Je รคlter der junge Verlag Voland & Quist wird, umso philosophischer werden die Buchtitel, die er verรถffentlicht. Was auch an den Autoren liegt. Sie kommen in ein Alter, in dem man nicht mehr so unbeschwert spottet รผber das, was einem geschieht. Wird man da weiser? Oder irritiert einen das, was einem geschieht, nicht noch viel mehr? Gute Frage. Mit dem โgroรenโ Anton Lobmeier schickt Benedikt Feiten eine Art alter ego durch Mรผnchen.
Feiten selbst ist Jahrgang 1982, weiร also inzwischen, was man sich so fรผr Gedanken macht jenseits der 30, wenn einige Leute schon mit blasiertem Stolz verkรผnden: โMein Haus, mein Auto, meine Jacht. Ach ja: meine Frau, meine Kinder, meine Rentenpolice.โ Sie fahren tรคglich im frischen weiรen Hemd an ihren Arbeitsplatz in der City, haben mit den Karriereschritten vom Junior- zum Senior-Management-Assistenten auch ihr Gehalt in jene Hรถhen gebracht, in denen man sich Wohnen zum Beispiel in Mรผnchen leisten kann. Und Anton Lobmeier hรคtte durchaus dazugehรถren kรถnnen. Der nรคchste Karriereschritt in seiner Agentur stand eigentlich an.
Aber dann passierte das, was im Leben immer passiert, nur selten so geballt auf einmal: Er verliert seine Mutter, seine Lebensgefรคhrtin verlรคsst ihn, seine einzige und beste Freundin verschwindet, und als ihn sein Chef auf eine mรถgliche Befรถrderung anspricht, stellt Anton fรผr sich selbst รผberraschend fest, dass er eigentlich weder in diesem Job noch in dieser Firma bleiben mรถchte.
So steht er dann auf einmal mutterlos, ohne Partnerin, ohne Wohnung und festes Gehalt da. Fรผr einen, der eigentlich in Mรผnchen bleiben mรถchte, das Ende des Traums. Der Text auf dem Buchumschlag versucht den Leser ein wenig in die Irre zu fรผhren und Anton als rauchenden Schlot zu verkaufen, der aus lauter Verlegenheit stรคndig zur Zigarette greift. Aber das hat der Verlag wohl so gemacht, um die Leser ein wenig abzulenken, zu irritieren. Obwohl Benedikt Feiten selbst schon fรผr ganze Tortenschichten von Irritationen gesorgt hat. Denn natรผrlich ist sein Anton Lobmeier kein Prinz, kein Siegertyp, keiner, der die Situationen cool meistert und am Ende erlรถst wird.
Er erzรคhlt eine gegenteilige Geschichte mit einem gegenteiligen Helden, einem, wie wohl die meisten Mรคnner sind, auch wenn sie es weder so sagen noch jemals zugeben wรผrden. Wir haben uns ja daran gewรถhnt, dass Geschichten immer klar und geradlinig sind, dass Helden Probleme lรถsen, sich โbewรคhrenโ, รผber โsieben Brรผckenโ gehen und sich dann als echte Sieger erweisen. So, wie eben Fuรball in Deutschland erzรคhlt wird. Es gibt keine verlogenere Berichterstattung.
Aber vielleicht sieht man das, wenn man in Mรผnchen lebt, noch ein bisschen klarer, wo man, wenn man wirklich Karriere machen und sich behaupten will, lernt, seine Rolle zu spielen, den toughen Unternehmertypen, der โimmer so ein paar Projekte laufen hatโ, sonst wird er unruhig. Der auch auf der Galerieerรถffnungsparty ein bisschen tiefstapelt, um die Bewunderung fรผr seine Cleverness zu ernten. All das, was Anton nicht ist und von dem er weiร, dass es ihn eigentlich รผberfordert. Oder โฆ
Das โoderโ schwingt die ganze Zeit mit. Denn Anton ist ein Zweifler, einer, der stets beobachtet und abwรคgt und versucht, sich selbst dabei einzuordnen. Was natรผrlich schiefgeht. Denn er ist auf jeder Party eher der schรผchterne Bursche am Rand, der nur staunt darรผber, wie die anderen sich finden. Eigentlich ist er auch an seine Freundin Doro nur aus lauter Verlegenheit gekommen, hat sie vollgequatscht, um eine andere Peinlichkeit zu รผberspielen. Was Doro tatsรคchlich fรผr Zielstrebigkeit hielt, was es aber irgendwie nicht war. Auch wenn beide zusammenziehen, irgendwie provisorisch, man ist ja noch jung, alles ist mรถglich. Und nur Doro merkt irgendwie, dass irgendetwas fehlt. Etwas, was sie selbst nicht recht benennen kann. Und Anton auch nicht.
