Für den Musikwissenschaftler Thomas Schinköth ist der Übergang von Musik zum Gedicht ganz einfach. Denn Lyrik kommt ja von Lyra, jenem Instrument, mit dem die alten Griechen ihre Lieder begleiteten. Von Anfang an gehören Rhythmus und Gedicht zusammen, was selbst jene Dichter wissen, die ihre Gedichte nicht in Strophen, Verse und Reime packen. Aber tatsächlich ist es ganz schön schwer, Gedichte über Musik zu schreiben.

Warum das so ist, kann man in diesem neuen Poesiealbum neu in 86 Texten nachempfinden. Dieses von der Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik herausgegebene Poesiealbum neu entsteht nicht wie die üblichen Lyriksammelbände, die die Lyrikregale in der Buchhandlung besetzen, dadurch, dass immer wieder dieselben üblichen Mörike-Uhland-Goethe-Gedichte unter neuen blumigen Titeln versammelt werden, sodass die Käufer dieser Bände das Gefühl kriegen, es gibt immer nur den einen, für alle Zeiten festgelegten Kanon deutscher Dichtkunst. Sie entstehen per Aufruf – natürlich zuallererst an die Mitglieder der Gesellschaft, die eben nicht nur gern Gedichte lesen, sondern auch selbst gern dichten. Und zwar in allen Stilen der Welt.

Na gut – etwas eingeschränkt: Die etwas älteren gebundenen Formen, wie sie noch zum Pflichtkanon der deutschen Klassiker gehörten, kommen praktisch gar nicht vor. Sie sind weder in Mode noch beliebt. Dazu gab es zu viele erfolgreiche Sprengungen des strengen Raumes. Das klingt auch an. Die Frauen und Männer, die den Aufrufen der Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik folgen, haben ihren Fried, ihren Jandl, ihre Bachmann, ihren Benn gelesen und machen sich die Öffnung des lyrischen Raumes dienstbar.

Für manche wird es regelrecht ein Dankgedicht – an berühmte Musiker, Erstbegegnungen, begnadete Dirigenten und Komponisten, die den Schreibenden die Tür in eine neue Welt geöffnet haben. Und immer wieder öffnen. Eine Tür, die im Alltag zumeist verschlossen ist, oft sogar noch mit falschen Plakaten beklebt, weil überall irgendwelche Musik gedudelt wird – in Supermärkten, Bahnhöfen, Bandansagen, aus Smartphones. Man könnte es auch Musikverschmutzung nennen, Missbrauch von Musik für gemeingefährliche Zwecke. Auch das kommt vor, sehr zum Entsetzen der Dichterinnen und Dichter, die in ihrer fleißigen Arbeit am Wort auch eines gelernt haben: Damit unsere Emotionen frei werden, braucht man Ruhe und Konzentration. Räume, in denen wir nicht von Marktschreiern bedudelt werden, egal, ob mit der üblichen Grottenmusik oder Schnipseln jener Songs, die uns ans Herz gewachsen sind.

Das ist Missbrauch und Körperverletzung in einem. Und so erscheinen auch die (sakralen) Räume des Musikerlebens in diesen Gedichten, Orte, die – wie Kirchen und Konzertsäle – extra gebaut wurden, um Musik zum Erlebnis zu machen, zur Feier des Daseins. Denn darum geht es. Egal, ob die Dichterin im Konzert dahinschmilzt und am Ende nur noch hauchen kann: „Bach …“ Oder ob ein paar wenige Takte im Autoradio genügen, um den Zuhörer zurückzubeamen in die wilde Zeit seiner ersten Begegnung mit den Beatles oder Jimi Hendrix. Man merkt schnell: Musik ist Leben. „music was my first love“, schreibt Peter Bothe.

Manchmal ist Musik auch Politik. In Leipzig ganz besonders, wovon Michael Augustin in seinem Gedicht „Vor dem Gewandhaus“ erzählt. Es ist das alte Gewandhaus gemeint im Musikviertel, wo die Leipziger Obernazis 1936 das Mendelssohn-Denkmal demontieren ließen. Eine Weile noch, so Augustin, sollen die Leipziger Vögel die Lieder Felix Mendelssohn Bartholdys gesungen haben. „Dann aber war nur noch Geheul in der Luft (…) Wagner, sagen die Leute / das ist von Wagner.“

Dieser Wagner taucht noch einmal auf – da, wo es um das Brot des Musikers geht und seine Bereitschaft, den Revolutionär aus seiner Musik zu verbannen, um die Almosen der Mächtigen zu bekommen. Ist das nicht heute noch immer so? Samt dem Kontrastprogramm aus Mordechaj Gebirtigs Gedicht „Der Sänger in Not“, einem der Fundstücke, mit denen Herausgeber Ralph Grüneberger den Band angereichert hat. Wenn der Sänger seine Familie nicht mehr ernähren kann mit seiner Kunst, zieht die Not ein. Man denkt ganz unverhofft an Bobrowskis „Lewins Mühle“. Musikmachen hat eine sehr irdische Dimension. Sie ist eben nicht nur Lust und Luxus, auch wenn sie heute allüberall zu haben ist.

