Ändert sich der Blick auf Sachsen und seine Hauptstadt, wenn man mal von draußen guckt? Zum Beispiel aus dem Nachbarland Thüringen, aus Richtung Ilmenau. Von da aus müsste „Elbflorenz“ ja eigentlich schon ein bisschen seltsamer aussehen als – sagen wir mal – vom Westrand des Freistaats Sachsen, der von Dresden aus regiert wird. Jedenfalls versucht es die dortige Regierung.
Aber auch die Leipziger wissen, dass eine lokale Identität auch Politik verändert. Das hat mit Selbstverständnis zu tun. Und dem, wie eine Stadtgesellschaft immer wieder die Bilder für sich selbst auswählt aus der eigenen Geschichte. Da geht dann, wie es aussieht, in Dresden ohne August den Starken und seine barocke Prunklust nicht viel. Man kommt an ihm nicht vorbei. Und Dresden hat, seit es im 15. Jahrhundert Residenzstadt der Wettiner wurde, nicht wirklich aufgehört, Residenzstadt zu sein. Stolz auf die barocke Pracht, die August und seine Nachfolger und Vorgänger mit den Steuertalern der sächsischen Untertanen angeschafft haben.
Was im Stadtbild noch heute zu sehen ist. Die Touristen fahren noch immer vor allem deshalb hin, um das zu sehen: Das restaurierte Schloss der Wettiner, die Frauenkirche, den Zwinger, die Gemäldegalerie, die Sixtinische Madonna. Nicht zu vergessen die Schlösser an der Elbe, die Sächsische Schweiz, die seit Carl Maria von Weber und Caspar David Friedrich einen Ruf hat als romantisches Gebirge. Das man gesehen haben muss. Kurz erwähnt: die Sorben, die ihr Dorf in der Elbaue bauten, das dann 1206 erstmals erwähnt wurde und bald zur Stadt wurde, auch wenn es noch über 200 Jahre – bis zur Leipziger Teilung – dauern würde, bis die Wettiner von ihrer Burg in Meißen umziehen würden in die Stadt am Fluss, um sie zur Residenzstadt aus- und umzubauen.
Das prägt. Das hat sich bis heute erhalten, stellt Raßloff fest und erwähnt natürlich Uwe Tellkamps großen Dresden-Roman „Der Turm“, der das kunstbeflissene, aber konservative Dresdner Bürgertum porträtiert. Der Hauch weht noch immer von den Elbhängen und den Villen der dort Wohnenden. Deswegen gibt es nur wenige Streiflichter im Buch, die auf ein anderes, vielleicht auch mal rebellisches Dresden verweisen – mit dem Aufstand von 1849 zum Beispiel, in dem auch Wagner und Semper mal kurz jung waren, bevor sie Fersengeld gaben.
Oder dem Herbst 1989, der in Dresden mit Polizeiknüppeln und Schlägereien begann. Das wetterleuchtet bis heute in der sächsischen Politik, die 1990 wieder die alten Regierungsbauten am Fluss bezogen hat. In Sachsen gilt die Dresdner Revolution, nicht die Leipziger. Eine Volte zurück in einen gepflegten Konservatismus, der sich gegen Veränderungen gern sträubt und behauptet. König-Kurt-Land. Und eine mit viel Aufmerksamkeit fürs Detail rekonstruierte Barockstadt, die wieder die alte Canaletto-Silhouette zeigt. Zumindest, wenn man ans andere Ufer geht, in die Neustadt, die unter dem starken August gebaut wurde, nachdem Altendresden verbrannt war.
Da und dort sieht man die Könige vorüberhuschen, manchmal auch flüchten auf den Königsstein. Mal wegen der Schweden (gegen die die Sachsen verloren), mal wegen der Preußen (gegen die die Sachsen auch verloren), mal wegen der renitenten Bürger, gegen die man dann die Preußen holte.
Dresdens Geschichte ist seltsam, weil sich Macht und Prunk und Stadt vermischen. Weil die Macht immer gleich nebenan residierte, egal, ob im Renaissanceschloss mit dem Fürstenzug oder in der Staatskanzlei. Das verändert eine Atmosphäre und auch den Blick auf „unser Sachsen“. Schon wenn man es hinschreibt, bekommt man so ein Gefühl: Das kann man so nur in Dresden sagen. Aus der Perspektive von Goldener Reiter und Grünem Gewölbe.
Wobei Raßloff natürlich die wirklich spannenden Dresdner nicht ganz vergisst – den armen Krell aus Leipzig, den sie zehn Jahre schmoren ließen, bevor sie ihn öffentlich hinrichteten. Den „Krellstein“ zeigen sie noch heute. Oder wie wäre es mit der korrupten Regierung des Grafen Brühl, nach dem die berühmte Terrasse benannt ist?
Vielleicht aber doch lieber Heinrich Schütz, den berühmtesten Komponisten der Reformationszeit, und Erich Kästner, der dann über Leipzig nach Berlin ging, um dort mit unverwechselbarer Satire berühmt zu werden. Wer abseits geht, kann also das kleine Kästner-Museum besuchen und sich erholen von all den großen Prachtmuseen, mit denen Elbflorenz die Scharen lockt. Eine „weltweit bekannte Kulturmetropole“, wie Raßloff schreibt.
Ein wenig Wirtschaftsgeschichte samt Odol und Melittas Kaffeetüten kommt noch mit ins Büchlein. Aber es fällt auf: Man liest von vielen Königen, einige sehr bierfreudig, andere auch vom Militär begeistert. Nur die (Ober-)Bürgermeister tauchen nicht auf. Als hätten sie nicht viel zu sagen gehabt unter den Kurfürsten, Königen, Bezirksparteichefs und Ministerpräsidenten. Anders als in Leipzig, auch wenn der starke August auch gern mal Leipziger Bürgermeister in Festungshaft setzte.
Doch, es fühlt sich anders an in dieser anderen sächsischen Großstadt. Was ja schon der Leipziger Dichter Andreas Reimann 2016 sarkastisch anmerkte, als er mal für ein Weilchen Stadtschreiber in Dresden sein durfte: „Ja, glaubens sind die alten wie die jungen, / sie allesamt wärn seinem sack entsprungen. / Auch sei hier jüngst kein staat kaputt gegangen, / denn unverwüstlich ist die monarchie! – “
Man muss nur die Perspektive ändern. Und eine Stadt sieht ganz anders aus, als die Eingeborenen immer dachten.
Steffen Raßloff Kleine Geschichte der Stadt Dresden, Rhinoverlag, Ilmenau 2019, 5,95 Euro.
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