Die Brüder Grimm und Ludwig Bechstein stehen mit ihren Büchern noch im Quellenverzeichnis und Ilona und Peter Traub haben auch eifrig drin gelesen, um ihre jüngsten Wanderungen durch ein magisches Mitteldeutschland auch mit den nötigen Verweisen auf die lokalen Sagen von Riesen, Nixen und einem steineschmeißenden Teufel anzureichern. Aber die alten Volkssagen brauchen sie gar nicht mehr, um die Magie dieses Fleckchens Erde spürbar zu machen.

Mit den Wanderungen zwischen Thüringer Schiefergebirge und Rhön, Eichsfeld und Altenburg legen die beiden kamerabewehrten Wanderer aus Leipzig jetzt den dritten Band mit magischen Orten in Mitteldeutschland vor. Sie haben das Jahr 2018 genutzt, um sich große Teile Thüringens zu erschließen, ohne dabei die üblichen Attraktionen oder „Highlights“, wie sie heutige Marketing-Touristiker gern nennen, wieder mit neuen Jubelarien zu bedenken. Das hatten sie schon in den beiden ersten Bänden so gehalten, denn magisch sind diese Orte des Vermarktungs-Tourismus nicht mal mehr im Ansatz – nur völlig überlaufen, eventisiert und zur reinen Kulisse für eine Werbesoße verkommen, die mit ihrem Zuckergehalt nur noch als gesundheitsschädlich klassifiziert werden kann.

Wer wirklich Magie sucht, verlässt die vermarkteten Pfade, schwenkt auf den nächsten ausgeschilderten Wanderweg und braucht in der Regel nur 20 Schritte zu gehen, und schon ist er allein. Meist mit Wäldern, Felsen, allerlei Bächen und Seen, Pfaden, die steil bergan steigen, Klippen, die über Baummeere ragen, und allerlei Getier, das man zuvor nie gesehen und gehört hat.

Das fiel im ersten Band schon auf, weil es das große Staunen sichtbar machte, mit dem Peter Taub damals im Harz begann, sich die Welt abseits der Tummelplätze zu erschließen. Keine ganz unbekannte Welt. Im vorletzten Jahrhundert, als Städter tatsächlich noch zu Fuß aufbrachen, um sich in Waldesgrün und Waldesruh wieder kurzzuschließen mit dem, was man so „Nähe zur Natur“ nennt, waren etliche der besuchten Wanderwege und Wanderziele berühmt und beliebt. Waldgasthöfe und Bauden lebten von dieser Wanderlust. Und oft war auch vorher schon ein gewisser Herr Goethe dagewesen.

Auf dieser Thüringer Tour natürlich auch, auch wenn es die beiden Wandernden nicht gerade in Goethes Haus am Frauenplan oder nach Großkochberg zog. Das haben sie tunlichst vermieden. Den Park an der Ilm freilich, den wollten sie sehen und das „Goethe-Schlösschen“ unter den Dornburger Schlössern fanden sie natürlich auch, auch wenn sie sich die meisten Schlossbesichtigungen lieber ersparten. Lieber wanderten sie durch die barocken Gärten und Parkanlagen, durch Weinhänge oder zu Burgruinen, wo man in alten Gemäuern klettern kann und trotzdem den blauen Himmel über sich hat.

Und ringsum Mauern, die geradezu anregen zum Geschichtenspinnen. So wie in der Burgruine Hanstein. Auch ein paar romantische Klosterruinen finden sich am Weg. Bei anderen Burgen lockte eher der gewaltige Bergfried, so wie bei der Osterburg in Weida. Bis hinunter an die Grenze zu Franken führte die beiden diesmal die Neugier. Im Norden dann fast an die Grenze zu Sachsen-Anhalt. Man klettert mit ihnen auf die alte Stadtmauer von Mühlhausen und steigt in Gera in die Höhler hinunter, einen Teil jener unterirdischen Gänge und Gewölbe, in denen die Geraer ihr Bier kühl lagerten dereinst, als über 200 Geraer Hausbesitzer noch das Braurecht besaßen.

Es ist auch eine Tour der Neugier. Denn im Schieferpark Lehesten kann man selbst erleben, woher einst der Schiefer für die Thüringer Dächer kam. Und in den Saalfelder Feengrotten und im Besucherbergwerk Schwarze Crux wird der Untertagebergbau der Vergangenheit erlebbar. Und weil die beiden sich ihr Staunen bewahrt haben über die Rätsel der Natur, der Chemie und der Geschichte, braucht es gar keine Berggeister, um die Magie dieser Orte lebendig werden zu lassen.

