Wenn die DDR-Funktionäre das Selberdenken im Land verunglimpfen wollten, dann war ihnen kein Etikett zu fett, dann wurden aus unabhängig denkenden Menschen Saboteure, Staatsverleumder, Agenten des Westens oder – wenn man ihnen gar so etwas wie die Bildung krimineller Banden anhängen wollte – Rädelsführer. So wie 1976 mehrere Pädagogikstudenten aus Erfurt. Eigentlich stand am Anfang nur ein Wunsch nach einem lebendigeren Marxismus-Leninismus-Unterricht.
Im Unterschied zu vielen Büchern zum Widerstand in der DDR ist dieses Buch keine (Auto-)Biografie, auch keine Fleißarbeit aus dem Studium bräsiger Stasi-Akten und auch keine Geschichte einer „Bewegung“. Es ist etwas, was man selten zu lesen bekommt, weil selten zwei Herausgeber so offen und wissbegierig an die Sache herangegangen sind. Gabriele Stötzer ist eine der damals Beteiligten. Und irgendwie war sie jetzt endlich so weit, die alte Geschichte wirklich aufzuarbeiten – auch mit den damaligen Gegenspielern, so weit sie noch lebten und bereit waren, zu sprechen. Auch das eher selten in diesem Segment der Aufarbeitung.
Denn wenn die alten Funktionäre sich zu Wort melden, dann meistens mit eigenen Erinnerungsbüchern, in denen sie den Dialog und die Beschäftigung mit den Folgen ihres Tuns meist tunlichst vermeiden. Und damit auch die Antwort vermeiden auf die Frage, warum sie ab 1976 so massiv und endgültig das Vertrauen der Bürger verspielten. 1976 – das Jahr verbindet man meist mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst und mit den folgenden Protestnoten der mutigeren Künstler in der DDR.
Zu denen zählte auch Gabriele Stötzer, die damals Gabriele Kachold hieß. Und bei dem Namen macht es Klick im Kopf. Denn den kennt man. Er steht auf einem jener Bände, die der Aufbau Verlag noch 1989 veröffentlichte, als die Zensur endlich abgeschafft war und sich DDR-Verlage auch trauten, all die Autorinnen und Autoren zu veröffentlichen, die sie zuvor nicht veröffentlichen durften. So auch Gabriele Kachold mit ihrem Buch „Zügel los“.
Dabei wollte sie ja Lehrerin werden. So wie Wilfried Linke, mit dem die Ereignisse an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt Anfang 1976 ihren Anfang nahmen. Ihn nervte vor allem das stupide, gehaltlose und korsettierte Studienfach Marxismus-Leninismus, durch das auch alle angehenden Pädagogen in der DDR hindurchgeschleift wurden. Und wer jetzt denkt, sie hätten dort wirklich ernsthaft die wirklich gehaltvollen Schriften von Marx, Engels und Lenin studiert, analysiert und diskutiert, der irrt.
Niemand war in der DDR toter als die drei Säulenheiligen. Mit den Inhalten ihrer Werke beschäftigen sich nur Spezialisten. Was die Studierenden an den Hochschulen erlebten, war das Auswendiglernen von erwünschen Formeln, die nur noch wenig mit dem zu tun hatten, was die „Klassiker“ wirklich geschrieben hatten. Wer – so wie der hochinteressierte Wilfried Linke – wirklich las, was in deren Büchern stand, der konnte wütend werden. Und eckte sofort an.
Schon in Jena hatte er ein Philosophiestudium begonnen, weil er wirklich wissen wollte, wie philosophisches Denken bei Hegel, Kant und Marx funktionierte. Aber selbst in diesem Fachstudium erlebte er denselben drögen Einheitsbrei – und ließ sich nach zwei Jahren exmatrikulieren. In gewisser Weise war es ein Glücksumstand, dass er dann in Erfurt ein neues Studium zum Lehrer Deutsch/Kunsterziehung beginnen konnte. Vielleicht ermöglicht, weil er bei der Heirat den Namen seiner Frau annahm, was ihm die späteren Verurteiler geradezu als Versuch auslegten, sie auszutricksen.
Im Lehrerstudium hoffte Linke, wenigstens mehr Praxisnähe und lebendige Beschäftigung mit dem Stoff zu erleben. Aber gerade das M/L-Studium war an der PH in Erfurt sichtlich noch viel schlimmer verknöchert und in Schablonen gepresst. Und augenscheinlich genügte es nicht einmal den üblichen Lehrmethoden an der Pädagogischen Hochschule. Eine Diskussion wäre also durchaus hilfreich gewesen. Aber so funktionierte die DDR nicht.
Und das ist das Frappierende an diesem Buch: Es arbeitet in vielen Gesprächen, Originaldokumenten und einer akribischen Ausarbeitung der Vorgänge heraus, wie die DDR im Jahr 1976 tatsächlich funktionierte. Man lernt nicht nur den damaligen Rektor der Hochschule, Prof. Theodor Glocke kennen, der in der Affäre nicht wirklich eine mutige Figur abgab, sich aber zum persönlichen Gespräch mit Jochen Voit, dem Leiter der Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt, dem einstigen Sitz der Stasi, bereiterklärte.
