Der Konkursbuchverlag ist eher für das Erotische in Büchern bekannt. In Bild und Text. Mittendrin im Programm erscheinen dann auch Lyrikbände, in denen Autorinnen und Autoren in Gedichte packen, wie es knistern kann in der Liebe. Mehrfach knistern kann, denn gerade die Begabten wissen, dass es selbst in der Liebe nie nur um das Eine geht. Oder sogar gar nicht um das Eine, sondern um Sehnsucht und das Gefühl, nicht allein gestrandet zu sein.

Deswegen ist das Büchlein auch eine Geschichte, die Geschichte eines Sommers in der bulgarischen Stadt Varna, wo sich der Dichter mit seiner Geliebten trifft. Beide stammen aus dem Iran. SAID kam 1965 als 17-Jähriger zum Studium nach Deutschland. In Teheran regierte der Schah. Da blieb der junge Mann, der Politikwissenschaften studierte, lieber in Deutschland, kehrte erst 1979 nach dem Sturz des Schahs in den Iran zurück. Aber die neue theokratische Regierung schreckte ihn genauso ab. Er kehrte zurück nach Deutschland. Seinen Dichternamen schreibt er in Großbuchstaben: SAID.

Und er ist in der deutschen Sprache längst zu Hause, regelmäßig veröffentlicht er Gedichte, Hörspiele und Kinderbücher. Und das jetzt ausgerechnet Varna zur Kulisse wird, hat mit der Atmosphäre in dieser Stadt am Schwarzen Meer zu tun, die das Dichter-Ich an die Sehnsuchtsstadt Teheran erinnert. Er muss es nicht extra betonen. Wer ins Exil geht, nimmt die Heimat immer an den Schuhsohlen mit, wird das Gefühl nie los, dass es vielleicht doch – unter anderen Umständen – eine Rückkehr geben könnte. Man findet diese Sehnsucht der Exilierten bei Heine genauso wie in den Gedichten emigrierter DDR-Lyriker.

Und der Begleiterin des Dichters geht es genauso. Man kann es nur ahnen, doch der gemeinsame Aufenthalt in Varna wird für die beiden auch eine Reise in eine Sehnsucht: „nachts / sprechen wir von teheran / und halten uns fest / damit die stunde nicht davonläuft.“

Beide leben in Deutschland. Aber da gibt es augenscheinlich keine Stadt, die auch nur ansatzweise so ein Gefühl vermittelt, Persien könnte ganz nahe sein. Also reisen die beiden – jeder für sich – nach Varna. Sie kennen sich kaum, verrät der Umschlagtext. Die Gedichte erzählen ein klein wenig etwas anderes, denn die zwei erleben nicht nur ein flüchtiges Abenteuer. Sie sind sich nah wie Menschen, die einander ein Obdach geben, einen sicheren Hafen, das Gefühl, in der Nähe auch Geborgenheit zu finden.

Zeitlich verortet ist die Reise sowieso nicht. Trafen sie sich erst gestern oder war all das schon vor vielen Jahren und der Beginn einer lebenslangen Beziehung? Denn so wie der Dichter die Frau neben sich beschreibt, ist sie selbst das Land und der Hafen seiner Sehnsucht, keine schnelle Liebschaft. Sondern das, was Frauen manchmal für Männer sein können: die Bestätigung, dass man Geborgenheit nicht in der Ferne findet. „unter deinen blicken / legt der himmel den unglauben ab / und bekennt sich zur erde …“

Gar nicht überraschend, dass SAID dann immer wieder Bilder findet, die man aus der orientalischen Lyrik kennt (die in Salomos Liedern ja bekanntlich auch ihren Weg in die Bibel gefunden hat). Der Körper der Geliebten wird zur Welt – zur Erde, zu Städten, zu Häfen, in die der Ruhe- und Wortlose immer wieder heimkehren kann. Auch wenn er keine Ruhe findet. Denn augenscheinlich wird er in diesen Tagen in Varna die Gedanken an die unerreichbare Stadt nicht los. Geht es ihr genauso? Es klingt so.

„zwei trotzige kinder / vibrierend verwaist / und ohne eigenes fenster / irren in varna umher / und finden auch hier / jene alleinstehende tür / dahinter lauert / der blinde wolf“.

Da wird ihr Lächeln für ihn „das bindeglied zwischen mir und teheran“. Werden zwei einander zur Heimat. Vielleicht nur auf Zeit. Das erfahren wir nicht, sehen die beiden nur auf ihre Weise glücklich durch Varna schlendern, miteinander Persisch redend und die türkischen Moscheen meidend. Dort würden sie sich fremd fühlen, gerade deshalb. Es ist nicht die Religion, die sie an die verlorene Heimat fesselt, sondern es sind Sprache und Erinnerung. Und vor allem ist es das Empfinden des Verlustes, das SAID mit einem Dichterfreund teilt, mit Nazim Hikmet, der „seine türkei nicht betreten durfte“.

Sind sich die zwei Dichter je begegnet? Hikmet starb 1963 in Moskau. Aber ihr Schicksal ähnelt sich. So entstehen Wahlverwandtschaften auch über die Zeit. Samt der Hoffnung, Teheran doch noch einmal sehen zu können. Aus Varna jedenfalls reisen die beiden Liebenden gemeinsam ab – und verabschieden sich auch von den Katzen. Es ist Herbst – in doppelter Bedeutung. So nah wie in Varna konnten die beiden ihrem Traum von Teheran sonst nirgendwo kommen. Das Flugzeug wartet.

Aber was haben wir in diesen kurzen, sehr atmosphärischen Gedichten erlebt? Nur eine Liebe, eine Begegnung? Oder gerade über das Vertrautsein und das traumwandlerische Durchleben der Tage einer Lieberklärung – nicht an das große, nicht greifbare Persien, sondern an die Stadt ihrer Träume, den Ort, an dem sich die beiden Gestrandeten zu Hause fühlen – nicht nur in Gedanken, auch mit allen Gefühlen. Das kennt man auch als ganz okzidentalischer Mensch, wenn man an Orte kommt, die einen an etwas erinnern, was als heimatlicher Ort in einem lebt und jederzeit aktivierbar ist. Durch die Atmosphäre in den Straßen oder einen Menschen, der einem sofort ganz und gar vertraut ist, auch wenn man nicht weiß, warum.

SAID September in Varna, Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2019, 12 Euro.

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