Es waren nicht nur fünf Fälle, wie lange Zeit kolportiert wurde. Eher waren es einige hundert Fälle, in denen Kinder in der DDR ihren Eltern weggenommen und zwangsadopiert wurden. Seit 2018 ist das Thema endlich auf der Tagesordnung. Doch Gesetze, die eigentlich wichtig sind, schützen in diesem Fall auch die Täter und verhindern, dass Eltern ihre verschwundenen Kinder wiederfinden. Leicht ist die Spurensuche von Sylvia Kabus nicht.
Und sie berührt an vielen Stellen die Verwundungen, Verletzlichkeiten und die Trauer der Betroffenen. Vielleicht nicht nur ihre. Denn was Sylvia Kabus bei ihren vielen Begegnungen mit Mitarbeitern von Behörden im Leipziger Raum erlebt, erzählt natürlich auch von Kontinuitäten. Kontinuitäten, die sich auch in Verhalten und Umgangsweise einiger Behördenmitarbeiter/-innen zeigen genau in dem Moment, in dem sie meinen, mit der Autorin verfahren zu können, wie sie es in obrigkeitlichen Zeiten gelernt haben. Aber Sylvia Kabus, die 1989 auch mit am Runden Tisch in Leipzig saß, kennt dieses Verhalten und lässt sich nicht wirklich einschüchtern, auch wenn sie weiß, dass es die genervten Mitarbeiter der Jugendämter, Pressestellen und Archive genauso meinen, wenn sie ihr ins Gesicht sagen: „Sie bekommen hier gar nichts.“
Und würde ihr ganz Ähnliches nicht auch in München passieren, wo sie gern eins der zwangsadoptierten Kinder kennenlernen würde, würde man es einfach abhaken. Dann hat sich der rüde Ton und die Aggressivität aus DDR-Verwaltungen im Osten einfach erhalten, gibt es persönliche Kontinuitäten und eine tiefverwurzelte Angst. Von der erzählt Kabus auch. Denn ihr Versuch, in zwei Fällen Leipziger Eltern endlich den Zipfel Hoffnung geben zu können, dass sie erfahren, was aus ihren einst mit Gewalt fortgenommenen Kindern geworden ist, beginnt schon früh an der zähen Abwehrhaltung der heutigen Jugendämter zu scheitern. Fast gehässig wird ihr mitgeteilt, die Akten seien sowieso verschimmelt und würden jetzt allesamt systematisch vernichtet.
Was sie nicht wirklich glaubt, auch weil sie später andere Informationen bekommt. Akten tauchen wieder auf oder stehen irgendwo, nicht registriert und geordnet, oder doch. Nur hineinschauen darf sie nicht. Und auch die Eltern der Kinder, denen damals durch staatliche Behörden die Kinder weggenommen wurden, bekommen keinen Einblick.
Eigentlich ist der Vorgang an sich schon lange bekannt: Gerade Menschen, die mit der Staatsmacht in der DDR in Konflikt gerieten, gar Bestrafung und Gefängnis erlebten, mussten oft genug erleben, dass ihnen die Staatsmacht auch einfach die Kinder entzog. Aber Sylvia Kabus findet noch mehr, denn wenigstens an einige frühe Akten aus den 1950er Jahren kommt sie heran, in denen die Entstehung des Jugend„hilfe“systems in der DDR protokolliert ist, die im Grunde eine komplette Demontage war, denn vorher war auch der Kindesentzug nie allein ein Behördenakt, war immer eine gerichtliche Instanz eingeschaltet und Fürsorger, die sich mit Kinderpflege auskannten, kamen zum Einsatz.
Aber dieses System wurde mit einigen wenigen Anweisungen abgeschafft, was dazu führte, dass das, was an „Jugendfürsorge“ in der DDR bis 1990 existierte, stets ein völlig überfordertes System war, in dem die Verantwortlichen noch zusätzlich den permanenten Druck „von oben“ empfanden.