Die eigentlichen Verantwortlichen für die Kriminalisierung, das „Gericht“ und die Exmatrikulation der Studenten aber sind fast alle schon tot. Prof. Rudolf Hub, der das dogmatische M/L-Institut leitete und sich bei der Verfolgung bzw. Anschwärzung der jungen Leute als IM „Wallenstein“ besonders hervortat, starb schon relativ bald nach den Ereignissen an einem Herzschlag.
Aber auch ihm versuchen Voit und Stötzer gerecht zu werden und erzählen seine Vorgeschichte als NSDAP-Mitglied und Wehrmachtsoffizier, der sich – nach der Antifa-Umschulung in sowjetischer Gefangenschaft – augenscheinlich sein restliches Leben lang bemühte, zu einem 100-prozentigen Kommunisten und SED-Funktionär zu werden. Wobei er nicht der einzige Hardliner in dieser Geschichte ist, denn die Parteileitung der PH ging dabei genauso unerbittlich vor wie die damalige Bildungsministerin Margot Honecker, an die die Studenten sogar noch in ihrer Verzweiflung geschrieben hatten und um Hilfe baten.
Doch was sie bekamen, waren letztlich regelrechte Entlarvungs- und Unterdrückungsprozesse, denn da, wo Linke darauf hoffte, seine schriftlich formulierte Kritik am M/L-Untericht könnte an der PH zu Diskussionen und Verbesserungen führen, reagierte der Parteiapparat der Hochschule erst einmal verunsichert, schaltete die höheren Instanzen ein und begann dann über Monate ein Disziplinierungsverfahren gegen Linke, in dem es nur darum ging, dass er seine Kritik zurücknahm, bereute und sich wieder ins Glied fügte.
Dabei war seine Kritik fundiert. So sahen es auch die Mitglieder seiner Seminargruppe. Sein für die PH-Parteizeitung „WIR“ vorgesehener Artikel wurde von den Studenten mehrfach kopiert und weitergegeben. Auf einmal wehte so ein Hauch von 1968 durch die Hochschule, so eine Hoffnung, es könnte in der DDR einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ geben. Auch der in DDR-Kinos immer wieder gezeigte US-Film „Blutige Erdbeeren“ zeigte Wirkung. Gerade die kritischen und mutigen jungen Leute sahen darin ein Vorbild, sich – wie so gern von der SED gefordert – einzubringen in die Gesellschaft.
Doch an der PH Erfurt erlebten sie, was dann passierte, wenn man es wirklich ernst nahm. Die monatelangen Disziplinierungsversuche Linkes endeten im Sommer mit seiner Exmatrikulation. Ein Brief, in dem sich über 80 Studierende solidarisch mit dem geschassten Kommilitonen erklärten, wurde für sie erst recht zum Verhängnis. Mit dem Herbstsemester begann die nächste Gesprächswelle, in der sie fast alle genötigt wurden, ihre Unterschrift zu widerrufen und sich von Linke zu distanzieren. Ein Verfahren, das dann sogar in einem regelrechten Tribunal endete, bei dem sie öffentlich abschwören sollten.
Das war tatsächlich echter Stalinismus – samt aufgepeitschten Stimmungsmachern. Nur drei Studentinnen ließen sich nicht abbringen von ihrer Haltung, auch wenn sie elend dabei litten: Gabriele Kachold, Sabine Auerbach und Christina Kämpfert. Sie wurden nicht nur exmatrikuliert, durften also auch keine Lehrerinnen mehr werden, sondern bekamen rigides Studierverbot in der ganzen DDR. Was auch einer beruflichen Vernichtung gleichkam. Sie konnten künftig bestenfalls noch in Hilfstätigkeiten arbeiten oder versuchen, sich künstlerisch durchzusetzen, was ebenfalls fast unmöglich war. Auch hier hatte der Staat die Daumen drauf. Wilfried Linke wurde auch am Theater, an der er untergekommen war, gefeuert, weil er dort ebenfalls denunziert wurde. Die Chance, ein richtiges Studium zu absolvieren, bekam er erst 1990.
Seine Stasi-Akte war entsprechend dick und er war selbst überrascht, wie intensiv ihn die Stasi die ganze Zeit überwacht hat. Schon in Jena, als er Kontakte zu Jürgen Fuchs hatte. Auf dem Gelände der PH Erfurt war sogar ein MfS-Offizier tätig, den Voit bei der Arbeit zu diesem Buch ebenfalls versuchte zu kontaktieren. Dessen emsige Protokolle mit den vielen IM-Berichen aus der PH berichten noch heute davon, wie das Kesseltreiben gegen Linke und seine Mitstudierenden inszeniert wurde, wer die treibenden Kräfte dabei waren und wie frühzeitig Linkes Versuch, eine offene Diskussion über den M-/L-Unterricht anzustoßen, als feindliches Verhalten denunziert wurde.
