufhรถrt zu hadern, wenn man bereit ist, den Moment und damit auch sich selbst ganz so anzunehmen, wie sie sind.
Etwas, wovon unsere Gesellschaft weit, weit entfernt ist. Deswegen suchen so viele nach Liebe und Stille. Und finden beides nicht. โJe stรคrker man wird, desto schwerer tut man sich mit den Schwรคcherenโ, schreibt Manuela Fuelle in ihrer Kleinen รbung zur Versรถhnung. โJe klรผger man wird, desto mehr hadert man mit der Dummheit. Je fleiรiger man ist, desto mehr stolpert man รผber den Mรผรiggรคnger โฆโ
Suche sich jeder selbst heraus, worunter er leidet. Niemand muss warten, bis das Buch im nรคchsten Gottesdienst vielleicht auftaucht. Man kann es auch zu Hause lesen, im Garten, im Zug oder auf der Bank im Park, auf der man sich eines Tages wundert, wie man da gelandet ist, ganz in Gedanken, eben noch auf dem Weg irgendwohin, und auf einmal heillos befreit, weil man in aller Fรผlle merkt, dass man gar nicht eilen muss. Dass alles ist, wie es ist. Und nichts sein muss. Weil wir in diesem Moment versรถhnt sind mit uns selbst. Das, wonach selbst Heilige oft ihr Leben lang suchten und daran verzweifelten, dass sie es nicht fanden. Oder nicht erzwingen konnten.
Deswegen passiert es viel eher, wenn man sich gehen lรคsst: In den Wald oder auf Berge oder einfach ins leere Freibad, diesen scheinbar so nutzlosen und unverwertbaren Ort mitten in der Stadt, der die Menschen geradezu einlรคdt zum lauten oder stillen Mรผรiggang. Ja, man muss tatsรคchlich gehen, um mรผรig zu sein. Sonst landet man nicht unverhofft in so einer Situation, in der das Staunen รผbers Dasein mal endlich durchdringt bis in unsere Wahrnehmung.
Georg Magirius Stille erfahren, Verlag Herder, Freiburg 2019, 18 Euro.
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