Gerade bei der Schilderung dieser Zustände wird Sylvia Kabus sehr konkret, zeichnet sie ein Leben in der DDR, wie es eigentlich alle erlebten – mit permanenter Inanspruchnahme, umfassender Kontrolle – und zwar nicht nur durch das MfS – und einem allumfassenden Misstrauen, das direkt in den Vorstellungen von absoluter Gleichheit gründet, die die SED im Gefolge ihres großen Vorbilds Sowjetunion umzusetzen versuchte.
Doch in einem Land, in dem für alle nur noch eine Norm gelten soll, wird jede Abweichung mit Misstrauen beäugt, geriet jeder, der den gesetzten Erwartungen auch nur um weniges nicht genügte, in Verdacht. Und das traf augenscheinlich auch viele vor allem alleinerziehende Frauen, die den staatlichen Erwartungen an ein reibungsloses Funktionieren nicht entsprachen. Die Grenze zum „Asozialen“ war kaum sichtbar und hing meist davon ab, wie bereitwillig Nachbarn, Arbeitskollegen, Behördenmitarbeiter oder auch nur Mitglieder diverser Parteien und Massenorganisationen bereit waren, ihre unpassenden Mitmenschen zu denunzieren.
Die beiden authentischen Fälle, die dem Buch zugrunde liegen, basieren auf nichts anderem als solchen Denunziationen und dem sofort erfolgten Übergriff des Staats. Die betroffenen Kinder verschwanden tatsächlich einfach spurlos aus dem Leben ihrer Eltern. Die erfuhren nie, wo die Kinder hinkamen. Wurden sie von linientreuen Eltern adoptiert? Wurden sie gar in den Westen „verkauft“? Oder landeten sie in einem der beklemmend schlecht ausgestatteten und wie Gefängnisse geführten Kinderheime?
495.000 Kinder durchliefen das Heimsystem der DDR, davon 135.000 Spezial- und Sonderheime. Aus Schilderungen ehemaliger Heimbewohner kann Sylvia Kabus die zermürbenden Zustände in diesen Heimen zumindest skizzieren, auch wenn hier offen ist, was diese rigide Unterbringung der Kinder mit drakonischen Strafen und einem komplett überwachten Alltag in ihnen eigentlich anrichtete. Die, die später davon erzählen konnten, berichten von psychischen Belastungen, die ihr ganzes Leben zur Qual macht. Das wird man nicht wieder los. Und es macht Menschen einsam, denn wer solche Übergriffigkeit durchlitten hat, der ist kaum noch fähig zu einem gelassenen und nahen Umgang mit anderen Menschen.
Aus Sylvia Kabus’ Versuch, das Ausmaß der Zwangsadoptionen wenigstens im Leipziger Umfeld zu rekonstruieren, wird sehr schnell ein Essay. Man könnte es auch ein Psychogramm nennen – und zwar nicht nur das der DDR und der in die Zwangsadoptionen Verstrickten, sondern auch eins der gesamten heutigen Republik, die sich schwertut, die Gewalt an Kindern überhaupt einzugestehen oder gar aufzuarbeiten. Zwar gab es die wichtige öffentliche Diskussion über die nicht mehr aushaltbaren Zustände in den westdeutschen Kinderheimen schon in den 1970er Jahren, was dazu führte, dass sich ein völlig anderes System der Jugendhilfe mit Freien Trägern und ausgebildeten Sozialbetreuern herausbildete. Die DDR behielt ihr rabiates Kinderwegsperrsystem bis 1990 bei, teilweise sogar darüber hinaus.
Doch im Einheitsvertrag wurde das Thema der Zwangsadoptionen praktisch übersehen. Man wusste zwar, dass es – direkt auf entsprechende Weisungen von Margot Honecker und mit Verordnungen des seinerzeit zuständigen Abteilungsleiters Eduard Mannschatz – solche Kindesfortnahmen gab. Aber um das Ausmaß und vor allem die dramatischen Wirkungen auf die Betroffenen wirklich erfassen zu können, hätte man sofort den Weg zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung öffnen müssen und den bis heute Leidenden wenigstens die Chance geben müssen, die verlorenen Kinder bzw. Eltern wiederzufinden.