Wer es sich nicht vorstellen kann, der liest es hier schwarz auf weiß, wie die SED-Funktionäre selbst jene jungen Menschen kriminalisierten, die auch nur wagten, ein wenig am Lack zu kratzen und über das Eigentliche an diesem Land und seinen Versprechungen zu diskutieren. Und wie man mit unvergleichlicher Sturheit eine Kampagne wie aus Stalins Zeiten auflegte, um nicht nur die wenigen Mutigen um Wilfried Linke herum zu brechen und „auszuschalten“, sondern in der ganzen PH eine Stimmung des Misstrauens und des Wegduckens zu schaffen.
Was übrigens völlig in die Hose ging. Gerade die zentralen Akteure des Kesseltreibens legten bald ihre Ämter nieder, weil die Atmosphäre an der Hochschule völlig vergiftet war. Oder sie starben früh wie Prof. Hub. Wenig später wurde gar ein Exmatrikulationsstopp verhängt, um zu verhindern, dass weitere Studierende von sich aus die Flinte ins Korn warfen. Aber tatsächlich „verziehen“ haben die Funktionäre nie. Das „Urteil“ der PH begleitete die Bestraften zu jeder neuen Arbeitsstelle. Sie kamen bis 1990 über ein armseliges Auskommen in der DDR nie hinaus. Und manch einen belasteten die Vorgänge ein Leben lang, wobei gerade all jene, die in diesem Buch zu Wort kommen, durch ihr Beispiel auch zeigen, dass so ein Erlebnis von Mut und Selbstvertrauen auch stärkt und Rückgrat gibt.
Wobei ich eigentlich geneigt bin, der Sache noch einen Dreh zu geben. Das steckt in einer Aussage von Gabriele Stötzer, die nach ihrer Parteinahme für Wolf Biermann auch noch ins Gefängnis gesteckt wurde. „Nach dem Brief an Margot Honecker …, da habe ich gemerkt, dass wir wirklich Angst hatten. Aber wo konntest du denn Gefühle zeigen? Das war schwierig. Wir haben uns verboten, unser Inneres nach außen zu kehren! Denn Gefühle machten schwach. In letzter Konsequenz habe ich das dann im Knast gelernt: meine Gefühle zu verbergen. Aber das ging wirklich immer weiter, also diese ganze DDR beeinflusste mich auf diese Art: ich lernte, ohne mich selbst zu sein und ich hatte mich selbst auch nicht.“
Was aber wird aus Menschen, die ihre Gefühle und ihre Lebendigkeit nicht (mehr) zeigen dürfen? Die sich tausendmal überlegen, mit wem sie überhaupt noch vertrauensvoll sprechen können, wo sie ihre Lebenslust zeigen können und ihre Lust am kritischen Denken? Und was wird aus einem Land, das seine Menschen so erzieht? Nur so als Frage, weil ich mir sicher bin, dass das auch Folgen über die DDR hinaus hatte und hat. Nicht nur bei jenen, die selbst Opfer solcher „Disziplinierungsmaßnahmen“ waren.
Gerade weil das Buch auch von den Schmerzen, von Trauer und Versagen erzählt, wird deutlich, wie sehr dieses Denken in den rigiden Kategorien von Freund und Feind (was typisch ist für Diktaturen und Autokratien) in das Denken und Fühlen derer eingreift, die es erleben mussten.
Im Nachwort geht dann der heutige Erfurter Masterstudent Max Zarnojanczyk auch noch auf den Vergleich mit der heutigen, als unpolitisch empfundenen Studentengeneration ein. Aber er geht auch auf den nicht zu ignorierenden Umstand ein, dass das Bologna-System, das unseren Hochschulen übergestülpt wurde, wohl eine Menge damit zu tu hat, denn es hat die deutschen Hochschulen ganz ähnlich verschult, wie es in der DDR üblich war. Wer dazu gezwungen ist, in einem Affenzahn alle nötigen Punkte einzusammeln, um das Studium in der Regelstudienzeit hinter sich zu bringen, hat eher keine Zeit, sich politisch einzubringen oder gar Diskussionen über die Art der Wissensvermittlung anzustoßen.
Die Studenten von 1976 wandten sich damals auch noch hilfesuchend an den Dichter Volker Braun, der in etlichen seiner Texte ja ganz ähnliche Gedanken formuliert hatte wie Wilfried Linke in seinem Artikel. Aber auch Braun konnte nicht helfen. „Es scheint alles schon festgelegt“, schrieben die Studenten in ihrem Brief an ihn. Das war es auch. Genau das hatten sie mit aller Macht kennengelernt.
Aber festgelegt war damit auch das Ende dieser DDR, die ihre besten und klügsten Köpfe systematisch vor den Kopf stieß, ins Abseits drängte oder gar aus dem Land schaffte. Eigentlich war das 1976 schon klar. Und die etwas helleren unter den Funktionären begriffen es auch, als Wolf Biermann ausgebürgert wurde. Genau da begann all das, was dann – wenn auch für viele kaum greifbar – zum 9. Oktober 1989 führte.
Jochen Voit Rädelsführer, Lukas Verlag, Berlin 2018, 19,80 Euro.
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