Nur eine sehr farbige Sprache und den Blick für all die tausend Lebewesen, die am Weg auftauchen. Selten gewordene darunter, die in den geschützten Mooren, Teichen und dem von Forstarbeitern in Ruhe gelassenen Hainich wieder einen ungestörten Lebensraum gefunden haben. Mehr brauchen die Tiere und Insekten meist gar nicht, als einfach mal vom Menschen und seinem Machbarkeitswahn in Ruhe gelassen zu werden.

Und das ist eigentlich die wirkliche Magie, die sich auf diesen vier großen Routen mit ihren vielen kleinen Wanderabschnitten für den Leser entfaltet. Die Botschaft lautet also gar nicht mehr: „Hol das Sagenbuch raus!“ sondern: Sei aufmerksam. Schau hin, entdecke den Reichtum, der im Nützlichkeitsdenken unserer Gesellschaft keinen Platz mehr hat, den wir verdrängt haben aus den meisten unserer Landschaften. Und hier sind einige jener Verdrängten noch oder wieder zuhause. Und wenn man ihre Namen nicht weiß, wird das Bestimmungsbuch rausgeholt. Und manchmal gibt es am Weg so viel zu sehen, dass aus einem 15-minütigen Aufstieg zu einer Burg eine Stunde voller Entdeckungen wird.

Was nicht heißt, dass Geschichte zu kurz kommt. Immerhin gehörte diese Region sogar schon zum Frankenreich. Und noch viel früher zum Thüringerreich. Und noch viel früher zum Reich des Fürsten von Leubingen, über den auch Harald Meller in seinem Buch „Die Himmelsscheibe von Nebra“ schrieb. Der Grabhügel des Fürsten ist eins der Wanderziele, die ahnen lassen, was Zeit eigentlich ist. Und wie flüchtig eigentlich menschliche Geschichte ist, auch wenn uns die Erfurter Krämerbrücke, die Leuchtenburg oder die Kirchenburg Rohr schon uralt vorkommen, weil wir das Mittelalter und selbst die Renaissance schon als ganz, ganz lange her empfinden.

Dabei ist alles Menschliche so schnell vergänglich. Manches Schloss am Weg glänzt ja nur, weil es immer wieder mit viel Aufwand saniert wird. Während die vielen sagenumwobenen Flüsschen und Wasserfälle, die Ilona und Peter Traub unterwegs finden, schon da waren, bevor die ersten Ackerbauern sich hier ansiedelten. Und wohl auch noch sein werden, wenn es der Mensch komplett vergeigt hat. Was nicht nur so ein Nebengedanke ist am Weg.

Denn die Magie, von der die beiden hier erzählen, ist die Magie des vom Menschen Verschonten, der Welt jenseits unserer Unersättlichkeit. Manchmal auch ein Stückchen Welt, das man heute so wehklagend als „abgehängt“ bezeichnet, weil es nicht mehr Teil hat am blinden Effizienz- und Leistungswahn. Das ist nämlich das Gegenbild, das immer mitschwingt, selbst dann, wenn die beiden sich oben auf dem Aussichtspunkt ärgern, weil alle Bänke schon besetzt sind.

Denn augenscheinlich sind sie ganz und gar nicht die Einzigen, die die Schönheit dieser Landschaft abseits des Lärms wieder entdecken, die sich die Wanderschuhe schnüren und den Proviant im Rucksack verstauen und sich auf immer neue (Wander-)Wege einlassen, von denen sie am Anfang ja nicht wissen können, ob sie ihr Versprechen einlösen und magische Orte offenbaren. Oder auch nur die magische Schönheit von Holzwegen durch einen sonnenbeschienenen Wald. Meistens erst mal bergauf, bis man oben steht auf Heinrichshöhen oder wie immer sie heißen und hinabschaut auf die Schleifen der Saale oder hinüber nach Franken.

Und das praktisch – wie schon bei den beiden ersten Bänden der Reihe – fast nebenan. Man muss sich nur in den Zug setzen und morgens hinfahren und dann einfach losgehen, den Wegen hinterher. Und manchmal darf man auch mutig sein und auf einen Skywalk hinauslaufen und so viel Gegend auf einmal sehen, dass sie gar nicht ganz hineinpasst in den Rucksack voller Bilder und Eindrücke, den man dann wieder mit nach Hause nimmt.

Ilona und Peter Traub Magische Orte in Mitteldeutschland III, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 12,95 Euro.

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