Es lohnt sich, den essayistischen Ausführungen von Sylvia Kabus zu folgen, die auch aus eigener Erfahrung zu erfassen versucht, was ein derart durchherrschtes System, in dem schon das geringste Abweichen von der Norm drakonische staatliche „Maßnahmen“ auslösen konnte, mit den Menschen in diesem System angerichtet hat. Da werden einige der psychologischen Motive greifbar, die nicht nur 1989 dazu führten, dass immer mehr DDR-Bürger durch ihr Handeln deutlich machten, wie satt sie das alles hatten.
Es verweist auch in die Gegenwart, in der sich so mancher Kommentator darüber wundert, warum ausgerechnet im Osten wieder so viele Wähler sich zurückwünschen in eine als „sicher“ empfundene Vergangenheit, eine Geborgenheit, in der sie „der Staat“ davor schützte, mit störenden und abweichenden Menschen in Kontakt kommen zu müssen.
Es sind nämlich nicht nur die Eingesperrten und Zwangsapdoptierten, die seelisch gelitten haben. Der Versuch, den „neuen Menschen“ mit staatlicher Repression zu erzwingen, hat alle betroffen. Andere haben die Folgen dieser allgegenwärtigen Bevormundung im Studium erlebt, in der Schule, während der Armeezeit.
Und da taucht dann bei Sylvia Kabus auch das Wort Trauer auf, das derzeit wieder als Interpretationsmuster für das Verhalten der Ostdeutschen genutzt wird.
„Trauer um verwehrte Möglichkeiten der Entfaltung, Erschöpfung und Sehnsucht nach Leben waren Folgen dieser intransparenten Gesellschaft“, schreibt Kabus. „Der scheindemokratische Missbrauch von Ehrenamtlichkeit, offensive und unmerkliche Verhärtung gegen ,Feinde‘, hysterischer Antrieb und eine grenzenlose Anspruchshaltung gegenüber dem Bürger bildeten den Boden für Denunziation.“ Und für einen allgegenwärtigen Druck, der diffus jeden Arbeitsbereich durchdrang, denn immer wieder gab es neue Direktiven, neue Forderungen, die Beschlüsse irgendeines Parteitages „mit Leben zu erfüllen“, hing das Damoklesschwert des Nichtgenügens über den Subalternen in den Ämtern.
Reagierten sie deshalb so grantig auf die Vorsprache der betroffenen Eltern? War das nur hilflose Abwehr, weil sowieso andere Instanzen entschieden, wie mit Kindern im Land umgesprungen wurde? Oder waren sie überzeugte Vertreter eines schikanösen Systems, in dem es selbstverständlich war, so mit bittstellenden Bürgern umzuspringen? Einfach das kleine bisschen Macht zu genießen, das einem ein Staat gibt, der die Rechte der Bürger für einkassierbar hält?
So eine Formulierung drängt sich geradezu auf, je mehr Zitate Sylvia Kabus aus ihren Begegnungen auch mit heutigen Amtsinhaber/-innen bringt, Leuten, die ihre Gewalt über Akten und Informationen dazu nutzen, den nervenden Bürgern klarzumachen, wo ihre Rechte enden und wo ein Raum staatlicher Eigenmächtigkeit beginnt.
Es sieht ganz so aus, als wäre da noch gewaltig etwas aufzuarbeiten und vor allem erst einmal ins Bewusstsein zu heben.
Das Gefühl der Trauer bleibt, denn nicht nur das Thema der Zwangsadoptionen wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Auch die Wirklichkeit der Kinderheime in der DDR blieb im Nebulösen. Die Übergänge nach 1990 verliefen oft schleppend, manchmal mit demselben Personal. Die Kinder, die das drakonische System in den Heimen erlebt hatten, leiden darunter bis heute. Was Sylvia Kabus schildert, ist schlimmste Schwarze Pädagogik. Ein wirklich kinderfreundliches System war das nicht.
Sylvia Kabus Verschwunden, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2019, 14,80 Euro.
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