Außer der Stille, die Else Lasker Schüler noch beschreiben konnte, etwa in „Abendlied“: „Engel singen aus den Höhen …“

Aber hören kann man das nur, wenn die Welt nicht voller Lärm ist. Da hört man sich nämlich selbst nicht und auch nicht den anderen. Genug Grund, einander nicht zu verstehen, weil man nicht in Einklang kommt. Da hilft dann am besten, wie Georg Oswald Cott schreibt, ein gemeinsam gesungenes Lied. Was schon verblüfft an der Stelle, denn vom Gemeinsamen erzählen die wenigsten Autor/-innen. Meist sind sie Zuhörer. Andere sind es, die – da vorn irgendwo – den Kosmos aus Musik schaffen. Und es schließt sich ein Kreis. Denn zum Gedichtemachen braucht es ein tiefes Klingen. Bekannt so manchem aus der Gedichtewelt von Rilke (der in dem Bändchen nicht vorkommt). Zu hören ist es aus den Zeilen Max Hermann-Neißes: „In fremder Straßen fremde Nacht verschlagen“. Auch das ein Fundstück in diesen Musikgedichten, die auch spüren lassen, dass Musik mehr meinen kann als nur schöne Melodien. In diesem Fall: ein (Trompeten-)Ruf nach der Mutter.

Wenn sie wollen und können dürfen, dann schürfen sie auch so tief, dann spricht die Musik in das Erlebte hinein, hört auf, ein abstrakt Konstruiertes zu sein. Was manche Autoren ja nur zu sehr verlockt: Sie glauben, ihren Bach beschreiben zu müssen, in Zeilen zu analysieren. Das geht schief. Und sie merken es nicht. Auch weil es auch den Dichtern selber keiner erklärt hat, Lehrer schon mal gar nicht, dass Lyrik nämlich der geschulte Sinn für das Erlebte und Ergriffene ist, das Aufflammen des Daseins, das es in Worte zu schreiben gilt. Schwer genug ist das.

Und der Leser erlebt so ungefähr alle Stufen von Lyrik in diesem Band – von der entzückten Beschreibung über das Lied (mit einigen Notenbeispielen auch in diesem Büchlein) bis hin zu Texten, die sich lösen können vom erwartbaren Wortmaterial, das uns allen immer gleich auf der Zunge liegt, nur zu bereit, sich schnell in eine Gedichtzeile zu fügen. Welt der Gefühle.

Einer jedenfalls redet nie von seinen Gefühlen. Genau jener, der über Wagners finanzielle Kalamitäten schreibt: Andreas Reimann, der Leipziger, der um drei Grade zu ehrlich und zu ironisch ist, um jemals Ehrenbürger seiner Heimatstadt zu werden, die den Wagner ja bekanntlich wieder feiert: „Kunst braucht Gunst“, schreibt er. Nicht nur auf Leipzigs verlorenen Sohn gemünzt. Wer ihn kennt weiß, dass das auch heute noch und wieder gilt. In Leipzig kauen die Dichter ein hartes Brot.

Wovon dann auch Ralph Grüneberger im Nachwort und im Vorwort erzählt. Seit 2006 erscheint das „Poesiealbum neu“ und blieb bis heute ein freistaatlich ungefördertes Projekt, sodass es sich immer wieder selbst finanzieren muss. So gesehen: Ein enormer Fleiß und eine bestaunenswerte Ausdauer, die alle beweisen, die mitmachen bei diesem Leipziger Unternehmen, das eben nicht – wie so manch gefördertes Magazin – nur die Jüngeren und Jüngsten zu Papier bringt, sondern die ganze Breite einer gar nicht so kleinen Gesellschaft, der die Lyrik und all ihren Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben, am Herzen liegen. Kein Thema ist zu groß, zu sperrig oder zu schwer, um ihm nicht mit den Mitteln des Wortes nahe zu Leibe zu rücken in einem gemeinsamen Unterfangen. Das Ergebnis: 86 verschiedene Annäherungen an das große Ding Musik.

Poesiealbum neu „Größe spüren. Musikgedichte“, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2019, 7,80 Euro.

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