Und die ganze Zeit lรคsst Feiten noch eine alte Krimi-Serie mitflimmern, die das Fernsehen vor langer Zeit mal als Persiflage auf amerikanische Serien gedreht haben soll: โAlarm fรผr Ramersdorf 81โ. In der Serie spielt Antons Vater den eher uncoolen jungen Ermittler, der bis zum Schluss eigentlich im Schatten seines draufgรคngerischen Kollegen bleibt. Anton braucht lange, um gerade in dieser Rolle auch ein wenig von seinem Vater zu begreifen. Ein Spiegelbild?
Nicht unbedingt. Denn auch wenn Anton seine nur nach auรen hin so schillernde Karriere hinschmeiรt, ist er keiner, der einfach den Kopf hรคngen lรคsst. Er hat sich zwei neue Jobs gesucht, die aber eigentlich nicht reichen, um in Mรผnchen eine Wohnung zu bezahlen. In einem Kapitel beschรคftigt sich Feiten durchaus sarkastisch mit dem Mรผnchner Mietmarktunwesen und mit der Tatsache, dass man eigentlich zum blinden und rรผcksichtslosen Karrieristen werden muss, um bei diesem Mรคuserennen รผberhaupt noch mitzuhalten. Es ist ein kleiner, schwarzer Blick in die Abgrรผnde einer irre laufenden Gesellschaft, in der es nur noch ums Geldverdienen und Rennen um jeden Schritt nach oben geht.
Und gerade weil es fรผr Anton so geballt kommt, steht er auf einmal vor der ganz und gar nicht beruhigenden Frage: Worum geht es eigentlich in diesem Leben?
Darรผber konnte er sich vorher weder mit seinen Eltern noch mit Doro unterhalten. Da ging es ihm wohl wie den meisten: Darรผber redet man nicht. Darรผber denkt man auch nicht nach. Jeder weiร doch, wie der Hase lรคuft. Wer das Rennen nicht mitmacht, hat schon verloren. Usw. Jeder kennt diese Sprรผche, dieses Gebaren, zu wissen, wie man โauf einen grรผnen Zweigโ kommt, schnell Karriere macht und โseine Schรคfchen ins Trockeneโ. Man darf sich durchaus an die jungen Leute in Anke Stellings Roman โSchรคfchen im Trockenenโ erinnert fรผhlen. Nur dass Anton รผberhaupt keine Lust hat, so zu werden. Es schreckt ihn regelrecht ab. Weder will er sich in einer โcleveren Gemeinschaftโ verorten, noch irgendwelche Besitztรผmer sichern.
Aber was will er?
Und kรถnnte es sein, dass es mit der genauso heftigen Frage zu tun hat: Was mรถchte er eigentlich sein?
Die Einzige, mit der er sich รผber solche Fragen โ wenn auch recht flapsig โ รผberhaupt unterhalten konnte, war seine Kneipenbekanntschaft Sophia. Doch ausgerechnet in dem Moment, da er sie am dringendsten braucht, ist sie verschwunden. Sang- und klanglos. Erst am Ende des Buches trifft er sie wieder โ nach einer langen Odyssee durch die halbe Republik, nur um zu erfahren, dass Sophia ganz und gar nicht das รผberlegene und sichere Mรคdchen ist, das sie immer gespielt hat. Irgendetwas hat auch Sophia aus der Bahn geworfen. Und in diesem Fall ist es Anton, der es als Einziger begreifen kann. Weil er es in gewisser Weise selbst erlebt.
Denn seine Suche ist weder systematisch noch geplant, eher wieder das Ergebnis zweier Unfรคlle, die ihn auch aus seiner neuen Routine werfen, in der er sich zumindest am richtigen Platz gefรผhlt hat. Lieber als Pizzabote durch die Stadt fahren, als anderen Leuten den erfolgreichen Agenturberater vorzuspielen und dabei das Gefรผhl zu haben, eine vรถllig sinnlose und รผberflรผssige Tรคtigkeit auszuรผben.
