Gibt es überhaupt eine Stadt, die so heißt? Ist das nicht nur eine bekannte Bausparkasse? Es gibt sie wohl tatsächlich. Andrea Reidt war da, hat mehrfach ein Flüsschen namens Kocher überschritten, viele Treppen erstiegen, ist viele Gassen hinabgeeilt. Wer beim Lehmstedt Verlag solche flotten Stadtrundgänge beschreiben möchte, muss sportlich und fit sein. Am besten beides.
Denn Schwäbisch Hall ist bis hinunter ans Ufer gebaut. Deswegen steigen nicht nur Gassen in steilem Schwung in die Höhe, selbst der Markt hat ein mächtiges Gefälle. Und die Treppe vor der Kirche St. Michael erst recht, die nicht nur eindrucksvoll zum Aufstieg in himmlische Gefilde einlädt, sondern sommers auch für Theateraufführungen genutzt wird. Mit schwindelfreien Schauspielern, betont Andrea Reidt, die ihre Tour am Rathaus und auf dem Markt startet, mittendrin also in einer Stadt, die von den Bomben des 2. Weltkrieges weitgehend verschont blieb und deshalb innerhalb der durchaus noch imposanten Reste der alten Stadtmauer noch aussieht wie eine richtige mittelalterliche Stadt.
Wobei diese Reste auch im Vergleich mit vielen anderen Städten, die noch stückweise etwas von ihren alten Wehranlagen bewahrt haben, imposant aussehen. Die Türme ragen noch immer stolz über die Dächer, einer davon gekrönt von einer fast romantischen Türmerwohnung. Da war es wohl dem aufmerksamen Türmer zu verdanken, dass der letzte verheerende Stadtbrand vor 300 Jahren loderte und nicht die ganze Stadt verzehrte, nur neuen Bauplatz schuf für neue, nun wohl größere Häuser.
Obwohl schon vorher vieles opulent gewesen sein muss, denn Hall war eine reiche Stadt. Der Grund steckt im Namen. Es heißt nicht ursachlos so ähnlich wie Halle. In beiden Fällen ging es um Salzquellen, die den Reichtum der Stadt bedingten. Und die wahrscheinlich auch schon die Kelten an den Ort führten, wo auch sie schon eifrig Salz siedeten und dafür ganze Wälder abholzten.
Der Umschlag verspricht nicht ohne Grund über 2.000 Jahre Geschichte, auch wenn das wirklich Sichtbare eher von 900 Jahren erzählt, von einer Stadt, die damals schon in Stein baute, sodass sich da und dort ein richtiger Wohnturm versteckt, so wie der Keckenturm, in seinem Grundbestand wohl um 1240 gebaut, später aufgestockt mit Fachwerk und heute einer der Sitze des Hällisch-Fränkischen Museums. Und ein Fränkisches Museum ist es, weil Hall eigentlich im fränkischen Teil von Baden-Württemberg liegt, aber schon im Mittelalter lieber im Schwäbischen Kreis liegen wollte. Das Museum ist natürlich vollgestopft mit Geschichte, auch mit ganz, ganz alter.
Wobei schon beim Durchblättern auffällt: Es treibt die flotte Stadterkunderin immer wieder hinunter ans Wasser, dorthin, von wo die Stadt tatsächlich aussieht, wie man sich eine Mittelalterstadt am Wasser vorstellt: Fachwerkgiebel über Fachwerkgiebel, die sich im Wasser spiegeln, steinerne Fundamente bis runter ans Wasser. Erst beim Lesen erfährt man, dass man es hier mit den einstigen Häusern der Gerber zu tun hat, die natürlich viel Wasser brauchten. Manche wurden richtig reich davon.
Aber so schmuck wie heute waren die Häuser wohl einstens nicht. Das kam erst, als auch in Schwäbisch Hall die ersten Preise für Denkmalsanierung verteilt wurden und die Bürger merkten: Man kann aus den Häusern direkt am Fluss direkt ein Kleinod machen und drin wohnen. Und es riecht heute auch nicht mehr. Genauso wenig wie heute noch Salz gesiedet wird. Das dürfen die Haller zwar noch und einmal im Jahr zeigen sie auch, wie es geht.