Dann doch lieber Pizza ausfahren und dabei Menschen kennenlernen wie Franzi, denen es irgendwie genauso geht, die diese Hasenjagd nach tollen Abschlรผssen, Berufen und Karrieren nicht mitmachen wollen, diesen ganzen Zauber der falschen Eitelkeiten. Es kommt nicht, wie es kommen muss. Die beiden kommen trotzdem irgendwie zusammen, fast lautlos, als passiere das einem Anton Lobmeier eben auch, wenn er sich einfach mal keine Mรผhe gibt, jemanden beeindrucken zu wollen und irgendwelche Erwartungen erfรผllen zu wollen. Also eine Rolle zu spielen, worauf ja unser ganzes gesellschaftliches Darstellerleben ausgerichtet ist. Denn die meisten dieser sinnfreien, vรถllig รผberbezahlten Jobs funktionieren ja nur, weil sich immer wieder junge Leute finden, die all ihre Ansprรผche an Ehrlichkeit und Sinn im Leben in die Tonne stopfen und fortan (erfolgreich) Theater spielen.
Was Anton einfach nicht mehr will. Deswegen fand er ja die kesse Sophia so vertraut, fรผhlte sich bei ihr so akzeptiert, wie er es auch bei Doro nie fand. Und deswegen hat er auch das Gefรผhl, er kรถnne von Sophia die Antworten bekommen, die er sich selbst nicht geben kann. So betrachtet ist es ein echter Entwicklungsroman. Auch wenn der Held sich nicht erst entwickeln muss. Er ist ja schon vรถllig das, was ihn ausmacht. Nur fehlt ihm eins, was einem natรผrlich die um Geld und Gier rasende Welt da drauรen nicht geben kann, was er aber dann irgendwie im Zug nach Saarbrรผcken so langsam zu akzeptieren lernt.
Ich wรผrde es Gelassenheit nennen. Eine fast beruhigende Bereitschaft, die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie kommen. Wozu eben auch die Suche nach Sophia beitrรคgt, die รผberall, wo sie war, Spuren hinterlassen hat, zum Teil auch bei den Leuten, die Anton und Franzi antreffen, ein riesiges Gefรผhl des Verlustes. Als hรคtten sie alle so einen Wirbelwind wie Sophia immer ersehnt, als wรผrde sie etwas mitbringen, was die Gesellschaft sonst nicht mehr zu bieten hat oder zulรคsst.
Was selbst Anton wundert. War er denn nicht der einzige, der Sophia so kennengelernt hat? Augenscheinlich nicht.
Und was ist das mit den Zigaretten? Tatsรคchlich fรคngt Anton in seiner Ratlosigkeit irgendwann an zu rauchen. Aber seine Reise zu sich selbst hat eigentlich nichts Verzweifeltes, auch wenn es (anfangs und zwischendurch) ein paar traurige Szenen gibt. Die kurzen, flapsigen Sprรผche, die Anton selbst immer wieder von sich gibt oder auch zu hรถren bekommt, klingen zwar immer, als versuche hier einer mit Coolness seine Gefรผhle zu รผberspielen. Aber wer sie wirken lรคsst an den Stellen, wo die Sprรผche fallen, merkt, dass gerade darin immer wieder Antons Reise zu sich selbst aufblitzt, ein fast ruhiges Akzeptieren, dass das Leben eigentlich nicht schlimm ist, dass einem eigentlich auch nichts passiert, was โfalschโ wรคre.
Man muss keine Rolle spielen, auch dann nicht, wenn einem der innere Beobachter regelrecht anerzogen wurde, der Beobachter, der das Beobachtete immerfort ironisch kommentiert, sodass man dann nur noch das Gefรผhl hat, immerfort die richtigen Gesten und Worte parat halten zu mรผssen, sich also fortwรคhrend zu stressen, etwas darzustellen, was in den Augen der anderen dann vielleicht akzeptabel ist.
So gesehen ist Antons Erzรคhlung auch eine Absage an den Mรผnchner Grรถรenwahn und die ganze frustrierende Art, Erfolg und รberlegenheit zu zelebrieren, obwohl inwendig alle Federn schon lรคngst รผberspannt sind.
Anton braucht trotzdem lange, um sich aus dem Schlamassel zu wรผhlen. Und Franzi, die nun reinewegs gar nichts kommentiert, tut ihm augenscheinlich gut dabei. Auch wenn der Schmerz der Verluste noch nagt.
โWas willste machen? โ Kannst nix machen. โ Genau.โ
Das bringt es eigentlich auf den Punkt. Man hat am Ende keine Angst mehr um diesen Anton. Die meisten Dinge, die einem passieren, brauchen keine Erklรคrung und haben auch keinen tieferen Sinn. Sie passieren uns. Und sie sind unser Leben. โSo oder soโ eben. โSoโ, lautet das letzte Wort.
Benedikt Feiten So oder so ist das Leben, Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig 2019, 20 Euro.
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