Aber die Technik ist zu aufwendig. Sie verschlingt zu viele Wälder. Was den Ort am Wasser dafür heute zum Lieblingsort der Haller macht, deren Reichtum auch noch in einem alten Geldstück steckt, das bis ins 19. Jahrhundert in Deutschland im Umlauf war: dem Heller. Denn gepresst wurde der Heller dereinst in der reichen Stadt Hall, in Zeiten, als auch kleine Geldstücke was wert waren und man auf den Märkten in Heller und Pfennig bezahlte. Damals waren Mark und Taler fette Geldstücke, die Normalsterbliche nicht mal in die Hand bekamen. Und weil es unterhalb des Pfennigs auch noch ein paar Unterscheidungen brauchte, gab es den Heller in verschiedenen Ausführungen, die kleinste war der Rote Heller, von dem dann irgendwann, als die Inflation ihn bis zur Unsichtbarkeit klein hat werden lassen, die Rede ging, es sei wohl manches keinen Roten Heller wert.
So wird Geschichte greifbar. Auch wenn man mit Hellern wohl nicht mehr hineinkommt in das neue Globe, das sich die Haller gebaut haben, ein richtiges Theater nach dem Londoner Vorbild, Ersatzbau für einen Rundbau, den sie dereinst ihrem Lieblingsintendanten hingebaut hatten. So kann man – direkt im schönen Schwaben-Franken – Shakespeare erleben, wie ihn die Londoner einst erlebten. Auf einmal hat man Kultur in der Tour. Und man bekommt noch mehr, denn in Schwäbisch Hall hat auch der berühmte Schraubenhersteller Würth sein Hobby in Häusern untergebracht: in der Kunsthalle Würth, dem Sudhaus und der Johanniterkiche, wo man Teile seiner riesigen Kunstsammlung bestaunen kann.
Genug Grund also, hier zu verweilen, gäbe es gleich vor den Toren und Türmen der Stadt nicht noch ein paar eindrucksvolle Ausflugsziele wie das Kloster Groß-Comburg, das die Autorin mit dem UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Maulbronn auf eine Stufe stellt und sich wohl zu Recht wundert, warum es selbst noch kein Weltkurlturerbe ist. Und dann gibt es – in der anderen Richtung – noch das Hohenloher Freilandmuseum Wackershofen, wo man im 1983 eröffneten Freilandmuseum 500 Jahre Dorfkultur erleben kann mit 70 originalen Gebäuden aus ganz Württembergisch Franken, mit Limpurger Rindern, Schwäbisch-Hallischen Landschweinen und Coburger Fuchsschafen. Unter anderem.
Alles bewirtschaftet wie in Zeiten, als es noch kein Glyphosat und keine Großviehställe gab. Und sogar die alten Gewerke kann man in den Sommermonaten bei der Arbeit sehen: Drechsler, Sägemüller, Schmiede, Seifensieder, Bürstenbinder – halt all das, wonach die meisten Leute heute noch heißen, oder gar nicht mehr wissen, was ihre Vorfahren da den lieben langen Tag eigentlich gemacht haben.
Es ist also eine mehr als lehrreiche Bildungsreise in ein Stück liebevoll restaurierter Vergangenheit, etwas für Herz und Kopf. Nun weiß man endlich, wo der Heller herkam. Und selbst eine Reise in der Karnevalszeit lohnt sich, denn dann verwandelt sich Schwäbisch Hall in Venedig, ist die halbe Stadt maskiert. Also so ungefähr wie Leipzig zu Pfingsten. Und die Maskierten sind genauso stolz, wenn sie posen und posieren können bei „Hallia Venezia“.
Andrea Reidt Schwäbisch Hall an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 5 Euro.
Keine Kommentare bisher